Die geplante Kindergrundsicherung – eine erste Einordnung

von Björn Harich | Dezember 2021

Die neue Kindergrundsicherung soll laut Koalitionsvertrag  „bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen“ und „mehr Kinder aus der Armut holen“. Was steckt hinter diesem geplanten neuen Instrument der Familienförderung?

Die Reform des Familienleistungsausgleichs, für die im Bundestagswahlkampf unter dem griffigen Schlagwort der „Kindergrundsicherung“ geworben wurde, gehört zu den fachlich anspruchsvollen innenpolitischen Projekten der neuen Wahlperiode, für das eine gewisse Furchtlosigkeit gefragt ist. Der Koalitionsvertrag (insbesondere S. 100) ist an dieser Stelle – im Vergleich zu anderen Projekten – eher knapp gehalten, was vor dem Hintergrund der Komplexität dieses Themas nicht überraschen kann. Dass den Koalitionären die Größe der Aufgabe bewusst ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass bis zur Einführung einer Kindergrundsicherung an bedürftige Familien ein so genannter Sofortzuschlag ausgezahlt werden soll, den die neue Bundesfamilienministerin Anne Spiegel bereits angekündigt hat.

Neue Förderleistung in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums

Die Koalitionsparteien wollen im Sinne eines „Neustarts der Familienförderung“ bisherige finanzielle Unterstützungen „wie“ Kindergeld, Sozialgeld nach dem SGB II, Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie den Kinderzuschlag in einer neuen Förderleistung in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums des Kindes bündeln.

Bleibt es dabei, ließe eine solche Bündelung – anders als zuvor in der öffentlichen Debatte angedacht – weitere vorgelagerte Ausgleichssysteme wie den Unterhaltsvorschuss oder das so genannte Kinderwohngeld außen vor.

Eine Sonderstellung nimmt der Kinderzuschlag ein, der zwar einerseits ebenfalls „vorgelagert“ ist, indem er Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II vermeiden soll, andererseits eng mit diesem Gesetz verwoben und systematisch der Existenzsicherung zuzuordnen ist (vgl. § 6a Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz BKGG in der Fassung des sog. Starke-Familien-Gesetz vom 29.04.2019, BGBl. I S. 530).

Zusammengefasst nimmt sich die Koalition in erster Linie eine Neuordnung der Leistungen zur Deckung des Existenzminimums des Kindes vor, was bereits anspruchsvoll ist. Ob es durch eine solche Neuordnung allerdings gelingt, „mehr Kinder aus der Armut [zu] holen“, bleibt abzuwarten.

Hiermit im Zusammenhang steht, dass der Koalitionsvertrag von einem „neu“ zu definierenden soziokulturellen Existenzminimum spricht. Die Koalition greift hiermit eine öffentlich breit geführte Debatte zu der Frage auf, wie das Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen realitätsgerecht zu bestimmen ist und an welcher Einkommensgruppe es sich orientierten sollte. Die Ermittlung der Regelbedarfe ist auch im bisherigen System eine Dauerbaustelle. Dies betrifft nicht zuletzt die Zuordnung von Verbrauchsausgaben eines Haushalts auf seine Mitglieder und – empirisch – die Teilnahmebereitschaft von Familien an Haushaltserhebungen der amtlichen Statistik (hierzu zuletzt BR-Drucks. 699/21, S. 3).

Garantie- und Zusatzbetrag

Nach dem Koalitionsvertrag soll die Kindergrundsicherung aus zwei Komponenten bestehen:

Volljährige Anspruchsberechtigte sollen die Leistung – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Ausbildungsförderung – direkt erhalten.

Der Zusatzbetrag ist danach bedürftigkeitsabhängig und sichert zusammen mit dem Garantiebetrag das sozialrechtliche Existenzminimum. Daraus folgt, dass es sich jedenfalls beim Zusatzbetrag materiell um eine Sozialleistung handelt.

Streitanfällig ist realistischerweise eher der Zusatz- als der Garantiebetrag. Er wird nach den sozialgerichtlichen Erfahrungen mit dem SGB-II-Sozialgeld – trotz aller erstrebenswerten Bemühungen um Vereinfachung und Entbürokratisierung – vermutlich in einem weit höheren Maße streitanfällig sein als das bisherige Kindergeld.

Es spricht deshalb einiges dafür, die Streitigkeiten auf dem Gebiet der zukünftigen Kindergrundsicherung den Sozialgerichten zuzuweisen, die bereits bislang für Rechtstreitigkeiten nach dem SGB II, dem SGB XII, dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) und für Streitigkeiten über die in verschiedenen Sozialsystemen geregelten Bildungs- und Teilhabeleistungen zuständig sind. Dies auch deswegen, weil mit dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Prozessordnung besteht, die auf die Durchsetzung von Sozialleistungsansprüchen zugeschnitten ist, während entsprechende Regelungen in der Finanzgerichtsordnung (FGO) erst geschaffen werden müssten.

Spannungsreiches Verhältnis zum steuerlichen Existenzminimum

Nur angedeutet ist im Koalitionsvertrag das spannungsreiche Verhältnis des sozialrechtlichen Existenzminimums zum hieraus abgeleiteten, gleichzeitig aber vielgestaltig überformten steuerlichen Existenzminimum. Einerseits soll das Kindergeld, dessen Funktion zwischen Vorausleistung auf die steuerliche Freistellung des kindlichen Existenzminimums („Steuervergütung“) und (echter) familienbezogener Förderleistung je nach Einkommenshöhe wechselt (§ 31 Satz 1 Einkommensteuergesetz [EStG]), in der neuen Kindergrundsicherung aufgehen. Andererseits fehlen im Koalitionsvertrag jedenfalls ausdrückliche Aussagen zu Änderungen bei den steuerlichen Kinderfreibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG, die bei höheren Einkommen die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes anstelle des Kindergelds bewirken und betragsmäßig das Kindergeld übersteigen können, was in der familienpolitischen Diskussion häufig als ungerecht angesehen wird.

Der Koalitionsvertrag formuliert vorsichtig, mit dem Garantiebetrag werde in dieser Legislaturperiode die Grundlage für das perspektivische Ziel gelegt, künftig allein durch den Garantiebetrag den verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Freistellung des kindlichen Existenzminimums bei der Besteuerung des Elterneinkommens zu entsprechen. Dies könnte ein Anlass sein zu überdenken, ob die Herleitung des steuerlichen Existenzminimums insbesondere mit dem so genannten Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf (BEA), der im Referenzsystem des Sozialrechts keine Entsprechung hat, vor dem Hintergrund der andernorts formulierten Rationalitätsanforderungen an die staatliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums noch zeitgemäß ist oder einer weitergehenden Reform bedarf.

Zugang zur Kindergrundsicherung

Der Zugang zu einer zukünftigen Kindergrundsicherung nimmt im Koalitionsvertrag breiten Raum ein. Die Kindergrundsicherung soll automatisiert ausgezahlt werden. Eine existenzsichernde Leistung zu automatisieren, bietet Vorteile, birgt aber auch ein Risiko. Eine Entscheidung „durch Amtsträger“ muss jederzeit möglich sein und beantragt werden können. Vermutlich ist die Ankündigung einer Automatisation zu verstehen als Verzicht auf ein Antragserfordernis.

Die Koalition stellt sich damit des Problems teilweise geringer Inanspruchnahmequoten in den bisherigen Sozialsystemen. Eine unbeabsichtigte Folge der komplexen und für die Betroffenen kaum überschaubaren Wechselwirkungen unseres hochgradig ausdifferenzierten Sozialstaats. Soweit die Koalitionäre insoweit – im Kapitel „Verwaltungsmodernisierung“ – „proaktives Verwaltungshandeln“ ankündigen, ist dies nicht ohne Ambivalenz. Bei allem Bemühen um Modernität schwingt bei diesem Begriff im sozialstaatlichen Zusammenhang etwas Fürsorgerisches und damit überraschend Altmodisches mit.

Im Hinblick auf den einkommensabhängigen Teil der Kindergrundsicherung hängt eine automatisierte und gegebenenfalls antragslose Auszahlung der Kindergrundsicherung maßgeblich davon ab, dass das Einkommen bekannt ist und – gegebenenfalls andernorts – ermittelt wurde. Selbst wenn die Daten insoweit (richtig und vollständig) erhoben wurden und (automatisiert) übermittelt werden dürfen, setzt eine Automatisation maßgeblich voraus, dass auf der Grundlage dieser Daten ohne weitere Prüfschritte eine Entscheidung getroffen werden kann.

Der Koalitionsvertrag deutet dies an, wenn es dort heißt, gemeinsam mit den Ländern solle der Einkommensbegriff bis Mitte 2023 „in allen Gesetzen“ harmonisiert werden. Auf welche (alle?) Gesetze sich dies bezieht, ist unklar. Bislang verfügt jedes Leistungssystem, das zukünftig durch eine Kindergrundsicherung ersetzt werden soll, über einen mehr oder weniger ausdifferenzierten eigenen Einkommensbegriff. Sollte es der Koalition gelingen, die Einkommensbegriffe nur in den Existenzsicherungssystemen zu harmonisieren, wofür sich – entsprechend des kodifikatorischen Anspruchs des SGB – ein Allgemeiner Teil anbieten würde, wäre dies bereits ein großer Schritt nach vorn. Gegen eine zu enge Bindung an den steuerrechtlichen Einkommensbegriff spricht, dass dieser die aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse in den Familienhaushalten nicht abbildet. Dies ist aber notwendig für Systeme, die der Existenzsicherung dienen.

Schnittstelle zum SGB II

Bei der Einführung einer Kindergrundsicherung wird ein neues Problem entstehen, das in der bisherigen öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielte, dessen Lösung aber nicht trivial ist: Die entstehende Schnittstelle zum SGB II. Bislang erhalten grundsätzlich alle Familienmitglieder bei Bedürftigkeit Leistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld). Zuständig für die Familie ist grundsätzlich allein das Jobcenter. Die zusätzliche Gewährung von Kindergeld durch die Familienkasse – nach den Einkommensvorschriften als durchlaufender Posten beim Kind ausgestaltet – ist in der Leistungspraxis wenig fehleranfällig.

Zukünftig werden in den Familien zwei (teilweise) einkommensabhängige Sozialleistungen zusammentreffen. Ob dies gelingt, hängt zum einen von der Harmonisierung des Einkommensbegriffs, zum anderen davon ab, wie Bedarfe zugeordnet werden (z. B. bei den Unterkunftsbedarfen) und wie auf Sonder- und Mehrbedarfe des Kindes reagiert wird (z. B. im Umgangsfall). Eine zu strikte Pauschalierung der Kindergrundsicherung kann dazu führen, dass das Existenzminium des Kindes nicht mehr gedeckt ist. Hinzukommt, dass die Jobcenter nach dem Kapitel über das „Bürgergeld“ im Koalitionsvertrag (siehe dazu hier) für die so genannten aktiven (Eingliederungs-)Leistungen an Jugendliche weiter zuständig sein sollen, der das SGB II prägende Grundsatz der „Leistung aus einer Hand“ also für diese Personengruppe aufgegeben werden soll.

Björn Harich

ist Richter am Bundessozialgericht