Regel- und Mehrbedarfe nach dem SGB II

Wie wird die „richtige“ Höhe des Existenzminimums bestimmt?

von Sabine Knickrehm | Juni 2022

Im Grundsatz gibt es im SGB II – mit Ausnahme der Leistungen für Unterkunft und Heizung – eine pauschalierte Regel-Leistung. Nur in genau bestimmten Bedarfssituationen kann hiervon abgewichen werden. Wie bestimmt sich dieser Regelbedarf? Und in welchen Situationen kann davon abgewichen werden?

1. Der Wandel vom Warenkorb- zum Statistikmodell

Die Höhe, der Maßstab und/oder die Methode zur Bemessung der Regelleistung/des Regelbedarfs waren schon vor dem 24. Dezember 2003 – also vor der Beschlussfassung über das 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, mit dem u.a. das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) eingeführt wurde – stark umstritten.

Bis 1989 wurden die Leistungen der damaligen Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) auf Grundlage des so genannten Warenkorbmodells festgelegt. Die Höhe der Regelsätze beruhte dabei vollständig auf normativen Entscheidungen im Hinblick auf die Auswahl der als notwendig angesehenen Güter und Dienstleistungen und die Festlegung der dazugehörigen Verbrauchsmengen sowie deren preislicher Bewertung.

Abgelöst wurde das Warenkorbmodell noch zu BSHG-Zeiten und zunächst versuchsweise durch das sog. Statistikmodell, dem das tatsächliche und statistisch nachgewiesene Verbraucherverhalten von Haushalten im unteren Einkommensbereich zugrunde liegt.

Die Kritik an der Bemessung des Regelsatzes/der Regelleistung verstummte aber auch nach dem „Systemwechsel“ nicht. Sie war vom Inkrafttreten von SGB II und SGB XII an Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen in der Literatur (siehe z. B. hier und hier) und Anlass für etliche Sachverständigengutachten (siehe z. B. hier und hier).

2. Grundrechtliche Anforderungen: Unverfügbarer Anspruch auf Existenzsicherung

Die juristische Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Existenzminimums, wie es durch das SGB II vorgegeben wurde, fand ein vorläufiges Ende durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Februar 2010 (Az.: 1 BvL 1/09 u. a).

Das BVerfG hatte befunden: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu. Zur Ermittlung des Anspruchsumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.“

Auch diese Entscheidung zog erwartungsgemäß eine kritische juristische (siehe u. a. hier, S. 63 ff. und hier sowie hier) und sozialpolitische Auseinandersetzung nach sich. Ein wesentlicher Teil der Kommentare hierzu betraf die Bemessung der Bedarfe für Kinder und Jugendliche, die nach der Entscheidung des BVerfG für nicht hinreichend wissenschaftlich abgesichert und sozialpolitisch betrachtet für zu niedrig befunden wurden (siehe z. B. hier).

Hieran hat sich bis heute wenig geändert. Trotz der leichten Anhebung der Regelsätze um 0,76 Prozent zum 1. Januar 2022 gegenüber dem Vorjahr (siehe Tabelle) genügen sie nach Auffassung des Geschäftsführers des Paritätischen Gesamtverbandes Ulrich Schneider keineswegs, um die hohe Inflationsrate auszugleichen. Er forderte bereits Anfang dieses Jahres in einem Interview mit dem Deutschlandfunk politisches Handeln, was aus seiner Sicht bedeutet, der Regelsatz müsse um 100 Euro im Monat höher sein. Seine Position sei nur stellvertretend benannt. Er steht mit dieser Forderung, die z. T. in der Sozialpolitik noch differenzierterer oder weitergehender vorgetragen wird, nicht allein (siehe etwa hier und hier).

3. Festbetrag/pauschalierter Regelbedarf

Grundsätzlich hat das BVerfG in seinem vierten Leitsatz zur Entscheidung vom 9. Februar 2010 bestimmt: „Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.“

Eine Pauschalierung der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ist somit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch – so das BVerfG in seinem weiteren Regelsatz-Urteil vom 23. Juli 2014 (Az.: 1 BvL 10/12) – sei der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich in Orientierung am Warenkorbmodell einzelne Positionen herauszunehmen. Der existenzsichernde Regelbedarf müsse jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden könnten, oder sei durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern. Zugleich hat das Gericht die Grenzen der Herausnahme von einzelnen Positionen bestimmt, indem es im Leitsatz 1 formuliert: „Zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) dürfen die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden und muss die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein.“

Nach dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) werden zur Ermittlung des Regelbedarfs alle durchschnittlichen Ausgaben von einkommensschwachen Haushalten herangezogen, sofern diese Ausgaben zur Sicherung des Lebensunterhalts als erforderlich angesehen werden. Verbrauchsausgaben, die bereits anderweitig gedeckt werden oder für das Existenzminimum nicht für zwingend erforderlich gehalten werden – wie etwa Ausgaben für Zimmerpflanzen, Haustiere, Speiseeis, Tabak oder Alkohol –, werden nicht im Regelbedarf berücksichtig (siehe auch hier).

Der Regelbedarf umfasst nach § 20 Abs. 1 SGB II insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie (ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile) sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesen gehört in vertretbarem Umfang auch eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft.

Der Regelbedarf wird als monatlicher Pauschalbetrag berücksichtigt. Über die Verwendung der zur Deckung des Regelbedarfs erbrachten Leistungen entscheiden die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen. Daneben sind im Bedarfsfall – also in einer Situation, in der der Bedarf vom Regelbedarf nicht hinreichend oder gar nicht erfasst wird – Leistungen für Mehrbedarfe zu erbringen.

4. Mehrbedarfe – pauschaliert und individualisiert

 Ein Teil dieser Mehrbedarfe wird – wie der Regelbedarf – durch pauschalierte Leistungen „gedeckt“. Dies betrifft etwa die Mehrbedarfe für werdende Mütter (§ 21 Abs. 2 SGB II), Alleinerziehende (§ 21 Abs. 3 SGB II), behinderte Menschen, denen bestimmte Teilhabeleistungen erbracht werden (§ 21 Abs. 4 SGB II) und für Leistungsberechtigte, die einen Mehrbedarf durch die dezentrale Warmwassererzeugung haben (§ 21 Abs. 7 SGB II).

Nach dem individuellen tatsächlichen Bedarf bemessen sich Mehrbedarfsleistungen – immer begrenzt durch die „Angemessenheit“ des Bedarfs – für

Eine pauschalierte Leistungserbringung steht insoweit im Ermessen des Leistungsträgers. Für Kinder und Jugendliche werden Leistungen für Bildung und Teilhabe erbracht. Sie sollen deren Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft in bestimmten Lebenssituationen – insbesondere in Kindertageseinrichtungen und Schulen, aber auch in der Freizeit – zusammen mit dem Regelbedarf sichern (§ 28 SGB II). Die Leistungserbringung erfolgt hier nur zu einem kleineren Teil durch pauschalierte Beträge (vgl. zu den Leistungsformen § 29 SGB II).

Noch eine weitere Öffnungsmöglichkeit gegenüber dem pauschalierten Regelbedarf sieht das SGB II in § 21 Abs. 6 SGB II vor. Mit dieser „Härtemehrbedarfsleistung“ hat sich der Gesetzgeber schwergetan. Die Regelung ist erst durch das Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates und zur Übertragung der fortzuführenden Aufgaben auf den Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze zum 3. Juni 2010 zur Umsetzung der eingangs zitierten 4. Leitsatzes des BVerfG aus der Entscheidung vom 9. Februar 2010 eingefügt worden (siehe BT-Drs. 17/1465).

Die Formulierung des § 21 Abs. 6 SGB II lehnte sich eng an die des BVerfG an und war beschränkt auf die Deckung laufender besonderer Bedarfe. Gerade hieran entzündete sich im Weiteren eine intensive Diskussion. Stichwort war insoweit die Deckung etwa von besonderen Bedarfen in Gestalt von „weißer Ware“ (langlebiger Konsumgüter), also die Deckung einmaliger Bedarfe, die entweder nicht vom Regelbedarf umfasst oder hier nur mit einem geringen monatlichen Betrag berücksichtigt sind (siehe hier, S. 721 ff.).

Während der Gesetzgeber nach der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2014, anlässlich des sog. Rechtsvereinfachungsgesetzes im Jahr 2016 noch keine Notwendigkeit einer entsprechenden Anpassung erkannte, können nun einmalige Bedarfe – zwar unter engen Voraussetzungen – auch nach § 21 Abs. 6 SGB II durch eine Mehrbedarfsleistung, ggf. auch in Form eines Zuschusses, gedeckt werden. Ermöglicht wurde das durch eine Gesetzesänderung, die mit dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des SGB XII sowie weiterer Gesetze (Artikel 4) zum 1. Januar 2021 in Kraft trat.

Sabine Knickrehm

Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht