Ein Blick auf die Geschichte der Arbeitsmarktpolitik und die „aktiven Leistungen“ des geplanten Bürgergeldes
Von Sabine Knickrehm | 4. November 2022
„Hartz IV“, „hartzen“, „ein Leben auf Hartz“…. alles eine inzwischen umgangssprachlich etablierte Wortwahl. Es gibt viele Klischees im Zusammenhang mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende: „Ausruhen auf staatlichen Leistungen“, „Sozialschmarotzertum“ oder „Armut pur“ – verbunden mit „kein Wintermantel, Dosenessen, kein Glückspiel, kein Alkohol und keine Schnittblumen?“ Nachfolgend soll ein etwas anderer Blick auf das SGB II geworfen werden – zunächst ein historisch-sozialpolitischer auf „Hartz IV“, es folgt eine rechtliche Einordnung des SGB II und schlussendlich wird gefragt werden, wo geht es hin mit Hartz IV und dem geplanten Bürgergeld?
Dabei wird hier der Fokus nicht gerichtet auf das, was in den Medien gängig transportiert wird – also die Anhebung des Regelsatzes, die Einführungen von Karenzzeiten im Hinblick auf die Kostensenkung bei Unterkunftsaufwendungen oder Freistellungen vom Vermögen. Dies alles betrifft die sogenannten „passiven Leistungen“, die Geldleistungen zur Existenzsicherung (siehe dazu den Beitrag von Judit Neumann in diesem Thema des Monats). Der folgende Beitrag befasst sich mit den „aktiven Leistungen“, also denen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt.
1. Historisch-sozialpolitischer Blick auf Hartz IV
1.1. Ausgangslage
Woher kommt dieser Name? 2002 wurde die sogenannte Hartz-Kommission von der damaligen rot-grünen Bundesregierung eingerichtet. Sie sollte Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik erarbeiten. Ihr Vorsitzender war Peter Hartz. Er war damals Personalvorstand und Mitglied des Vorstandes von VW. Die von der Kommission entwickelten Vorstellungen wurden später wesentlicher Teil der sogenannten Agenda 2010.
Was war die Ausgangslage? Sie war gekennzeichnet durch eine Arbeitsmarktkrise. Es waren massenhaft Arbeitsplätze zumindest in Gefahr. Die Zahl der Arbeitslosen stieg. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) forderte Deutschland auf, seine Beschäftigungsstrategie zu ändern und mehr für Arbeitslose zu tun. Die Forderung nach einem „Mehr an Hilfe“ beinhaltete die Annahme, mit den damaligen Hilfen könne die Krise nicht oder nicht hinreichend bewältigt werden – es seien andere Strategien erforderlich.
Bis dato war die strategische Idee der Arbeitsmarktpolitik, Erwerbslose in ein „Normalarbeitsverhältnis“ – hier verstanden als sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis – zurückzuführen oder ihren Verbleib in einem bestehenden Beschäftigungsverhältnis zu unterstützen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Arbeitsmarktpolitik:
1.2. Vom AVAVG zum AFG und SGB III
Die Arbeitsmarktpolitik der frühen Bundesrepublik knüpfte hinsichtlich Anlage, Zielstellung und Instrumentarien an die der Weimarer Republik an (siehe Prof. Josef Schmid in einem Beitrag für die Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“, hier, S. 3 f.).
Mit dem 1927 verabschiedeten Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) wurde das für den Bereich der Beschäftigungsrisiken bis dahin geltende Fürsorgeprinzip, das die Arbeitslosen der gemeindlichen Armenfürsorge überantwortete, erstmals durch das Versicherungsprinzip abgelöst. Zum Fürsorgeprinzip sind wir schließlich später durch das SGB II für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen und ihre Familienangehörigen zurückgekehrt.
Nach der wirtschaftlichen Wachstumsphase der Nachkriegszeit, die mit einem kontinuierlichen Sinken der Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik (von 10,4 % 1950 auf 0,7 % 1962) einherging, folgte der „erste“ Wachstumseinbruch im Herbst 1966. Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit schien jedoch trotz der Krise damals nicht vorstellbar. Die Arbeitslosenquote stieg zwar 1967 auf 2,1 %, sie sank dann aber bis 1969 auf 0,8 %. Dies prägte die Neuregelungen des 1969 in Kraft getretenen Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Das AFG folgte dem Konzept der aktiven Arbeitsmarktpolitik (ausführlich dazu Georg Altmann in seinem Buch „Aktive Arbeitsmarktpolitik“).
Sie sollte es ermöglichen, Strukturkrisen zu vermeiden und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Dahinter stand die Überzeugung, die Allokationsprozesse auf dem Arbeitsmarkt durch vorausschauende anstatt bloß reagierende Politik optimieren zu können. Die Allokation beschreibt sowohl den Prozess, wie Ressourcen optimal genutzt und zugeordnet werden, als auch den jeweiligen Zustand. Außerdem wird die Allokation meist durch Märkte gesteuert, die zum einen anpassungsfähig und zum anderen flexibel sind.
Die Situation am Arbeitsmarkt änderte sich 1975. Die Arbeitslosenzahlen stiegen und von da an – mit gewissen Schwankungen – betrug der Anteil des Arbeitslosengeldes, also die originäre reagierende Leistung, an dem Leistungsvolumen der damaligen Bundesanstalt für Arbeit (BA) um die 40 %. Auch der Anteil der von der Bedürftigkeit abhängigen Leistung – der Arbeitslosenhilfe aus der Arbeitslosenversicherung –, die zumeist im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld (Alg) erbracht wurde, stieg stark an. Im Jahr 2002 hatte er sich seit 1990 nahezu vervierfacht (siehe hier, S. 1).
Die äußerliche Wende in der Arbeitsmarktpolitik vollzog sich mit dem Übergang des AFG ins SGB III 1997/1998 (eingeordnet durch Artikel 1 des Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung vom 24. März 1997.
Die Idee der Steuerung der Prozesse auf dem Arbeitsmarkt geriet aus dem Fokus und in den Mittelpunkt rückte die Arbeitsvermittlung des Einzelnen, deren Bedeutung im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik von nun an immer mehr zunehmen sollte.
1.3. Weiterentwicklung des SGB III und Einführung der Hartz-Gesetze
Die Hartz-Kommission hat zahlreiche Gesetzesänderungen vorgeschlagen. Dazu zählten vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Das 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (auch als „Hartz IV“ bezeichnet), mit dem das SGB II eingeführt wurde, ist nur eines davon. Die Änderungen des SGB III durch die „Hartz-Gesetze“ haben dann die Anforderungen an die „Anpassungsbereitschaft“ und Mitwirkung der Erwerbslosen im Vermittlungsprozess erhöht. Sie mussten sich nun fördern lassen, wurden zur aktiven Beteiligung an einer Steigerung ihrer Beschäftigungsfähigkeit aufgefordert, allerdings immer noch orientiert am Ziel der Integration in ein Normalarbeitsverhältnis.
1.4. Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
Aber für die „arbeitsmarktfernen Betreuungskunden“ (Langzeitarbeitslose) sollte von nun an nicht mehr die Integration in das Normalarbeitsverhältnis gelten, sondern eine Art „workfare“ als Ausprägung des sogenannten aktivierenden Sozialstaats. In die Arbeitsmarktpolitik des SGB II übersetzt bedeutet dies, dass das staatliche Steuerungsverhalten beschränkt ist auf die Initiierung und Anleitung zur eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung durch das Individuum.
Was aber passiert, wenn der zu aktivierende Part sich nicht in dem Sinne aktivieren lässt? Die Antwort ist „Fordern“. Das Fordern brachte die Erweiterung der Sanktionsmöglichkeiten bei mangelnder Aktivität mit sich und senkte die sog. Zumutbarkeitsgrenze ab.
1.5. Das SGB II
Bundestag und Bundesrat beschlossen – wie schon erwähnt – als rechtliche Umsetzung der dargelegten Arbeitsmarktpolitik das SGB II. Dabei wurden die Arbeitslosenhilfe des SGB III und die Sozialhilfe des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in einem Gesetz zusammengeführt. Nur Erwerbsunfähige sollten weiterhin Sozialhilfeleistungen – nun nach dem ebenfalls neu geschaffenen SGB XII – erhalten, also ohne Forderung nach Beseitigung oder zumindest Minderung des Hilfebedarfs durch Erzielung von Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit. Allerdings wurden und werden Erwerbsunfähige nur dann dem neuen SGB XII zugeordnet, wenn sie nicht mit einem erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. In letztem Fall waren und sind sie – wenn auch nur eingeschränkt – dem Regime des SGB II unterworfen.
Auf die Änderungen bei den „passiven Leistungen“ durch das SGB II, also den Geldleistungen zur Existenzsicherung, soll hier nicht näher eingegangen werden. Stichworte insoweit sind die Einführung der Institution der Bedarfsgemeinschaft, die alle dem SGB II unterworfenen in eine Gemeinschaft bringt, die Einkommen und Vermögen teilt und Leistungen vermittelt. Eingeführt wurden ferner neue Regelungen zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen, für Unterkunftsbedarfe und auch die Regelsatzbemessung wurde anders strukturiert. Die institutionell/-organisatorische Ausgestaltung der Leistungsträger wurde ebenfalls „neu erfunden“.
2. Rechtliche Einordnung des SGB II
Das SGB II – die Grundsicherung für Arbeitsuchende – führte eine Sozialversicherungs- mit einer Fürsorgeleistung zusammen in ein neues System für die Existenzsicherung bei „Nichterwerbstätigkeit“ oder „das Existenzminimum nicht sichernder Erwerbstätigkeit“. Das SGB II differenziert dabei zwischen den schon erwähnten passiven Leistungen – Arbeitslosengeld (Alg) II und Sozialgeld (Letzteres für die erwerbsunfähigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft) – und den aktiven Leistungen. Letztere sind arbeitsmarktpolitische Leistungen, sogenannte Eingliederungsleistungen – gemeint ist die Eingliederung in Arbeit.
Für die „aktiven Leistungen“ gilt das Fördern und Fordern. Sie sind eng miteinander verknüpft. Gefördert wird nach dem Inkrafttreten des SGB II durch Eingliederungsleistungen. Sie sollten bisher mindestens zur Verringerung des Leistungsumfangs der passiven Leistung beitragen. Viel weiter ging es zumeist auch nicht. Dies ist der sogenannte Vermittlungsvorrang, der keine Rücksicht darauf nimmt, ob die Eingliederungsleistung „nachhaltig“ ist, also auch in Zukunft eine Grundlage dafür bilden kann, unabhängig vom Alg II leben zu können.
Um die Annahme und Umsetzung des Förderangebots durchsetzen zu können, wurde das „Fordern“ gesetzlich implementiert. Dies bedeutet: Die Leistungsberechtigten haben entsprechend der Idee der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ an dem „Fördern“ mitzuwirken, sprich die angebotene Maßnahme zu besuchen, die erwartete Menge an Bewerbungen zu schreiben oder eine angebotene Arbeitsstelle anzunehmen. All dies wurde in einer sogenannten Eingliederungsvereinbarung – für beide Seiten verbindlich – festgelegt. Bei mangelnder Mitwirkung der Leistungsberechtigten konnten sie sanktioniert werden, also ggf. die passive Leistung bis zu drei Monaten vollständig, also zu 100 % des Regelbedarfs, zu 60 %, zu 30 % oder weniger gemindert werden.
Was ändert sich mit der „Bürgergeldreform“ daran? Es folgt der Blick in die mögliche Zukunft – es soll einiges davon „über Bord geworfen“ werden. Was also ist geplant?
3. Ausblick: Was ist mit dem Bürgergeld-Gesetz geplant?
Dem Bundesrat lag Anfang Oktober 2022 die BR-Drs. 456/22 zur Beratung und Abstimmung vor, mit dem Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes. Es gab zahlreiche Vorschläge der Bundesrats-Ausschüsse zur Änderung des Regierungsentwurfs (siehe BR-Drs. 456/1/22).
Letztere sahen Änderungen sowohl bei den passiven als auch den aktiven Leistungen vor. Soweit die Änderungen die aktiven Leistungen betreffen, basieren sie auf einer deutlichen Abkehr von der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ der Anfang 2000er-Jahre.
3.1. Kooperationsplan
An die Stelle der soeben erwähnten Eingliederungsvereinbarung im SGB II soll nach dem Regierungsentwurf zur Änderung des SGB II der „Kooperationsplan“ treten. Die Bedingungen der Eingliederung sollen damit nicht mehr im Wesentlichen einseitig durch den Leistungsträger bestimmt werden, sondern durch einen von Leistungsberechtigen und Integrationsfachkräften gemeinsam erarbeiteten Plan, einer Eingliederungsstrategie. Dieser Plan soll zunächst nicht mit dem rechtlich verpflichtenden Gebot der Mitwirkung der Leistungsberechtigten verknüpft sein. Der Planerstellung folgt daher zunächst eine sechsmonatige Vertrauenszeit. Den Leistungsberechtigten wird für diese Zeit garantiert, dass keine Anordnungen von Maßnahmen mit Rechtsfolgenbelehrung ergehen. Das bedeutet: Für den Fall der Nichtbefolgung der Vereinbarungen werden keine Minderungen der passiven Leistungen angekündigt. Letztere sind – dies ist entscheidend – in der sechsmonatigen Vertrauenszeit ausgeschlossen.
An die Vertrauenszeit schließt sich alsdann die sogenannte Kooperationszeit an. Hier wird es dann ernst, wenn die abgesprochenen Mitwirkungshandlungen der Leistungsberechtigten unterbleiben, also etwa Eigenbemühungen, Maßnahmeteilnahmen oder Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge nicht erfolgen. Diese Pflichten sollen dann durch Aufforderungen mit Rechtsfolgenbelehrungen rechtlich verbindlich festgelegt werden.
Eine Ausnahme von der mit rechtlichen Folgen versehenen Mitwirkungsverpflichtung soll es allerdings im Hinblick auf Einladungen zu Beratungsterminen schon in der Vertrauenszeit geben. Das Gespräch wird als Grundlage für die Kooperation angesehen und eine versäumte Teilnahme durch die Leistungsberechtigten soll im Wiederholungsfall (ab dem 2. Mal) mit der Rechtsfolge einer Sanktionsandrohung in der Gestalt der Minderung der passiven Leistung verbunden werden können. Grundsätzlich wird aber von der Idee her Wert auf die Formlosigkeit der Kommunikation gelegt, um sich von der „workfare“-Tendenz des Regimes des SGB II zu entfernen. Für Konfliktfälle im Zusammenhang mit der Erarbeitung, Durchführung und Fortschreibung des Kooperationsplans soll in diesem Sinne ein unabhängiger Schlichtungsmechanismus geschaffen werden.
3.2 Abschaffung des Vermittlungsvorrangs
Bedeutendste Leitplanke bei der Abkehr vom „workfare“ ist die weitestgehende Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Wie eingangs dargelegt, bringt das mit sich, dass nicht mehr allein die Reduzierung der passiven Leistungen Triebfeder für das Angebot von Eingliederungsmaßnahmen, Vereinbarung von Mitwirkungshandlungen der Leistungsberechtigten und Arbeitsangebote wäre. Es soll eine gewisse „Nachhaltigkeit“ in das Angebot aktiver Leistungen einziehen. Dies drückt sich aus in der Verbesserung der Anreize und Möglichkeiten für Weiterbildung sowie der Steigerung der Bedeutung der Dauerhaftigkeit der Eingliederung in Arbeit auch bei der Auswahl der Leistungen zur Eingliederung im SGB II.
Ziel ist es, kurzfristige Beschäftigungen zu vermeiden und etwa Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung zu unterstützen. Dahinter steht die Idee, ihnen damit den Zugang zum Fachkräftearbeitsmarkt und zu den am Arbeitsmarkt besonders nachgefragten Berufen zu öffnen. Weitere monetäre Anreize und insbesondere eine Verlängerung der geförderten Weiterbildung auf drei anstatt zwei Jahre sind ebenfalls im Regierungsentwurf vorgesehen (siehe dazu auch den Beitrag von Benjamin Schmidt in diesem Thema des Monats).
Eine neu geplante Leistung soll hier nicht vorenthalten werden: Für die Teilnahme an Maßnahmen, die für eine nachhaltige Integration von besonderer Bedeutung sind, soll im SGB II ein Bürgergeldbonus in Höhe von monatlich 75 Euro eingeführt werden.
3.3. Ganzheitliche Betreuung
Um diese Ziele zu erreichen, soll eine ganzheitliche Betreuung der Leistungsberechtigen durch die Agentur für Arbeit oder durch diese beauftragte Dritte erfolgen – ein sogenanntes Coaching. Es setzt letztlich dort an, wo das zentrale Problem bei der Integration Langzeitarbeitsloser in den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsmarkt liegt: beim grundlegenden Aufbau der Beschäftigungsfähigkeit und der Berücksichtigung ihrer oft vielfältigen individuellen Probleme, die zu besonderen Schwierigkeiten bei der Aufnahme von Arbeit führen.
3.4. Anpassung der Sanktionierung an die Anforderungen des BVerfG
Die Nichtbefolgung von Mitwirkungspflichten aufgrund einer Kooperationsvereinbarung oder das Versäumen von Gesprächsaufforderungen soll vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 (Az.: 1 BvL 7/16, siehe dazu auch hier) nun endlich – es sind seitdem immerhin drei Jahre vergangen – auf neue „Füße“ gestellt werden. Das BVerfG hatte schlussendlich grob zusammengefasst befunden:
- eine Sanktion von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs ist grundsätzlich verfassungsgemäß und kann einer Mitwirkungspflichtverletzung weiterhin folgen;
- die Sanktion in dieser Höhe muss allerdings verhältnismäßig sein, d.h. sie muss eine Verringerung des Umfangs und eine Verkürzung des Minderungszeitraums im Fall einer außergewöhnlichen Härte ermöglichen, der bisherige wichtige Grund zur Rechtfertigung der Mitwirkungspflichtverletzung des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II wurde insoweit als nicht ausreichend erkannt;
- Sanktionen von mehr als 30 % des maßgebenden Regelbedarfs oder das vollständige Entfallen des Zahlungsanspruch auf Alg II sind nach dem Urteil des BVerfG – Gesetzesfassung 2019 – verfassungswidrig.
Nach dem Regierungsentwurf zum Bürgergeldgesetz
- sollen Leistungsminderungen wegen wiederholter Pflichtverletzungen und Meldeversäumnisse höchstens 30 % des maßgebenden monatlichen Regelbedarfs betragen, ohne die Einbeziehung der Kosten der Unterkunft und Heizung;
- soll es weiterhin ein gestaffeltes Minderungssystem bei wiederholten Pflichtverletzungen geben, allerdings mit der Obergrenze von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs;
- soll die Berücksichtigung einer außergewöhnlichen Härte im Einzelfall und eine Aufhebung der laufenden Leistungsminderungen bei nachträglicher Erklärung, den Pflichten nachzukommen, eingeführt werden;
- sollen die Sonderregelungen für die unter 25-jährigen Hilfeempfänger:innen entfallen.
4. Fazit
Die Wende in der Arbeitsmarktpolitik, die durch das „Bürgergeldgesetz“ normiert werden soll, ist keine Rückkehr zur „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ des AFG. Aber sie nimmt der bisherigen „workfare“-Tendenz des SGB II weiter ihre Schärfe. Der „Fall“ des Vermittlungsvorrangs und die allerdings vom BVerfG aufgezwungene Änderung des Forderns durch Sanktionen sind insoweit wesentliche Instrumente. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch einzelne Maßnahmen ausgebaut oder entfristet werden sollen, insbesondere zur Eingliederung von Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen.