Erste Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojektes
von Armin Höland, Christina Maischak und Felix Welti | September 2021
Die Corona-Pandemie hat auch den Rechtsschutz erheblich beeinflusst. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf die Widerspruchsverfahren bei der Sozialversicherung und den Jobcentern? Welche Auswirkungen gab es bei den Verhandlungen vor den Sozialgerichten? Diesen und anderen Fragen geht das Forschungsprojekt „Arbeits- und Sozialgerichte und Sozialverwaltung in der Pandemie“ nach. Erste Ergebnisse des noch nicht abgeschlossenen Projekts werden hier vorgestellt.
1. Das Forschungsprojekt
Am 25. Mai 2020 stellte der Deutsche Bundestag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) eine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ fest. Damit war die Sars-CoV-2-Epidemie in der Bundesrepublik Deutschland auch amtlich angekommen. Binnen kurzer Zeit musste sich das gesamte öffentliche wie private Leben in Deutschland auf eine in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach Ausmaß und Gefährlichkeit neuartige Bedrohung der Gesundheit einrichten. Angesichts der weltweiten Verbreitung war in kurzer Zeit aus nationalen Epidemien eine Pandemie geworden.
Zu den öffentlichen Einrichtungen, die sich ab März 2020 auf die Pandemielage einrichten mussten, gehört die „rechtsprechende Gewalt“, wie sie in Art. 92 des Grundgesetzes genannt wird. Mit zwei der fünf Gerichtsbarkeiten in Deutschland, den Gerichten für Arbeitssachen und der Sozialgerichtsbarkeit, befasst sich seit Mitte August 2020 das im Rahmen des Fördernetzwerkes Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderte empirische Forschungsprojekt „Arbeits- und Sozialgerichte und Sozialverwaltung in der Pandemie“. Das Forschungsprojekt, das von den Professoren Felix Welti (Universität Kassel) und Armin Höland (Zentrum für Sozialforschung Halle/Saale) geleitet wird, hat sich zum Ziel gesetzt, den Rechtsschutz in den Verfahren der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit sowie in Widerspruchsverfahren von Sozialleistungsträgern während der Corona-Pandemie zu untersuchen.
In methodischer Hinsicht ist das Forschungsprojekt zu seinen Erkenntnissen durch die Auswertung von Widerspruchs- und Gerichtsstatistiken, individuell und gruppenweise geführte Expertengespräche und bundesweite, standardisierte Online-Befragungen gelangt. Befragt wurden die haupt- und ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern beider Gerichtsbarkeiten (jeweils ohne Bundesgerichte), eine Auswahl von Prozessvertreterinnen und -vertretern aus Anwaltschaft, DGB-Rechtsschutz, Sozialverband Deutschland (SoVD) und Sozialverband VdK sowie Vertreterinnen und Vertreter der in die Untersuchung einbezogenen Bundesagentur für Arbeit, Deutsche Rentenversicherung Bund und Jobcenter.
Abgestimmt auf den Interessenschwerpunkt des „Netzwerks Sozialrecht“ beschränken sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen auf die Sozialgerichtsbarkeit. Nur zu wenigen Forschungsergebnissen wird ein vergleichender Blick auch auf die Arbeitsgerichtsbarkeit geworfen.
2. Weniger Widerspruchsverfahren bei den meisten Sozialversicherungsträgern
Vor der Erhebung einer Klage zum Sozialgericht sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts nach § 78 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Vorverfahren nachzuprüfen, das nach § 83 SGG mit der Erhebung des Widerspruchs beginnt. Hierfür ergibt die Auswertung der in der Statistik SG01/SG02 erhobenen Zahlen zur „Tätigkeit der Widerspruchsstellen der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung“ ein differenziertes Bild.
Schon im Jahresverlauf von 2015 bis 2019 hatte die Zahl der Widersprüche in der Rentenversicherung, der Alterssicherung der Landwirte, in Angelegenheiten der Bundesagentur für Arbeit und auch in den Jobcentern kontinuierlich abgenommen.
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) mit ihren Regionalträgern, der DRV Bund und DRV Knappschaft Bahn-See verzeichnete in den vier Jahren von 2015 bis 2019 insgesamt 15 Prozent weniger Widersprüche. Im ersten Jahr der Pandemie 2020 ist die Zahl der Widersprüche gegen die Träger der Deutschen Rentenversicherung im Vergleich zu 2019 innerhalb nur eines Jahres um knapp 13 Prozent gesunken.
Bei der Alterssicherung der Landwirte nahmen die Widersprüche von 2015 bis 2019 um knapp 13 Prozent ab, während von 2019 zu 2020 insgesamt 28 Prozent weniger Widersprüche erhoben wurden.
Ganz anders verlief die Entwicklung bei der Bundesagentur für Arbeit (BA). Hier waren die erhobenen Widersprüche in den vier Jahren von 2015 bis 2019 um reichlich drei Prozent gesunken. Die Widerspruchsverfahren von 2019 zu 2020 sind hingegen erheblich gestiegen. Im ersten Pandemiejahr 2020 ist eine Steigerung von 20 Prozent zum Vorjahr zu erkennen. Auf der Suche nach Erklärungen liegt es nahe, an den sprunghaften Anstieg der geprüften Anzeigen über Kurzarbeitergeld nach § 96 SGB III und der Personen in Kurzarbeit im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr zu denken.
In der Grundsicherung nach dem SGB II waren die Widerspruchsverfahren von 2015 bis 2019 um sieben Prozent gesunken. Im Jahr 2020 wurden elf Prozent weniger Widersprüche als 2019 bei den Jobcentern eingereicht.
3. Wesentlich weniger mündliche Verhandlungen bei den Sozialgerichten
Ist der Widerspruch abgelehnt worden, kann Klage bei einem der 68 Sozialgerichte in Deutschland erhoben werden. Tatsächlich führte die rasche Ausbreitung der Corona-Pandemie ab dem Frühjahr 2020 in der Gerichtswirklichkeit zu erheblichen Einschränkungen. Fast zwei Drittel der befragten Berufsrichterinnen und -richter bestätigen für den Zeitraum von März bis Sommer 2020 den zeitweiligen Ausfall mündlicher Verhandlungen. Der pandemiebedingte Ausfall mündlicher Verhandlungen wird von fast vier Fünfteln mit zwei bis drei Monaten angegeben.
Im Vergleich zur Arbeitsgerichtsbarkeit dauerte die Unterbrechung an den Sozialgerichten deutlich länger. Auch im Herbst und Winter 2020/21 kam es nach den berufsrichterlichen Befragungsdaten zu weniger mündlichen Verhandlungen als üblich, die Dauer der Unterbrechung war hingegen kürzer.
Die im Vergleich zur Arbeitsgerichtsbarkeit längeren Zeiträume ohne mündliche Verhandlungen an den Sozialgerichten im Frühjahr und Sommer 2020 haben ihre Ursache im Wesentlichen in unterschiedlichen prozessualen Bedingungen. Zu ihnen gehört die vergleichsweise große Bedeutung der medizinischen und psychologischen Begutachtung durch Sachverständige im sozialgerichtlichen Verfahren. Jeweils rund zwei Drittel der Berufsrichterinnen und -richter in der Sozialgerichtsbarkeit gaben an, dass die Begutachtung sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren länger gedauert habe.
Zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Organisation des Gerichtsbetriebs gehört auch die verstärkte Schriftlichkeit in der Bearbeitung und Erledigung von Rechtsstreitigkeiten. Sie kommt nach den Aussagen der Berufsrichterinnen und -richter unter anderem in häufigeren schriftlichen Vergleichsvorschlägen durch das Gericht, in verstärkter schriftlicher Kommunikation der Gerichte durch Briefe und E-Mails u. a. sowie in häufigeren Entscheidungen durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG und durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG zum Ausdruck. Eine häufigere Entscheidung durch Gerichtsbescheid bedeutet auch, dass ehrenamtliche Richterinnen und Richter entsprechend weniger zur gemeinsamen Entscheidungsberatung hinzugezogen werden.
4. Videoübertragungen von Gerichtverhandlungen nur wenig genutzt
Mit Artikel 4 des Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) vom 20. Mai 2020 hatte der Bundesgesetzgeber § 211 in das Sozialgerichtsgesetz eingefügt (siehe auch hier) (der Vorschrift entspricht fast wortgleich der ebenfalls neu eingefügte § 114 Arbeitsgerichtsgesetz). Nach dessen Absatz 1 konnte das Gericht „einem ehrenamtlichen Richter bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an der mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilzunehmen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen“ (siehe auch hier).
Die Verhandlung musste dann „zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen“ werden. Die Übertragung durfte nicht aufgezeichnet werden. Nach § 211 Abs. 2 Satz 1 galt das entsprechend für die Beratung und Abstimmung sowie für Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung. Absatz 3 erweiterte die Möglichkeit räumlich distanzierter mündlicher Verhandlungen auf Beteiligte, Bevollmächtigte und Beistände.
Die Geltungsdauer des § 211 SGG war allerdings knapp befristet. Die Vorschrift trat am 29. Mai 2020 in Kraft und mit Ablauf des Jahres 2020 wieder außer Kraft. Damit beschränkte sich die Geltungsdauer des § 211 SGG auf nur sieben Monate und drei Tage.
Die tatsächliche Bedeutung des § 211 SGG war schwach. Auf die im Online-Fragebogen im Forschungsprojekt gestellte Frage, wie oft sie die durch § 211 SGG geschaffene Möglichkeit der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung in ihrem richterlichen Arbeitsalltag genutzt haben, gaben 92 Prozent der Berufsrichterinnen und -richter der Sozialgerichtsbarkeit an, dass sie davon nie Gebrauch gemacht haben. Sieben Prozent hatten gelegentlich, 0,7 Prozent oft davon Gebrauch gemacht.
Man muss das Bild allerdings in zweierlei Hinsicht relativieren. Zum ersten galt die Regelung nur gut sieben Monate. Im Hinblick auf die im Jahr 2020 weitgehend unzureichende Ausstattung der Sozialgerichte mit Videokonferenztechnik konnte die gesetzliche Vorschrift so kaum Wirkung entfalten. Zum zweiten: Wenn man die Aussagen zu § 211 SGG mit den Antworten der Berufsrichterinnen und -richter vergleicht, ob sie bereits vor der Pandemie Erfahrungen mit einer Videokonferenz für gerichtliche Verhandlungen nach § 110a SGG gemachten haben, kann man durchaus eine Veränderung feststellen: Vor der Pandemie hatten sogar 98 Prozent der Befragten keine Erfahrung mit Bild- und Tonübertragung in einem gerichtlichen Verfahren gemacht. Vergleicht man die beiden Anteile, so ergibt sich allein für den Siebenmonats-Zeitraum der Geltungsdauer des § 211 SGG bei den Berufsrichtern ein Zuwachs um etwa sieben Prozentpunkte. Die Sars-CoV-2-Pandemie hat die Ausstattung der Sozial- und Arbeitsgerichte mit digitaler Technik vielfach in kurzer Zeit verbessert und ihre Nutzung intensiviert.
5. Auswirkungen auf ehrenamtliche Richterinnen und Richter in der Pandemie
Ehrenamtliche Richterinnen und Richter wirken in der Arbeits- wie der Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland als gleichermaßen unabhängige und stimmberechtigte Richterpersonen mit (siehe auch hier).
Auch auf ihre Tätigkeit hatte die Pandemie ab März 2020 erhebliche Auswirkungen. Das betraf vor allem den Einsatz zum richterlichen Dienst. Von den insgesamt 4.225 „Ehris“ in der Sozialgerichtsbarkeit, die den Online-Fragebogen für das Forschungsprojekt ausfüllten, gaben 69 Prozent an, 2020 insgesamt weniger mündliche Verhandlungen erlebt zu haben. Für die Zeit ab März 2020 bis zum Sommer 2020 hatten 60 Prozent zeitweise keine oder nur wenige (53 Prozent) mündliche Verhandlungen am Gericht erlebt.
96 Prozent der befragten „Ehris“ in der Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit gaben an, weder vor noch während der Pandemie Erfahrungen mit der Anwendung von Bild- und Tonübertragungen gemacht zu haben (mehr zu den Ergebnissen des Projekts in Bezug auf die „Ehris“ in der Pandemie in der Zeitschrift Soziale Sicherheit 6/2021).
6. Vor- und Nachteile der gerichtlichen Nutzung von Videokonferenztechnik nach den Aussagen der Befragten
Die Frage, ob und in welchem Umfang Videokonferenztechnik in sozialgerichtlichen Verfahren zum Einsatz kommen kann, ist stark umstritten. Die seit dem Frühjahr 2020 geltenden Regeln der Vermeidung von Kontakten und des Einhaltens von Abstand haben die technischen Angebote der Bild- und Tonübertragung in Gerichtsverfahren allerdings teilweise in einem anderen Licht erscheinen lassen. Mittlerweile werden in der distanzwahrenden Bildtechnik auch Vorzüge gesehen, jedenfalls zur Sicherstellung von Rechtsschutz und Verfahrensfortgang während einer Pandemie, sowie darüber hinaus in der Vermeidung von Reiseaufwand und Wartezeiten (siehe auch das Interview mit dem ehrenamtlichen Richter Franz Organista in diesem Thema des Monats).
Nachteile werden in der Qualität der Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten, insbesondere jenseits des reinen Rechtsgesprächs gesehen. Dies könnte gerade für die nicht vertretenen Klägerinnen und Kläger zum Nachteil werden. Die Frage, ob die Bild- und Tonübertragung unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter der Regelfall werden oder eine Ausnahme sein sollte, führte für die haupt- wie die ehrenamtlichen Richter zu einem weitgehend übereinstimmenden Meinungsbild: Für den Regelfall sprachen sich nur drei bis vier Prozent aus, rund zwei Drittel hingegen akzeptieren Videokonferenzen lediglich als Ausnahme für bestimmte Situationen.
7. Einige Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt
Auch wenn die Covid-19-Pandemie noch nicht überwunden ist, lassen sich auf der Grundlage der Forschungsdaten jedenfalls fünf Erkenntnisse gewinnen:
Erstens: Der Schutz der Gerichte und des richterlichen wie nichtrichterlichen Personals gegen die Sars-CoV-2-Infektionsgefahr ist allem Anschein nach gelungen. Nach einer kurzen Zeit der „Schockstarre“ haben sich die Gerichte insgesamt angemessen auf den Infektionsschutz eingerichtet (siehe auch hier).
Zweitens: Ungeachtet des nicht in Frage zu stellenden Bemühens der Richterschaft dürften der Rückgang der Zahlen mündlicher Verhandlungen und die längeren Unterbrechungszeiten den Rechtsschutz im Jahr 2020 im Vergleich zu den Vorjahren vermindert haben.
Drittens: Um den Verfahrensfortgang trotz Pandemie zu sichern, haben die Sozialgerichte verstärkt schriftliche Entscheidungen in Gestalt von Gerichtsbescheiden und Urteilen ohne mündliche Verhandlung genutzt. Bei Gerichtsbescheiden wirken die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter nicht mit.
Viertens: Die von Ende Mai bis Ende Dezember 2020 geltende Vorschrift des § 211 SGG konnte eine nur sehr schwache Wirksamkeit entfalten.
Fünftens: Die gerichtliche Videokonferenztechnik wird von den haupt- und ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern im Grundsatz begrüßt, der Einsatz aber nur für einen Ausnahmefall wie eine Pandemie – und nicht als Regelfall – gewünscht.