„Es wurden Acryltrennscheiben für Richterbank und Sitzungstische angeschafft“

Der Direktor des Sozialgerichtes Kassel zum Gerichtsalltag in Corona-Zeiten

Vasco Knickrehm im Interview | Juli 2020

Vasco Knickrehm

Vasco Knickrehm ist Direktor des Sozialgerichts in Kassel

Vasco Knickrehm ist Direktor des Sozialgerichts in Kassel. Helga Nielebock von der Steuerungsgruppe des Netzwerkes Sozialrecht sprach mit ihm über den Alltag im Sozialgericht in Zeiten der Pandemie.

Herr Knickrehm, wie hat sich der Gerichtsalltag des Sozialgerichtes Kassel in der ersten Phase der Pandemie dargestellt?

Das Sozialgericht Kassel ist Teil des Fachgerichtszentrums Kassel, in dem auch noch der Verwaltungsgerichtshof des Landes Hessen und das Verwaltungsgericht Kassel ansässig sind. Wir haben erfreulicherweise keine Coronafälle gehabt und keine Zuspitzungen erfahren müssen. Wir haben fast normal gearbeitet, also keine Kurzarbeit gemacht. Wir hatten uns allerdings für den Fall umfassenderer Quarantänemaßnahmen gewappnet, indem wir vier Mitarbeiterinnen – je eine aus jeder der vier Serviceeinheiten – ins Homeoffice gesandt haben, um sicherzugehen, dass wir auch im Falle der Schließung von Teilen des Gerichts arbeitsfähig bleiben. Zwei Bereiche mussten wir vorübergehend stillgelegen: nämlich die Scanstelle und den Infopoint. Dort sind ausschließlich schwerbehinderte Menschen beschäftigt, die aufgrund ihres Lebensalters und von Vorerkrankungen zur Risikogruppe gehören. Zudem gab es einige Freistellungen aufgrund notwendiger Kinderbetreuungen.

Mussten Gerichtsverhandlungen abgesagt werden?

Die Kolleginnen und Kollegen im richterlichen Dienst sind technisch so ausgestattet, dass der Geschäftsbetrieb auch von zu Hause über eine VPN-Verbindung aus möglich war. Allerdings mussten die Sitzungstermine abgesagt werden, pro Kammer sind das in etwa zwei Sitzungen pro Monat. Wir haben allerdings in geeigneten Fällen Anhörungen zum Erlass von Gerichtsbescheiden durchgeführt, um zumindest diese Fälle, wenn auch ohne mündliche Verhandlung, entscheiden zu können. Kammertermine mit ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern wurden deshalb in diesen Fällen nicht mehr notwendig. Wir sind uns aber sehr bewusst, dass dies der absoluten Ausnahmesituation geschuldet war.

Lief ansonsten alles normal weiter?

Von den zwölf Richterinnen und Richtern arbeiten zehn bereits vollständig elektronisch. Die technische Abwicklung mit den Serviceeinheiten – gerade auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Homeoffice – klappte also hervorragend. Die Einführung der führenden elektronischen Akte wäre jetzt also praktisch bei uns möglich. Wir haben trotz dieser außergewöhnlichen Umstände keine Postrückstände. Im Gegenteil: Mich hat erstaunt, dass wir, obwohl der Postumlauf gefühlt zugenommen hat, trotzdem à jour geblieben sind. Hier gebührt allen Mitstreitern wirklich außerordentlicher Dank.

Wie geht es jetzt weiter? Wie wird bei Gericht gelockert?

Die Präsidentinnen und Präsidenten der Obergerichte und das Ministerium sind übereingekommen anzuregen, dass die Gerichte ab dem 11. Mai moderat anfahren, allerdings nicht mit der gleichen Anzahl und nicht mit dem gleichen Sitzungsrhythmus, um zunächst einmal auszutesten, was unter den Bedingungen der Corona-Krise und der Einhaltung von Hygienestandards möglich ist. Klar ist jetzt schon, dass die Termine in Kammerbesetzung nicht realisiert werden können, ohne dass es besondere Vorkehrungen gibt: Es wurden jetzt Acryltrennscheiben für die Richterbank, die Sitzungstische der Beteiligten und ihre Vertretungen sowie die Zeugentische angeschafft. Zwei weitere Personen des Sicherheitsdienstes wurden beauftragt, darauf zu achten, dass die Abstandsregeln in den Fluren eingehalten werden und die Anzahl der Zuhörerinnen und Zuhörer reguliert wird. Darüber hinaus übernehmen sie die Reinigung und Desinfizierung von Türgriffen, Stuhllehnen und Tischen.

Geht es also auch ohne Videokonferenzen?

Das werden wir austesten. Etwa 50 Prozent unserer ehrenamtlichen Richterinnen und Richter sind älter als 60 Jahre, manche zählen auch aus gesundheitlichen Gründen zur Risikogruppe. Sollte es zu viele Absagen von ehrenamtlichen Richtern geben, müssen wir zunächst vom Präsidium sicher an die Schaffung kammerübergreifender Listen für ehrenamtliche Richterinnen und Richter denken. Ob weitere Maßnahmen notwendig oder sinnvoll wären, wird sich in der Zukunft ergeben.

Eine Videokonferenz wäre technisch bei uns derzeit nicht oder nur mit großem technischen Aufwand möglich. Die Sitzungssäle sollen zwar mit moderner Sitzungssaaltechnik, also auch Videokonferenztechnik, ausgestattet werden. Aber die Ausstattung stockt seit eineinhalb Jahren, weil ein Verfahren zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Vergabe vor der Vergabekammer anhängig ist.

Die große Frage für mich ist aber auch die Verwendung einer Software, die sicher ist. Dass Gesundheitsdaten über amerikanische Server gehen, kann nicht sein. Und es geht auch nicht, dass das Beratungsgeheimnis nicht gewahrt werden kann. Sichere Videokonferenzanlagen gibt es in der Hessischen Justiz derzeit nur an 13 Gerichtsstandorten, viel zu wenige also, um selbst nur in der Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit einen flächendeckenden Betrieb zu gewährleisten. Hier wird das Justizministerium sicher dringend prüfen müssen, wie eine flächendeckende Ausstattung mit dieser Technik möglich ist.

Würden Sie eine Zeugenaussage per Video machen wollen?

Das Gericht muss das nach Ermessen entscheiden. Bei Zeugenaussagen ist der persönliche Eindruck zentral, um die Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Das spricht dann eher dagegen. Bei Verfahren, in denen vor der mündlichen Verhandlung der Sachverhalt geklärt ist oder aber Verfahren, in denen reine Rechtsfragen streitig sind, sehe ich das aber anders. Hier könnte der Einsatz von Videokonferenztechnik durchaus eine Möglichkeit sein. Das Gleiche gilt beispielsweise bei Streitigkeiten aus dem Bereich des Leistungserbringungsrechts.

Können die Beratungen des Gerichts während der Corona-Krise im Beratungszimmer stattfinden?

Mit Einschränkungen. Die Beratungszimmer sind teilweise recht klein. Als Alternative käme in Betracht, im Sitzungssaal zu beraten. Die Beteiligten müssten dann den Saal vorübergehend verlassen. Wir könnten notfalls auch zur Beratung in die hier vorhandenen drei Mediationsräume ausweichen.
Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch!

Helga Nielebock

Das Interview führte Helga Nielebock.
Sie ist ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.