Sozialstaat und Charity aus sozialrechtlicher Sicht

von Tobias Mushoff | 11.10.2023

Der deutsche Sozialstaat ist bei seiner Verwirklichung in einem hohen Maße auf die Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure angewiesen. Seit jeher stehen Kirchen, Wohlfahrtsverbände und andere Mitglieder der Zivilgesellschaft Menschen in sozialen Notlagen helfend zur Seite. Dabei sehen sich einige von ihnen mit unterschiedlichen Rollen – einerseits mit derjenigen als Interessenvertreter und Unterstützer sozial benachteiligter Menschen und andererseits als Leistungserbringer für die Sozialleistungsträger – konfrontiert. Anlass genug, sich mit dem Verhältnis von Sozialstaat, freier Wohlfahrtspflege und Wohltätigkeit oder auch Charity zu befassen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist, wie Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) herausstellt, ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Der Umstand, dass das GG das Soziale damit beim Staat verortet und dieses zu einem tragenden Prinzip unserer Verfassung erklärt, kann dabei aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der deutsche Sozialstaat bei seiner Verwirklichung in einem hohen Maße auf die Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure angewiesen ist. Dies hat sich erst jüngst nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine eindrucksvoll gezeigt, als es innerhalb von kurzer Zeit nicht nur galt, für die Unterkunft und Verpflegung von mehr als einer Millionen Kriegsflüchtlinge – vorwiegend Mütter und ihre minderjährigen Kinder – zu sorgen, sondern auch angemessene Bildungsangebote zu schaffen. Wie ist das rechtliche Verhältnis von Sozialstaat, freier Wohlfahrtspflege und Charity?

1. Freie Wohlfahrtspflege

Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis der unterschiedlichen Rollen der nichtstaatlichen Akteure ist der Begriff der freien Wohlfahrtspflege. Worum es sich hierbei handelt, wird im Sozialgesetzbuch (SGB) selbst nicht definiert, kann jedoch auch für das Sozialrecht aus § 66 Abs. 2 Abgabenordnung abgeleitet werden. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist für die freie Wohlfahrtspflege kennzeichnend eine planmäßige, ohne Gewinnerzielungsabsicht und zum Wohle der Allgemeinheit neben dem Staat und öffentlichen Trägern ausgeübte unmittelbare vorbeugende oder abhelfende Betreuung und/oder Hilfeleistung für gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdete, notleidende oder sonst sozial benachteiligte Personen, die auch über die Ziele einer bloßen Selbsthilfeorganisation hinausgeht. Die freie Wohlfahrtspflege unterstützt insoweit die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende und Sozialhilfe durch private Organisationen bei ihren Aufgaben nach dem SGB II und SGB XII angemessen, ist in der Gestaltung ihrer Arbeit aber völlig frei (BSG-Urteil vom 03.07.2020 – B 8 SO 27/18 R, Rn. 18 und BSG-Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 3/20 R, Rn. 17).

Zu den Trägern der freien Wohlfahrtspflege gehören etwa die Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände (Arbeiterwohlfahrt – AWO, Caritasverband, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland), Vereine wie die Tafeln, nichtrechtsfähige Vereine (z. B. Parteien) und ihrer Unterorganisationen (z. B. Stiftungen) sowie sonstige private Stiftungen und Interessenverbände.

2. Zusammenarbeit von Sozialleistungsträgern und freier Wohlfahrtspflege

Dabei versteht es sich eigentlich von selbst, dass die Sozialleistungsträger und die Träger der freien Wohlfahrtspflege einander nicht Konkurrenz machen, sondern – wie § 17 Abs. 3 Satz 1 SGB I klarstellt – zum Wohle der Empfängerinnen und Empfänger von Sozialleistungen so zusammenarbeiten sollen, dass sie sich wirksam ergänzen. Die Sozialleistungsträger haben die Selbstständigkeit der Träger der freien Wohlfahrtspflege in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben zu achten (§ 17 Abs. 3 Satz 2 SGB I; § 5 Abs. 2 SGB XII) und sollen diese in ihrer Tätigkeit auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuche bzw. Sozialhilfe angemessen unterstützen (§ 17 Abs. 1 Satz 2 SGB II; 5 Abs. 3 Satz 2 SGB XII). Wird eine Leistung im Einzelfall durch die freie Wohlfahrtspflege erbracht, sollen die Träger der Sozialhilfe nach dem in § 5 Abs. 4 Satz 1 SGB XII normierten Subsidiaritätsgrundsatz von der Durchführung eigener Maßnahmen absehen. § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB II enthält für die Grundsicherung für Arbeitsuchende eine vergleichbare Regelung.

3. Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums als staatliche Verpflichtung

Allerdings hebt § 5 Abs. 4 Satz 2 SGB XII zur Konturierung des Verhältnisses der Träger existenzsichernder Sozialleistungen zur freien Wohlfahrtspflege für das Sozialhilferecht hervor, dass der Grundsatz der Subsidiarität staatlicher Leistungen nicht für die Erbringung von Geldleistungen gilt. Damit übereinstimmend kommt eine Leistungserbringung durch Dritte im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, wie im Umkehrschluss aus § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB II abgeleitet werden kann, hinsichtlich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§§ 19 ff. SGB II) nicht in Betracht. Das durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG garantierte menschenwürdige Existenzminimum der Leistungsberechtigten haben die Sozialleistungsträger selbst sicherzustellen. Seine Höhe ist vom Gesetzgeber zu bestimmen, dem bei der Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen ein Gestaltungsspielraum zusteht. Er hat zur Ermittlung des Anspruchsumfangs alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen. Dabei ist es ihm gestattet, den typischen Bedarf zur Sicherung des Existenzminimums durch Festbeträge zu decken. Etwaigen Mehrbedarfen ist Rechnung zu tragen (vgl. dazu eingehend den Beitrag von Sabine Knickrehm, Regel- und Mehrbedarfe nach dem SGB II). Migrationspolitische Erwägungen, Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (BVerfG-Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – „Sonderbedarfsstufe im Asylbewerberleistungsrecht“, Rn. 56).

4. Wohlfahrtsverbände als Leistungserbringer

Neben ihrer Rolle als Träger der freien Wohlfahrtspflege können Wohlfahrtsverbände für die Sozialleistungsträger auch als Leistungserbringer tätig werden. Dies ist sowohl im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 17 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB II) als auch im Bereich der Sozialhilfe (§§ 75 ff. SGB XII) vorgesehen. So sollen nach § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB II zur Erbringung von Leistungen zur Eingliederung in Arbeit die zuständigen Leistungsträger eigene Einrichtungen und Dienste nicht neu schaffen, soweit geeignete Angebote Dritter vorhanden sind. Zu den in Betracht kommenden Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gehören etwa nach § 16a Nr. 2 SGB II Leistungen der Schuldnerberatung, die häufig von Wohlfahrtsverbänden für die SGB-II-Leistungsträger angeboten werden. Die Gewährleistungsverantwortung für die entsprechenden Leistungen verbleibt beim Sozialleistungsträger. Dieser trägt damit die Verantwortung dafür, dass in seinem Zuständigkeitsbereich eine leistungsfähige Versorgungsinfrastruktur vorgehalten wird (BSG-Urteil vom 10.08.2016 – B 14 AS 23/15 R, Rn 14).

Der Sozialleistungsträger hat die erbrachten Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zudem gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 SGB II – vorbehaltlich abweichender Vorgaben im SGB III – nur zu vergüten, wenn eine Vereinbarung mit dem Leistungserbringer oder seinem Verband u. a. über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen sowie deren Vergütung besteht. Die Leistungserbringer sind auf Grund dieser öffentlich-rechtlichen Vereinbarungen in vielfältiger Hinsicht rechtlich gebunden. Es fehlt damit die Möglichkeit der freien Gestaltung von Aufgaben im Sinne der obigen Begriffsbestimmung der freien Wohlfahrtspflege mit der Folge, dass die besonderen Regelungen im Existenzsicherungsrecht für die Träger der freien Wohlfahrtspflege keine Anwendung finden (BSG-Urteil vom 03.07.2020 – B 8 SO 27/18 R, Rn. 19).

5. Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege

Zu diesen für die freie Wohlfahrtspflege und ihre Leistungen geltenden besonderen Regelungen gehören u. a. der § 11a Abs. 4 SGB II und der inhaltsgleiche § 84 Abs. 1 SGB XII. Danach sind Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit sie die Lage der Empfängerinnen und Empfänger nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Sozialleistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII nicht gerechtfertigt wären. Solche Zuwendungen werden in Ergänzung zu den Leistungen der Existenzsicherung zum Wohle des Leistungsberechtigten und nicht als Gegenleistung im Zusammenhang mit einem Austauschvertrag im Sinne einer synallagmatischen Verknüpfung gegenseitiger Verpflichtungen – etwa einem Arbeitsvertrag – erbracht. Beide Regelungen gehen von dem Grundsatz der Nichtberücksichtigung von Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege aus, weil diese Zuwendungen unabhängig von staatlichen Leistungen gerade zu dem Zweck erbracht werden, die Lage der Leistungsberechtigten zu verbessern und die öffentlichen Träger nicht auf Kosten der freien Wohlfahrtspflege zu entlasten.

Andererseits ist wegen des zeitgleichen Bezugs staatlich finanzierter Sozialleistungen eine „Gerechtfertigkeitsprüfung“ vorzunehmen. Bei dieser sind Wert, Umfang und Häufigkeit der Zuwendungen unter Beachtung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Auch die Anrechnung nur eines Teils der Zuwendung als Einkommen kann sich im Rahmen der gebotenen Abwägungsentscheidung als gerechtfertigt herausstellen.

Erhält etwa ein erwerbsfähiger SGB-II-Bezieher mit einer längerfristigen Tätigkeit in einem Zuverdienstprojekt eines Trägers der freien Wohlfahrtspflege regelmäßige „Motivationszuwendungen“, sind diese unter Berücksichtigung der für Erwerbseinkommen geltenden Maßstäbe von der Einkommensanrechnung auszunehmen (BSG-Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 3/20 R).

Bei den Lebensmittelzuwendungen der Tafeln verbleibt es beim Grundsatz, dass diese im Rahmen der Bewilligung existenzsichernder Leistungen vollständig unberücksichtigt bleiben.

6. Zum Schluss

Die praktische Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege hat in der letzten Zeit insbesondere vor dem Hintergrund des dauerhaften Anstiegs der Inflation noch zugenommen. Derzeit nehmen nach Angaben des Tafeln Deutschland e. V. 1,6 bis 2 Millionen Menschen Leistungen der Tafeln in Anspruch (vgl. hier).

Gleichzeitig gehen die Lebensmittelspenden zurück. Inzwischen sind viele Tafeln so stark überlastet, dass ein Drittel von ihnen einen Aufnahmestopp verhängen musste. Einer Studie von Markus Grabka und Jürgen Schupp für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) (siehe hier) kann entnommen werden, dass im Jahr 2020 rund 25 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer der Tafeln Kinder gewesen sind. Viele Erwachsene, die die Hilfe der Tafeln in Anspruch nehmen, sind gesundheitlich beeinträchtigt. Die zeitnahe Dynamisierung bestehender existenzsichernder Sozialleistungen (s. dazu auch den Beitrag von Hans Nakielski: (Fehlende) Dynamisierung von Sozialleistungen: Das Beispiel Pflegegeld und die Flankierung des heutigen Sozialleistungssystems um eine vor Armut hinreichend schützende Kindergrundsicherung (s. dazu Björn Harich: Die geplante Kindergrundsicherung – eine erste Einordnung) haben daher eine erhebliche sozialpolitische Bedeutung.

Dr. Tobias Mushoff

ist Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen