von Sabine Knickrehm | Juni 2022
Die Regelbedarfe für Grundsicherungsbeziehende werden in Form von Pauschalen festgesetzt und erst am Anfang eines neuen Jahres angepasst. Neue Bedarfe werden dabei aber in der Regel nicht berücksichtigt. Das trifft – bis auf wenige Ausnahmen – auch auf die Mehrbedarfe zu (siehe hier). Was ist aber, wenn unvorhersehbare Ereignisse die Bedarfslagen verändern? Der Gesetzgeber hat zur Begrenzung der monetären Folgen der COVID-19-Pandemie und der stark gestiegenen Inflation pauschale Zuschläge zum Regelbedarf festgelegt. Was ist der Maßstab für die Bemessung derartiger Zuschläge? Machen sie die Leistungen der Existenzsicherung krisenfest?
1. Neue Bedarfe durch die Coronapandemie
Die Coronapandemie hat gezeigt, dass neue Bedarfe auftreten können, zusätzliche Bedarfe, die zwingend zu decken sind und die die Frage aufwerfen, ob der Leistungskatalog des SGB II hierfür die geeigneten Instrumentarien zur Verfügung hält. Beispielhaft seien hier zwei erstinstanzliche Beschlüsse im vorläufigen Rechtsschutz benannt. Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat am 11. Februar 2021 (Az.: S 12 AS 213/21 ER) unter Heranziehung von § 21 Abs. 6 SGB II entschieden, Arbeitsuchenden stehe zur Deckung ihres besonderen Schutzbedarfes gegen Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 ein subjektives Recht auf die Bereitstellung von wöchentlich 20 medizinischen Mund-Nasen-Bedeckungen zu. Den Trägern der Grundsicherung bleibe unbenommen, anstelle dieser Sachleistung im Wege der Geldleistung ein um kalendermonatlich 129 Euro höheres Arbeitslosengeld (Alg) II zur Deckung des Mehrbedarfs zu gewähren.
Anderer Auffassung ist das SG Reutlingen. Es führte am 9. März 2021 (Az.: S 4 AS 376/21 ER) aus, für die Anschaffung von Corona-FFP2-Masken bestehe angesichts des geringen Anschaffungspreises keine erhebliche finanzielle Mehrbelastung. Im Übrigen stelle der geltend gemachte Mehrbedarf durch Beschaffung von FFP-2-Masken keinen Einzelfall dar.
2. Bedarfe durch Inflation und steigende Energiepreise
Hier soll nur ein kurzes Schlaglicht auf diese Problematik geworfen werden. Die Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE fragte im April 2022 die Bundesregierung, ob sie plane, vor dem Hintergrund der im April aktuellen Inflationsrate von 7,3 Prozent, die Regelsätze von Hartz IV und Sozialhilfe, unabhängig von den Einmalzahlungen aus dem so genannten „Entlastungspaket 2“, unverzüglich an die Inflation anzupassen (vgl. BT-Drs. 20/1355, S. 90)?
Die Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese antwortete hierauf am 8. April 2022 u. a., für die Regelbedarfe und damit für die sozialen Mindestsicherungssysteme maßgeblich sei nicht die allgemeine Inflationsrate, sondern der spezielle regelbedarfsrelevante Preisindex. Für März 2022 lasse sich die regelbedarfsrelevante Preisentwicklung erst berechnen, wenn die detaillierten Ergebnisse der Preisstatistik des Statistischen Bundesamtes für März vorlägen (siehe dazu auch das Interview mit Irene Becker hier). Im Übrigen verwies Griese auf die geplanten Einmalzahlungen und Entlastungspakete der Bundesregierung (siehe dazu unten 3. und 4.).
Die Sachverständige Inge Hannemann hat in einer Anhörung vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales schon am 2. November 2020 dargelegt, dass nach Recherchen des Vergleichsportals Verivox schon der Hartz-IV-Satz für 2021 zu wenig Geld für Strom enthalte. Demnach belaufe sich der Fehlbetrag für Alleinstehende dadurch allein auf knapp 100 Euro im Jahr (siehe Ausschussdrucksache 19(11)802, S. 9).
„Energiearmut“, also Armut infolge von nicht aufzubringenden Kosten für die Energie, ist im Übrigen auch kein neues Thema. Die Hans-Böckler-Stiftung titelte bereits im Januar 2007 in einem Artikel in BÖCKLER IMPULS: „Hartz-IV-Empfänger in der Energiekostenfalle“. Seit Inkrafttreten des SGB II liege eine Unterdeckung bei der Erstattung der Haushaltsstromkosten vor. Die Stiftung berief sich dabei auf eine gemeinsame Studie des Instituts für Energie- und Umweltforschung (ifeu) und des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) und wies darauf hin, viele Leistungsempfänger könnten diese Lücke nicht aus ihrem übrigen Budget – sprich der Pauschale durch Umschichtung innerhalb dieser – schließen.
Kurz sei darauf hingewiesen, dass Stromkosten, sofern sie zur „angemessenen“ Gewinnung von Heizenergie entstehen, durch die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II abgedeckt sind. Anders ist es mit den Aufwendungen für „Haushaltsstrom“. Sie sind aus dem pauschalierten Regelbedarf zu finanzieren. Steigen mithin die Preise für Strom, so müssen Leistungsberechtigte innerhalb der ihnen zur Verfügung stehenden Pauschale „umschichten“, ggf. auch andere Aufwendungen unterlassen, um die Stromrechnung begleichen zu können. Hierauf verweist auch das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in einer Entscheidung vom 9. Januar 2020 (Az.: L 19 AS 245/19).
Besonders prekär wird dies, wenn erst die Nachzahlungsverpflichtung den erhöhten Strompreis zu Tage treten lässt, weil die Abschlagszahlungen sich unverändert an dem bisherigen Strompreis und Verbrauch orientiert haben. Das LSG Sachsen-Anhalt hat denn dazu am 17. Juni 2020 (Az.: L 4 AS 712/15) geurteilt, ein Anspruch des Grundsicherungsberechtigten auf Übernahme der Kosten aus der Jahresabrechnung des Stromversorgers als Leistung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II sei ausgeschlossen. Es handele hierbei um keinen laufenden Bedarf. Das Urteil bezieht sich noch auf die alte Fassung des § 21 Abs. 6 SGB II (zur neuen Fassung siehe den vorstehenden Beitrag von Sabine Knickrehm unter 4.)
3. Reaktionen des Gesetzgebers
Der Gesetzgeber hat – jedenfalls im Rechtskreis des SGB II – bisher zuvörderst „nur“ auf die Krisensituation durch die Coronapandemie reagiert. Als Mittel der Wahl hat er die Voraussetzungen, die unter den Bedingungen der Pandemie, insbesondere der „Lockdowns“ die Inanspruchnahme der existenzsichernden Leistungen erschwert hätten, „ausgesetzt“ (s. unter 3.1) und Zuschläge „kreiert“ (s. unter 3.2).
3.1 Lockerungen von Reglementierungen
Mit Blick auf das Thema dieses Beitrags sollen die Lockerungen von Anspruchsvoraussetzungen hier nur kurz dargestellt werden. Sie stehen mit dem pauschalierten Regelbedarf zum einen zwar insoweit im Zusammenhang, als dieser den maximalen Bedarf (ohne solchen für Unterkunft und Heizung sowie die Mehrbedarfe) vorgibt, der individuell durch Einkommen und Vermögen minimiert einen wesentlichen Teil der Höhe des Alg II oder Sozialgeldes ausmacht. Zum anderen ergänzen z.B. die Bedarfe für Bildung und Teilhabe den pauschalierten Regelbedarf bei Kindern und Jugendlichen als Teil ihres Existenzminimums. Aber die benannten Lockerungen stehen nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Pauschalierung der Leistungen nach dem SGB II.
In mehreren Schritten sind durch § 67 SGB II die „Zugangsvoraussetzungen“ für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II „erleichtert“ worden (siehe hier).
Diese Erleichterungen wurden immer wieder verlängert – durch Rechtsverordnung (siehe z. B. hier) und später durch Gesetz (siehe hier) bzw. nunmehr wieder durch Rechtsverordnung (siehe hier).
Aktuell gilt bis maximal zum 31. Dezember 2022 (§ 67 Abs. 5 SGB II), dass Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 beginnen unter Modifizierung dreier wesentlicher Zugangsvoraussetzungen für Alg II und Sozialgeld „vereinfacht“ erbracht werden. Dies betrifft
- die großzügigere Nicht-Berücksichtigung von Vermögen (§ 67 Abs. 2 SGB II),
- die hinausgeschobenen Kostensenkungsaufforderung bei unangemessenen Unterkunfts- und Heizkosten sowie
- das Aussetzen der „abschließenden“ Festsetzung bei vorläufiger Leistungsbewilligung, indem sie nur auf Antrag des Leistungsberechtigten erfolgen soll.
Nach § 68 SGB II werden Leistungen für Mittagsverpflegung nach § 28 Abs. 6 SGB II erbracht unter Verzicht auf die Gemeinschaftlichkeit der Essenseinnahme und der gemeinschaftlichen Essenausgabe sowie abweichender Preise und unter Akzeptanz abweichender Abgabewege – z. B. auch durch Lieferung an Schülerinnen und Schüler nach Hause an den Ort des Homeschoolings.
3.2 Zuschläge
Die nachfolgend dargestellten Zuschläge zu a) bis d) sollen insbesondere die finanziellen Handlungsspielräume der Leistungsberechtigten als Ergänzung zu den Regelbedarfen erweitern, um etwaige im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende zusätzliche oder erhöhte Ausgaben zu finanzieren, aber teilweise auch als Ausgleich für die Inflation dienen. Die Zielrichtung des Sofortzuschlags für Kinder nach Buchst. d) ist eine gänzlich andere. Er soll der im Koalitionsvertrag vereinbarten „Kindergrundsicherung“ (siehe hier) vorgreifen. In dem Entwurf zum Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz (BT-Drs. 20/1411, S. 1) heißt es, er solle Kinder bis zur Einführung der Kindergrundsicherung mit einem Sofortzuschlag ergänzend unterstützen.
a) Einmalzahlung im Mai 2021
Der zum 1. April 2021 mit dem Sozialschutz-Paket III (siehe hier) eingefügte § 70 SGB II entfaltet eine punktuelle Wirkung. Er sieht vor, dass Leistungsberechtigte, die für den Monat Mai 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld hatten und deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtete, für den Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis zum 30. Juni 2021 zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro erhielten. Dies galt auch für Leistungsberechtigte, deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 3 richtete, sofern bei ihnen kein Kindergeld als Einkommen berücksichtigt wurde.
Ein Nachweis konkreter Mehraufwendungen war mithin nicht erforderlich. Die Mehraufwendungen wurden pauschal abgegolten. Eine Begründung für die Höhe von 150 Euro gibt der Entwurfsgeber nicht. Sie erschließt sich in Kenntnis der realen Preise in der Pandemie auch nicht aus den weiteren Ausführungen in der Entwurfsbegründung. Es werden dort nur beispielhaft zusätzliche finanzielle Belastungen benannt, die sich ergeben hätten, z. B. aus der Notwendigkeit, Schnelltests auf eigene Kosten durchzuführen, um ältere Verwandte besuchen zu können oder aus der Versorgung mit nötigen Hygieneprodukten und Gesundheitsartikeln. Gleichfalls abgedeckt werden sollten Zusatzbelastungen z. B. durch Ausgaben für die häusliche Freizeitgestaltung, insbesondere für Familien mit Kindern (vgl. BT-Drs. 19/26542, S. 19).
b) Kinderfreizeitbonus
Zumindest in Hinblick auf den zuletzt genannten Gesichtspunkt ist der Gesetzgeber noch einen Schritt weiter gegangen und hat für Kinder und Jugendliche persönlich einen Anspruch auf einen Kinderfreizeitbonus in § 71 SGB II geregelt. Diese Vorschrift ist am 1. Juli 2021 eingefügt worden durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und zur Änderung weiterer Gesetze – Kitafinanzhilfen-Änderungsgesetz“
§ 71 Abs. 1 SGB II trifft eine Regelung zur Durchbrechung der Reglementierung bei Leistungen der Lernförderung. Nach Abs. 2 erhielten Leistungsberechtigte, die für den Monat August 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld und das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten – mit Ausnahmen – eine Einmalzahlung in Höhe von 100 Euro.
Andy Groth, Vizepräsident des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein, weist im Juris-Praxis-Kommentar zum SGB II darauf hin, dass die Einmalzahlung nach § 71 Abs. 2 SGB II Teil des von der Bundesregierung beschlossenen Aktionsprogramms „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ sei. Auch wenn der Betrag vorrangig für Freizeitaktivitäten gedacht war, bestehe – wie einer Pauschale typischer Weise innewohnend – keine Verwendungsvorgabe.
Auch hier gibt es keine Begründung des Entwurfsgebers für die gewählte Höhe der Leistung. Groth rechtfertigt dies insoweit, als der Gesetzgeber die Leistung selbst mit „Kinderfreizeitbonus“ betitele und damit als Bonusleistung beschreibe, bei der es „nicht um die Deckung eines nachgewiesenen oder typisierend angenommenen Mehrbedarfs, sondern um eine abstrakte, generelle Unterstützung hilfebedürftiger Familien“ gehe.
Auch hier gilt, dass weder eine „zweckentsprechende Verwendung“ nachzuweisen ist noch die Bewilligungsentscheidung wegen zweckwidriger Mittelverwendung widerrufen werden kann. Die Familien – so der Entwurfsgeber – entschieden in eigener Verantwortung, wofür sie die zusätzlichen Mittel einsetzten. Ihm schwebte dabei vor, die Möglichkeit nun Angebote zur Freizeitgestaltung wahrzunehmen und Versäumtes nachzuholen. Es könne sich dabei laut der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/29765, S. 29) sowohl um Aufwendungen handeln, die direkt mit der Aktivität im Zusammenhang stünden (zum Beispiel Eintrittsgebühren) oder um Aufwendungen für die Nutzung der Aktivitäten (zum Beispiel spezielle Kleidung oder Schuhe).
c) Weitere Einmalzahlung im Juli 2022
Mit dem am 1. Juni 2022 in Kraft getretene „Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze“ wurde eine weitere Einmalzahlung für Grundsicherungsbeziehende eingeführt. Der Regierungsentwurf zum Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz vom 16. März 2022 (BT-Drs. 20/1411) sah nach dessen § 73 SGB II noch vor, dass eine weitere Einmalzahlung von 100 Euro aus Anlass der COVID-19-Pandemie an erwachsene Leistungsberechtigte erfolgen sollte, die für den Monat Juli 2022 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben. Die Zahlung sollte „zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen“ erbracht werden.
Der „Einmalbetrag“ hätte sich mithin gegenüber dem nach § 70 SGB II um 50 Euro – schließlich ist die epidemischen Lage von nationaler Tragweite beendet – reduziert. Im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens ist der Betrag von 100 Euro um weitere 100 Euro auf 200 Euro aufgestockt worden. Denn neben den bereits aus der Begründung zu § 70 SGB II bekannten Zwecken, soll die Leistung nach § 73 SGB II nun auch nach der Entwurfsbegründung „als unmittelbarer pauschaler Ausgleich für etwaige aktuell bestehende finanzielle Mehrbelastungen in Anbetracht aktueller Preissteigerungen“ dienen (siehe BT-Drs. 1768, S. 27).
Wieso dafür einmalig 100 Euro reichen sollen, wird im Gesetzentwurf allerdings nicht begründet. Allgemein heißt es in der Begründung zum Gesetz nur, dass die Einmalzahlung eine „die Regelbedarfe ergänzende einmalige pauschale Zusatzleistung zum Regelbedarf“ sein soll, die auch die höhere Aufwendungen in Folge der pandemiebedingten Inflation berücksichtigt. Weiter heißt es im Entwurf, Leistungsberechtigte sollten diese finanziellen Belastungen nicht allein tragen und würden daher durch eine die Regelbedarfe ergänzende Einmalzahlung unterstützt (siehe BT-Drs. 20/1411, S. 18).
d) Monatlicher Sofortzuschlag für Kinder
Das unter c) aufgeführte Gesetz beinhaltet auch die Regelung des § 72 SGB II mit dem Sofortzuschlag für Kinder und Jugendliche. Danach haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben, dem ein Regelbedarf nach den Regelbedarfsstufen 3, 4, 5 oder 6 zu Grunde liegt, zusätzlich Anspruch auf einen Sofortzuschlag in Höhe von 20 Euro im Monat. Der Sofortzuschlag wird erstmalig für den Monat Juli 2022 erbracht.
Anders als die unter a) bis c) vorgestellten Vergünstigungen ist die Leistung nach § 72 SGB II weder einmalig noch dient sie ausdrücklich dem Ausgleich von zusätzlichen Aufwendungen in einer Krisensituation. Die Leistung wird vielmehr im Hinblick auf ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung erbracht – im Vorgriff auf die verabredete „Kindergrundsicherung“. Unabhängig davon, wie diese ausgestaltet sein mag – die Koalitionäre haben im Hinblick auf die Ausgestaltung wohl noch keine konkreten Vorstellungen entwickelt, geschweige denn Einigkeit erzielt –, sollen durch den Sofortzuschlag in Höhe von 20 Euro Kinder und Familien unterstützt werden.
Der Gesetzentwurf (BT-Drs. 20/1411, S. 16 f.) erkennt hierin die Schaffung finanzieller Spielräume und einen Beitrag zur Verbesserung der „Lebensumstände und Chancen der Kinder zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur Teilhabe an Bildung und am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt“. Beim Sofortzuschlag handele es sich um eine „zusätzliche Leistung, die nicht der Deckung eines konkreten Bedarfs“ diene. Sie ergänze „die erforderlichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts um einen zusätzlichen Betrag, der unabhängig von der geltenden Höhe der Regelbedarfe oder anderer Bedarfe erbracht“ werde.
Geplant sei mit der Einführung einer Kindergrundsicherung eine Prüfung der Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen. Bis dahin verbindet der Entwurfsgeber mit dem Sofortzuschlag die Hoffnung, die Regelung bewirke, dass der Sofortzuschlag den Kindern beziehungsweise der Familie erhalten bleibe und ihnen tatsächlich zugutekomme.
4. Fazit
Trotz der oben beschriebenen Zuschläge und Erleichterungen für Grundsicherungsbeziehende bleiben Fragen nach der – schnellen – Reaktion des Gesetzgebers auf die Inflation und die Anpassung des Regelbedarfs an die gestiegenen Kosten für Haushaltsstrom. Im Kreis der SGB II- und SGB XII-Leistungsempfänger:innen schlagen deutliche Steigerungen dieser Aufwendungen erheblich zu Buche.
Rechtssystematisch stellt sich die Frage, wo der Ansatz für die politische Lösung ist. Muss die pauschalierte Regelbedarfsleistung erhöht werden oder kann der Gesetzgeber weiter „auf Sicht“ fahren und allein mit punktuellen Hilfen das Existenzminimum sichern. Wird Letzteres dem verfassungsrechtlichen Auftrag, wie ihn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2010 (Az.: 1 BvL 1/09 u. a.) formuliert hat, noch gerecht? Wohl schon – Zuschläge dürften verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein. Aber genügt der Hinweis auf die bisherigen „Entlastungs-Pakete“ und dienen diese der Existenzsicherung oder sind sie nur „Kosmetik“, weil sie einmalig und punktuell sind und keine strukturelle Änderung der Situation schaffen?
Und um auf die Ausgangsfrage zu antworten: Krisenfest wäre der pauschalierte Regelbedarf nur dann, wenn seine Bemessung vorherseh- und berechenbare Mechanismen enthielte, die Reaktionen in „Krisensituationen“ ermöglichten, ohne dass der Gesetzgeber jedes Mal gleichsam mildtätig reagierte. Eine Änderung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes insoweit ist in Erwägung zu ziehen. Existenzsicherung ist keine Frage der staatlichen Wohlfahrt, sondern verfassungsrechtlich durch einen Gewährleistungsanspruch des Staates zu garantieren.