Eine sinnvolle Neuerung für ehrenamtliche Sozialrichter/innen?
von Helga Nielebock | Juli 2020
Mit dem Sozialschutz-Paket II wurden auch Bestimmungen des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für ehrenamtliche Sozialrichterinnen und -richter geändert. Sie können jetzt während einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ per Videokonferenz sowohl an den mündlichen Verhandlungen als auch an den Beratungen, Abstimmungen und Entscheidungen der Gerichte teilnehmen. Sind diese Neuregelungen sinnvoll und realisierbar?
Am Anfang der Corona- Pandemie veränderten sich die Kommunikationsmöglichkeiten drastisch – „stay at home“ war die Parole. „Wenig reisen und wenig persönlicher Kontakt“ lautete die Devise. Telefon- und Videokonferenzen und Internetkommunikation wurden die Mittel der Wahl, um überhaupt noch persönlich zu kommunizieren. Anfangs war nicht abzusehen, wie sich die Krise entwickeln würde.
Der Shutdown außerhalb „systemrelevanter Tätigkeiten“ wirkte sich auch bei den Gerichten aus. Er führte zunächst zu einem deutlichen Rückgang mündlicher Gerichtsverhandlungen. Verfahrensverzögerungen sollten allerdings auf weitere Sicht nicht erfolgen. Aber Gerichtssäle sind nicht überall in entsprechender Größe vorhanden, um ausreichend Abstand zu halten. Das gilt vor allem für sitzungsintensive Gerichtsbarkeiten. Gleichwohl wurden Alternativen auf verschiedenen Ebenen gesucht, zum Beispiel durch
- das Abstandhalten mit Acryltrennwänden (wie in Verkaufslokalen) sowohl auf der Richterbank wie im Saal für die Verfahrensbeteiligten,
- die Anmietung von größeren Sälen oder
- die Sitzungsplanungen im Schichtsystem sowie
- gesetzgeberische Maßnahmen.
Nach den am 29. Mai 2020 in Kraft getretenen Neuregelungen zu § 211 SGG kann das Gericht es ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern in Fällen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an der mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilzunehmen, wenn es für ihn oder sie aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen. Weiter heißt es im Gesetzestext: „Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet.“
Diese Bedingungen gelten entsprechend für die Beratung und Abstimmung sowie für Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung per Videokonferenz. „Die an der Beratung und Abstimmung Teilnehmenden haben durch geeignete Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen; die getroffenen Maßnahmen sind zu protokollieren.“
Fakten und Zahlen zu den Ehrenamtlichen
Um zu beurteilen, wie sinnvoll und notwendig die beschriebene Gesetzesänderung ist, lohnt sich ein Blick auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise der ehrenamtlichen Richterschaft in der Sozialgerichtsbarkeit. Aufschluss darüber gibt eine repräsentative Befragung von ehrenamtlichen Sozialrichter/innen in Baden-Württemberg und Berlin aus dem Jahr 2018 vom Zentrum für Sozialforschung in Halle.
Die wichtigsten Ergebnisse im hier interessierenden Kontext sind:
- 70 Prozent der befragten Ehrenamtlichen sind zwischen 46 und 65 Jahre alt. Etwa jeder Fünfte ist älter als 65 Jahre.
- Knapp ein Drittel (32 Prozent) der ehrenamtlichen Richter/innen sind als Arbeitnehmer/innen beschäftigt. Der Anteil der Rentner/innen liegt bei 22 Prozent.
- Für die Arbeit der ehrenamtlichen Richter/innen in der ersten Instanz ist signifikant, dass sie Information über die zur Verhandlung anstehenden Fälle erst in der Vorberatung, die in der Regel kurz vor dem Termin stattfindet, oder gar erst während der Verhandlung erhalten. Wörtlich heißt es in der Studie: „Die ehrenamtlichen Richter an den untersuchten Sozialgerichten werden zum größten Teil (88 Prozent) durch die Vorsitzenden vor der Verhandlung über die anstehenden Fälle informiert. Mehr als ein Viertel (28 Prozent) werden während der Verhandlung durch die Vorsitzenden informiert. Jeder Fünfte informiert sich durch ein Aktenstudium am Sitzungstag vor der Verhandlung selbst; ein Aktenstudium vor dem Sitzungstag geben lediglich 8 Prozent der Befragten an. 5 Prozent erhalten die relevanten Informationen allein durch die Vorträge der Parteien bzw. deren Vertreter.“
- Die meisten befragten ehrenamtlichen Richter/innen (30 Prozent) haben einen Fachhochschulabschluss, gefolgt von 27 Prozent, die einen Hochschul- bzw. Universitätsabschluss haben. Knapp ein Viertel (24 Prozent) hat eine Lehre bzw. Facharbeiterausbildung absolviert, 11 Prozent besitzen einen Abschluss als Meister oder Techniker und 6 Prozent haben eine Fachschule abgeschlossen.
Worauf deuten diese Forschungsergebnisse hin?
Große Risikogruppe
Unter den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern in der Sozialgerichtsbarkeit gibt es allein schon wegen des Altersaufbaus eine große Anzahl einer leicht erkennbaren Risikogruppe – in diesem Fall der über 60-Jährigen. Darüber hinaus dürften auch behinderte Menschen bzw. solche mit Vorerkrankungen als ehrenamtliche Richter/innen tätig sein. Es ist deshalb zu erwarten, dass die Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus im Gerichtssaal oder bei der Beratung gerade bei geladenen ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern zu einer größeren Anzahl von Absagen führt.
Das spricht natürlich für Verhandlungen und Beratungen ohne persönliche Präsenz bzw. ohne Anreisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Andererseits wird in der Pandemie stärker das Auto benutzt. Außerdem sollen die erstinstanzlichen Sozialrichter/innen nach § 16 Abs. 6 SGG im Gerichtsbezirk wohnen oder arbeiten, sodass die Wege zum Gericht nicht allzu weit sein dürften.
Für Beschäftigte wird es bei der Wiederaufnahme oder Fortsetzung (bei sog. systemrelevanten Tätigkeiten) des Arbeitsalltages an der Arbeitsstätte wohl auch stärker wieder als „normale Belastung“ angesehen werden, mit anderen in einem Raum zusammen zu sein – aber mit Abstand und Hygienevorkehrungen. Ehrenamtliche Richter/innen, die einer oder mehreren sog. Risikogruppe(n) angehören, wie sie das Robert-Koch-Institut beschreibt, werden mit ihrem Arbeitgeber Regelungen treffen, wie und vor allem von wo aus sie weiterhin ihre Arbeitsleistung erbringen.
Dies könnte auch ein Indiz für das Gericht sein, aus dem sich ein persönlicher Verhinderungsgrund zur Teilnahme ableitet, auch wenn eine Erkrankung noch nicht eingetreten ist, sondern diese durch Nichtteilnahme verhindert werden soll. Nach § 6 SGG muss es sich dabei um „besondere Gründe“ handeln. Führt der/die ehrenamtliche Richter/in einen solchen Grund an, braucht das Gericht, sofern keine konkreten Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Verhalten vorliegen, nicht zu prüfen, ob ein Verhinderungsgrund tatsächlich vorliegt. Das stellte schon das Bundesverwaltungsgericht am 28. Februar 1984 fest (Az.: 9 C 136/82). Im Leitsatz dieses Urteils heißt es: „Erklärt sich ein zur Mitwirkung berufener ehrenamtlicher Richter unter Angabe eines Grundes für unvorhergesehen verhindert, so ist eine förmliche Feststellung des Verhinderungsgrundes durch das Gericht grundsätzlich nicht geboten; etwas anderes kommt dann in Betracht, wenn Anhaltspunkte für eine pflichtwidrige Entscheidung des ehrenamtlichen Richters bestehen.“
Hohe Inhaltliche Anforderungen
Die bisherige Praxis der Information von ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern über die zu entscheidenden Fälle bedeutet, dass von ihnen eine hohe Konzentration aufgebracht werden muss, um den jeweiligen Fall zu erfassen. Durch das Medium der Videokontaktierung wird das nicht erleichtert, sondern erschwert. Denn es wird noch eine weit höhere Konzentration pro Fall und zusätzlich – bei gleichbleibender Anzahl der zu verhandelnden Fälle – über den gleichen Zeitraum abverlangt.
Bertold Brücher hat in seinem Artikel „Videokonferenzen wirken anders“ im Titelthema dieses Monats deutlich gemacht, dass es erhebliche Unterschiede zwischen einer Präsenz- und Digitalsitzung bei den Gerichten gibt. Generell gilt, dass bei einer Sitzung per Video
- eine größere Konzentration erforderlich ist,
- eine – auch nonverbale – Interaktion untereinander eher weniger möglich ist,
- die Leitung stärker im Fokus steht; sie muss die Konferenz sorgfältiger vorbereiten als bisher, um zu Ergebnissen zu kommen und sie ist deshalb bestimmender,
- Diskussionen und Gespräche untereinander erschwert sind.
Das gilt sowohl für die Vorberatung, die Sitzung selbst und die Beratung mit Beschlussfassung. Bei Zeugenvernehmungen kommt es für die Glaubwürdigkeit auch auf eine persönliche Wahrnehmung an – diese kann bei Videokonferenzen nicht wirklich gut erfolgen.
Hinzu kommt, dass für viele Teilnehmenden diese Art der Kommunikation ungewohnt ist und daher zumindest anfangs oft die Aufmerksamkeit eher auf technische und organisatorische Fragen gerichtet ist als auf Fragen zu den Inhalten der Verhandlung.
Die unterschiedliche Ausstattung mit Kommunikationsmitteln im (Berufs-)Alltag dürfte sich in diesem Zusammenhang dann möglicherweise negativ auswirken, weil weniger Technikvertrautheit besteht oder Menschen dadurch ausgegrenzt werden.
Unzureichende Ausstattung der Gerichte mit Videotechnik
Die Umsetzung der Neuregelungen des § 211 SGG setzt voraus, dass die Sozialgerichte über eine entsprechende Videotechnik verfügen. Doch das ist nicht der Fall. Der Präsident des Bundessozialgerichts Prof. Rainer Schlegel stellte in seiner Stellungnahme zum Sozialschutz-Paket II eine „unzureichende Ausstattung der Instanzgerichte mit Videotechnik“ fest. Die Arbeits- und Sozialgerichte seien ebenso wie die Landesarbeits- und Landessozialgerichte der Länder „unterschiedlich gut bzw. unterschiedlich schlecht ausgestattet, sowohl räumlich wie auch im Hinblick auf internetbasiertes Arbeiten (Digitalisierung, IT-Ausstattung etc.)“. Die technischen Voraussetzungen für eine Videokonferenz im Sitzungssaal sei in den Ländern „bei Weitem noch nicht überall“ gegeben.
Telefon- und Videokonferenzen seien „zunehmend unangenehm, belastend und deutlich anstrengender als persönliche Treffen“, stellte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer kürzlich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest. Dass ein „echtes Verhandeln“ per Video nicht möglich ist, weil sich dort Entscheidungen nur auf die zentralsten Fragen beschränken, stellte sich auch beim Streit um das EU-Finanzierungspaket zum Wiederaufbau der Wirtschaft heraus. Dort wurden die Ergebnisse zunächst in einem mündlichen Verhandlungsprozedere der Finanzminister konturiert. Für die Staats- und Regierungschef der EU waren die so verhandelte Vorlagen unverzichtbar.
Zu den datenschutzrechtlichen Problemen hat Bertold Brücher im Titelthema dieses Monats bereits Stellung bezogen. Für ehrenamtliche Richter/innen ist eine Verhinderung eines Mitschnittes von ihrem Endgerät aus in der Regel nicht zu 100 Prozent sicherzustellen. Darüber hinaus müsste – um das Beratungsgeheimnis zu schützen – auch ein entsprechender Schallschutz vor Mithören oder Abhören gewährleistet sein. Zumindest Letzteres dürfte in den normalen Wohnräumen längst nicht immer gewährleistet sein.
Beratung per Telefonkonferenz?
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte am 14. April 2015 (Az.: 1 AZR 223/14) entschieden, dass eine Beratung des Senats unter bestimmten Bedingungen auch per Telefon erfolgen darf. Damit wird auch eine weitere Anreise der ehrenamtlichen Richter/innen vermieden. Dies ist dann möglich, wenn nach einer erfolgten mündlichen Verhandlung und Beratung noch ein Schriftsatz nachgereicht wird, der eine erneute Beratung des Senats erfordert. Voraussetzung für eine telefonische Beratung ist, dass alle beteiligten Richter mit dieser Verfahrensweise einverstanden sind und sichergestellt ist, dass jederzeit in eine mündliche Beratung im Beisein aller Richter eingetreten werden kann, falls ein Richter dies wünscht oder ein neuer Gesichtspunkt es erfordert.
Die Telefonkonferenz vermag die mündliche Beratung bei gleichzeitiger Anwesenheit aller beteiligten Richter allerdings nicht zu ersetzen. Sie kann nur neben diese treten, wie etwa bei der Beratung über einen nachträglich eingegangenen Schriftsatz. Die erstmalige Beratung als einzige Grundlage für die Entscheidung in der Hauptsache muss zwingend im Beisein sämtlicher beteiligter Richter stattfinden, wie der Bundesgerichtshof am 29. November 2013 (Az.: BLW 4/12 – Rn. 30, 33) ausgeführt hatte.
Ich habe selbst einmal als ehrenamtliche Richterin am BAG an einer solchen telefonischen Beratung teilgenommen. Vorteilhaft – und anders als bei den geplanten Videokonferenzen – besteht beim BAG die Regelung, dass die prozessleitenden Schriftsätze den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern zuvor zugeleitet werden. Da zuvor schon die mündliche Verhandlung und nachfolgend die Beratung stattgefunden hatten, waren die zu entscheidenden Fragen und die möglichen Kontroversen leichter wieder in Erinnerung zu rufen. Trotzdem war das Telefonat weitaus anstrengender als eine normale Beratung. Es waren fünf Personen beteiligt, die alle auch zu Wort kommen sollten, um alle Argumente auszutauschen. Das neue Vorbringen musste Punkt für Punkt bewertet werden. Eine echte Diskussion war nur eingeschränkt möglich. Die beteiligten Laienrichter/innen mussten gewährleisten, dass sie über ein abhörgesichertes Telefon verfügen, störungsfreie telefonieren konnten und sich keine weitere Person im Raum befand.
Zwar ist bei einer Videokonferenz möglicherweise mehr virtueller Kontakt möglich, die Gesprächsleitung ist aber hier sehr zentral und eine informelle und direkte Kommunikation fällt ebenfalls weg.
Umstrittene Forderung des BSG-Präsidenten zur Ausgrenzung von ehrenamtlichen Richtern
Zunächst war im Sozialschutz-Paket II auch je eine weitere Sonderregelung für das Bundesarbeits- und Bundessozialgericht vorgesehen: Auch ohne Zustimmung der beteiligten Parteien sollte den beiden Gerichten die Möglichkeit eingeräumt werden, ohne mündliche Verhandlung in Zeiten der Pandemie zu entscheiden. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat für diese Sonderregel aber keine Notwendigkeit gesehen, da die Räumlichkeiten in BAG und BSG ausreichend groß seien und eine entsprechende Planung der mündlichen Verhandlungen erfolgen könne.
Eine noch weitergehende Forderung von BSG-Präsident Prof. Rainer Schlegel zur Ausgrenzung von ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern wurde von der Politik löblicherweise nicht aufgegriffen. Sein Vorschlag in seiner Stellungnahme zum Sozialschutz-Paket II: In § 211 des Sozialgerichtsgesetz sollte folgender Absatz 5 angefügt werden: „Mit dem Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter treffen.“
Schlegels Begründung: In der Corona-Krise gehe es sowohl um den Gesundheitsschutz als auch die Verfahrensrechte der Beteiligten. Elementare Verfahrensrechte, wie das Recht auf eine mündliche Verhandlung, die Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung dürften nicht unangemessen eingeschränkt werden. Die uneingeschränkte Beachtung dieser Grundsätze könne in der Corona-Krise insbesondere zu Verzögerungen von Prozessen führen, wenn die Voraussetzungen ihrer Einhaltung erst geschaffen werden müssten (Herrichten von Sitzungssälen, Ausweichen auf andere Räumlichkeiten etc.). Vor allem aber – so Schlegel – verlange das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 effektiven Rechtsschutz. Dies beinhalte insbesondere auch ein Recht auf zeitnahen Rechtsschutz. Beide Aspekte (Gesundheitsschutz / Verfahrensrechte) seien in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Eine unangemessene Einschränkung des Rechts auf eine mündliche Verhandlung, die Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung zugunsten des Rechts auf eine zeitnahe Entscheidung liege nicht vor, wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung – wie dies in § 124 Abs. 2 SGG bereits jetzt vorgesehen sei – von der Zustimmung der Beteiligten abhängig gemacht werde.
„Ebenso wenig werden die Verfahrensrechte der Beteiligten in unangemessener Weise beeinträchtigt, wenn für die vorübergehende Zeit einer epidemischen Lage die Entscheidung nur von den Berufsrichtern ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter getroffen wird, sofern die Beteiligten auch hierzu im Voraus ihr ausdrückliches Einverständnis erklärt haben“, so der BSG-Präsident. Eine Verletzung des Gebots des gesetzlichen Richters sei darin nicht zu sehen. Entscheidungen durch den so genannten „konsentierten Einzelrichter“ seien in allen Verfahrensordnungen vorgesehen. Sie würden ihre Rechtfertigung in der Zustimmung der Beteiligten finden und würden auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen. Das gehe etwa aus dem Beschluss des BVerfG vom 5. Mai 1998 (Az.: 1 BvL 23/97) hervor. Verfassungsrechtlich sei es nur geboten, dass die Person des im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richters auf Grund allgemeiner Regeln im Voraus so eindeutig wie möglich feststeht; die Zahl der erkennenden Richter müsse nicht stets unverändert bleiben.
In dem von Schlegel zitierten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vom 5. Mai 1998 ging es in einer steuerrechtlichen Sache darum, ob die Entscheidung gemäß § 79 a Finanzgerichtsordnung (Entscheidung im vorbereitenden Verfahren) auch durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter jeweils allein getroffen werden kann, wenn die Beteiligten damit einverstanden sind. Der Vorschrift nach muss zudem eine Bestellung zum Einzelrichter durch eine Ermessensentscheidung erfolgen. Den Vorlagebeschluss an das BVerfG jedenfalls konnte der Einzelrichter nicht rechtmäßig allein treffen.
Die Entscheidung, als Einzelrichter entscheiden zu können, richtet sich nach den Zielen des Gesetzes (z.B. Entlastung der Gerichte, Straffung der Verfahren). Und das BVerfG schreibt in seinem Urteil vom Mai 1998 wörtlich: „Nur in besonderen, vom Gesetz aufgeführten Ausnahmefällen ist eine Entscheidung durch den Einzelrichter in der Prozessordnung vorgesehen. Dem liegt die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, dass richterlichen Entscheidungen eines Kollegiums eine höhere Richtigkeitsgewähr beizumessen ist.“
Bei der dem Fall zugrunde liegenden Frage handelte es sich nur um die Klärung der Entscheidungskompetenz von Berufsrichtern. Das ist aber in dem von Schlegel unterbreiteten Vorschlag gerade nicht der Fall. Es handelt sich hier um die Entscheidung ohne ehrenamtliche Richter/innen. Die Besonderheiten und der Auftrag der ehrenamtlichen Richter/innen in der Sozialgerichtsbarkeit, Fachwissen und Praxisnähe bei der Entscheidungsfindung einzubringen, werden dabei nicht berücksichtigt. Dies muss aber bei einer Bewertung des Vorschlags auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten beachtet werden – ganz zu schweigen von der Frage der Gleichbehandlung der ehrenamtlichen Richter/innen mit den Berufsrichtern.
Auch wenn es zwischen Berufs- und ehrenamtlichen Richter/innen eine partielle Aufgabenteilung gibt und der Berufsrichter als Vorsitzende/r und Vorbereiter/in der Verhandlung agiert, so sind ihm/ihr doch bisher von Gesetzeswegen nur der Erlass von Gerichtsbescheiden – einer bestimmten Qualität von Entscheidungsinhalten – gestattet, also eine am materiellen Gehalt der Streitsache orientierte Regelung. Zudem sind die Sozialgerichte in erster Instanz nur mit einem Berufsrichter besetzt; da sind dann „kollegiale Entscheidungen“ gar nicht mehr möglich – ganz zu schweigen von der Einbringung der den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern obliegenden Aspekten.
Fazit
Die neuen Sonderregelungen des SGG, wonach ehrenamtliche Richterinnen und Richter jetzt in der Pandemiezeit per Videokonferenz an Verhandlungen, Beratungen und Abstimmungen der Sozialgerichte teilnehmen können, sind nur in wenigen Ausnahmefällen sinnvoll und hilfreich – und nur dann, wenn die Betroffenen es ausdrücklich wünschen. Für Videokonferenzen fehlen vielfach die technischen Voraussetzungen – sowohl bei den Gerichten als auch bei den Laienrichterinnen und -richtern. Zudem sind gerade für die Ehrenamtler die Konzentrationsanforderungen bei solchen Konferenzen enorm hoch und die bestimmende Stellung der die Konferenzen leitenden Berufsrichter/innen wird so noch verstärkt. Weitergehende Ausgrenzungen von ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern sind im Sozialschutz-Paket II löblicherweise unterblieben.