(Fehlende) Dynamisierung von Sozialleistungen:
Das Beispiel Pflegegeld

von Hans Nakielski | 02.05.2023

Eine Möglichkeit, um Sozialleistungen an die Preissteigerungen anzupassen und damit einen Wertverlust zu verhindern, ist die regelmäßige Dynamisierung. In einigen Bereichen ist eine solche Dynamisierung per Gesetz vorgeschrieben: zum Beispiel bei den Leistungen der Pflegeversicherung. Doch wenn die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsanpassung nicht konsequent umgesetzt werden, nützen sie den Betroffenen wenig, wie im Folgenden am Beispiel des Pflegegeldes gezeigt wird.

Das Pflegegeld ist die mit Abstand am meisten beanspruchte Leistung der Pflegeversicherung. Es erhalten zu Hause lebende Pflegebedürftige, die (ausschließlich) von Angehörigen oder Bekannten versorgt werden. Knapp 5 Millionen Pflegebedürftige wurden nach der letzten Statistik vom Dezember 2021 registriert. Etwa fünf von sechs von ihnen (4,2 Mio.) leben zu Hause. Davon erhielten 2,55 Millionen pflegebedürftige Menschen ausschließlich Pflegegeld (siehe hier).

Als die soziale Pflegeversicherung 1995 als fünfte Säule des deutschen Sozialversicherungssystems eingeführt wurde, betrug das Pflegegeld in Pflegestufe I gerade 400 DM, in Stufe II gab es 800 DM und in Stufe III 1.300 DM.

An der Höhe dieser Werte hatte sich dann 13 Jahre lang nichts mehr verändert, was zu massiven Realwertverlusten geführt hat. Lediglich die DM-Beträge waren 2002 in Euro umgewandelt worden. Folglich gab es seitdem in Stufe I 205 Euro, in Stufe II 410 Euro und in Stufe III 665 Euro.

Erste Anpassung nach 13 Jahren

Erst mit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetztes im Jahr 2008 erfolgte erstmals eine Anhebung der Pflegeleistungen. Zum 1. Juli 2008 wurde das Pflegegeld in allen drei Stufen gerade einmal um 10 Euro angehoben. Zum 1. Januar 2010 und zum 1. Januar 2012 erfolgten dann weitere Anhebungen um jeweils 10 Euro in allen Pflegestufen. Ab Januar 2012 betrug damit das Pflegegeld in Pflegestufe I 235 Euro, in Stufe II 440 Euro und in Stufe III 700 Euro.

Ab 2015 sollten diese willkürlichen schrittweisen Leistungsanpassungen dann durch regelmäßige Dynamisierungen, die sich an der Preisentwicklung orientieren, abgelöst werden. Denn durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz war auch ein neu formulierter § 30 ins  Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) eingeführt worden. Er trug die Überschrift „Dynamisierung“. Im Wortlaut hieß es:

„Die Bundesregierung prüft alle drei Jahre, erstmals im Jahre 2014, Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung. Als Orientierungswert für die Anpassungsnotwendigkeit dient die kumulierte Preisentwicklung in den letzten drei abgeschlossenen Kalenderjahren; dabei ist sicherzustellen, dass der Anstieg der Leistungsbeträge nicht höher ausfällt als die Bruttolohnentwicklung im gleichen Zeitraum. Bei der Prüfung können die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt werden. Die Bundesregierung legt den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes einen Bericht über das Ergebnis der Prüfung und die tragenden Gründe vor. Die Bundesregierung wird ermächtigt, nach Vorlage des Berichts unter Berücksichtigung etwaiger Stellungnahmen der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes die Höhe der Leistungen der Pflegeversicherung sowie die in § 37 Abs. 3 festgelegten Vergütungen durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zum 1. Januar des Folgejahres anzupassen. Die Rechtsverordnung soll frühestens zwei Monate nach Vorlage des Berichts erlassen werden, um den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.“

Mit dieser neuen Regelung werde endlich dem Wertverlust der Leistungen in der  Pflegeversicherung ein Ende gemacht, hofften viele Betroffenen und Akteure in der Pflegebranche. Schließlich hatte der Gesetzgeber eindeutig in der Gesetzesbegründung formuliert: „Mit der Neufassung der Regelung über die Dynamisierung aller Leistungen der Pflegeversicherung soll erreicht werden, dass die Kaufkraft der Versicherungsleistungen im Interesse der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen langfristig erhalten bleibt. […] Mit diesem Verfahren wird Transparenz und Nachprüfbarkeit auch für die Öffentlichkeit gewährleistet“ (BT-Drs. 16/7439, S. 53).

Allerdings gab es damals auch schon skeptische Stimmen. So hieß es etwa im GEK-Pflegereport 2009 (S. 37 f.), der von einem Team um den Bremer Gesundheitsökonomen und Pflegeexperten Prof. Heinz Rothgang verfasst worden war: „Allerdings sieht der Wortlaut des § 30 SGB XI lediglich vor, dass die Notwendigkeit einer Anpassung alle drei Jahre ‚geprüft‘ werde. Als Orientierungsgröße werden die Inflations- und die Bruttolohnentwicklung genannt, wobei jeweils die niedrigere Rate ausschlaggebend ist. Weiterhin können ‚die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt‘ werden. Insbesondere die letztgenannte Einschränkung eröffnet die Möglichkeit, die Leistungsanpassungen ganz auszusetzen oder die Pflegeversicherungsleistungen sogar nach unten anzupassen. Bei der vorgeschlagenen Form handelt es sich daher um eine diskretionäre Anpassung, die regelmäßig Anlass zu politischen Auseinandersetzungen bieten dürfte. Um einen weiteren Realwertverlust der Pflegeversicherung auszuschließen, ist dagegen eine regelgebundene Anpassung ohne diskretionären Spielraum nach einer vorgegebenen Formel notwendig.“

Dynamisierung nach der neuen gesetzlichen Regelung

Die erste Dynamisierung nach der neuen gesetzlichen Regelung ergab, dass die Leistungsbeträge entsprechend der Preisentwicklung der letzten abgeschlossenen drei Jahre zum 1. Januar 2015 um vier Prozent angehoben werden mussten. In Pflegestufe 1 gab es folglich nun für Pflegebedürftige ohne eingeschränkte Alltagskompetenz ein Pflegegeld von 244 Euro, in Stufe II gab es 458 Euro und in Stufe III 728 Euro.

Die nächste Anpassung musste dann mit der bislang größten Reform der Pflegeversicherung im Jahr 2017 erfolgen, bei der u. a. ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wurde und es statt drei Pflegestufen nun fünf Pflegegrade gab.

Für das Pflegegeld wurden diese Leistungsbeträge festgelegt:

Nach § 30 SGB XI muss die Bundesregierung – wie oben erwähnt – alle drei Jahre die „Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung“ prüfen. Erneut war dies im Jahr 2020 notwendig. Tatsächlich legte die Bundesregierung erst ganz am Ende dieses Jahres – am 9. Dezember 2020 – einen einschließlich Überschrift nur 15 Zeilen umfassenden Bericht  über die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung vor (BT-Drs. 19/25283).

Darin wird festgestellt, dass insbesondere angesichts der Preisentwicklung in den Jahren 2017 bis 2020 „ein Anstieg der Leistungsbeträge um 5 Prozent angemessen“ erscheine. Die Bundesregierung werde „zeitnah über die Umsetzung der Dynamisierung entscheiden“.

Dynamisierung nach Preisentwicklung wurde ausgesetzt

Doch es dauerte dann noch über ein Jahr, bis es Anfang 2022 zu einer Dynamisierung kam. Diese erfolgte allerdings nur bei einem kleinen Teil der Leistungen der Pflegeversicherung. Unverändert geblieben sind die Sätze für das Pflegegeld für zu Hause lebende Pflegebedürftige sowie für die Tages-, Nacht- und Verhinderungspflege.

Einen Anstieg um 5 Prozent – wie im Bericht der Bundesregierung angedacht – gab es Anfang 2022 lediglich im Bereich der Pflegesachleistungen. Gemeint ist damit ein – je nach Pflegegrad unterschiedlich hohes – Budget, das Pflegebedürftigen zum Einkauf von Pflegedienstleistungen bei professionellen Anbietern monatlich zur Verfügung steht.  Wird dieses Budget voll genutzt, so besteht kein Anspruch auf das (frei verwendbare) Pflegegeld. Wird das Budget anteilig genutzt, so besteht auch ein anteiliger Anspruch auf Pflegegeld.

Begründet wurde die Anhebung bei den Pflegesachleistungen nicht mit der Preisentwicklung der letzten Jahre. In der Gesetzesbegründung zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz heißt es vielmehr: „Die Anhebung dient zum Ausgleich des sich aus der vorgesehenen Anbindung der Löhne an Tarife ergebenden Kostenanstiegs“ (BT-Drs. 19/30560, S. 61)

So blieb es bis heute dabei, dass die Leistungen für Pflegebedürftige seit 2017 nicht – wie eigentlich vorgesehen – entsprechend der kumulierten Preisentwicklung der letzten Jahre erhöht wurden. Beim Pflegegeld gab es seit 2017 sogar überhaupt keine Anpassung mehr. Dabei gab es seit der letzten Erhöhung 2017 „einen Preisverfall von 14 Prozent“, wie der Sozialverband VdK Deutschland beklagt (siehe hier).

Geplante Neuregelung mit neuem Pflegegesetz

Statt die Dynamisierungsregeln nach dem geltenden § 30 SGB XI zu befolgen, will die Bundesregierung nun im Rahmen des geplanten Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetzes die Anpassungs-Regeln wieder ändern. Zum 1. Januar 2024 sollen das Pflegegeld und die Pflegesachleistungen um lediglich 5 Prozent – und damit weit unter der Inflationsrate – erhöht werden. Zum 1. Januar 2025 ist dann eine weitere Erhöhung der Leistungsbeträge um 5 Prozent geplant. Und ab 2028 sollen die Leistungen in Höhe des kumulierten Anstiegs der Inflation in den letzten drei Jahren steigen – jedoch nicht stärker als der Anstieg der Bruttolohn- und Gehaltssumme je abhängig beschäftigten Arbeitnehmer im selben Zeitraum. Im Unterschied zu den aktuellen Regelungen ist aber nicht mehr geplant, dass danach „alle drei Jahre“ erneut eine Anpassung „geprüft“ werden muss. Und: Als Orientierungswert für die Anpassung soll nicht mehr die „kumulierte Preisentwicklung in den letzten drei abgeschlossenen Kalenderjahren“ dienen. Stattdessen soll der „kumulierte Anstieg der Kerninflationsrate in den letzten drei Kalenderjahren“ maßgeblich sein.

Bei der Kerninflation werden stark schwankende Preise – vor allem für Energie und Nahrungsmittel – herausgerechnet. Die Kerninflationsrate ist somit meist niedriger als die Inflationsrate. Während die Preise im März 2023 um durchschnittlich 7,4 Prozent höher waren als ein Jahr zuvor, lag die Kerninflationsrat in Deutschland zuletzt nur bei 5,8 Prozent (siehe hier).

Die Anpassung dürfe sich nicht an der Kerninflationsrate orientieren, „denn diese lässt bestimmte Kostenarten wie Lebensmittel und Energiepreise außen vor. Genau diese sind aber in Folge des Angriffskrieges auf die Ukraine die Kostentreiber gewesen“, kritisiert die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zu Recht in ihrer Stellungnahme zum geplanten Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (S. 14).

Der DGB fordert in seiner Stellungnahme zum geplanten neuen Pflegegesetz: Eine „zeitnahe Anhebung des Pflegegeldes sowie der ambulanten Sachleistungen zum 1. Juli 2023 in dem Umfang, der die Inflation in den vergangenen fünf Jahren nachvollzieht. Da davon auszugehen ist, dass auch im Jahr 2023 die Inflation auf einem relativ hohen Niveau verharrt, ist eine weitere Anpassung zum 1. Juli 2024 nötig, um einen adäquaten Ausgleich zu den aktuellen Lebenshaltungskosten herzustellen.“

Das würde bedeuten: Die Bundesregierung müsste endlich eine wirkliche Dynamisierung der Pflegeleistungen umsetzen und die schleichende Entwertung der Pflegeleistungen aufgeben. Das wäre tatsächlich eine Zeitenwende.

Hans Nakielski

ist Dipl.-Volkswirt und Fachjournalist für Arbeit und Soziales in Köln