Welchen sozial(rechtlich)en Fortschritt wagt der Koalitionsvertrag?

von Eberhard Eichenhofer | Dezember 2021

Zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl haben SPD, Grüne und FDP ihr gemeinsames Regierungsprogramm besiegelt. Die Spitzenvertreter der Ampel-Parteien unterzeichneten am 7. Dezember ihren Koalitionsvertrag. Hier erfolgt ein Überblick über wichtige sozialpolitische und sozialrechtliche Vorstellungen, Ideen und Absichten der Koalitionsvereinbarung.

1. Die sozialrechtliche Leitvorstellung

Die neue Regierung nennt sich ein „Bündnis für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ und möchte „mehr Fortschritt wagen“. Ihre im Koalitionsvertrag niedergelegten Vorhaben sollen sichern, dass das Land „auf der Höhe der Zeit“ agiert (S. 5 im Koalitionsvertrag). Durch bessere Bildung und Weiterbildung sollen die Menschen ihr Leben „frei und selbstbestimmt gestalten“ (S. 6).

Dabei stehen im Mittelpunkt des sozialpolitischen Bemühens die Anerkennung von Leistung und die gerechte Bezahlung von Arbeit. Diese Ziele sollen durch die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes und mehr Entgeltgleichheit für Frauen und Männer erreicht werden (S. 6). Das aktuelle, in der 19. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages auf 48 Prozent festgelegte Rentenniveau und der unter 20 Prozent bleibende Beitragssatz werden für die 20. Legislaturperiode gewährleistet. Die gesetzliche Rentenversicherung erhält 2022 aus Bundesmitteln einen Betrag von 10 Mrd. Euro, der von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Einrichtung auf dem Kapitalmarkt möglichst ertragreich und sicher platziert werden soll (siehe dazu auch den Beitrag von Christian Mecke in diesem Thema des Monats). Betriebliche wie private Altersvorsorge sollen dahin fortentwickelt werden, dass sie in ertragreichere Anlagen angelegt werden können. Die Sozialpolitik soll Vielfalt mit Zusammenhalt sichern, weil Freiheit und Sicherheit einander bedingen (S. 6).

2. Welche Fortschrittsidee?

 Ein Kernelement der sozialrechtlichen Agenda ist die Ausweitung gut bezahlter Erwerbsarbeit. Dafür soll die Erwerbsbeteiligung der Frauen wie älteren Menschen gesteigert und durch Bildung wie Weiterbildung die Erwerbsbefähigung der Menschen insgesamt erhöht werden. Die Ausweitung der Fachkräfteeinwanderung durch Erstreckung der Blue Card auf nicht-akademische Berufe und ein Punktesystem soll die Lücke an Fachkräften schließen helfen.

Folgerichtig lautet die Leitidee des mit „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ überschriebenen IV., sozialpolitischen Kapitels des Koalitionsvertrages: „Ein hohes Beschäftigungsniveau und gerechte Entlohnung sind Grundlage für unseren Wohlstand und die Finanzierung unserer sozialen Sicherung“ (S. 65). Damit wird die Perspektive für eine Berufsbiografie für alle formuliert, die von einer von einer Weiterbeschäftigungsstrategie flankierten Bildungsoffensive erreicht werden soll.

Dieser Ansatz verstärkt den Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit. Arbeiten möglichst viele Menschen möglichst viel und werden sie dafür möglichst gut bezahlt, so sind die Systeme sozialer Sicherheit leistungsfähig, weil sie viel Beitragsannahmen erzielen können und wenig Leistungsausgaben tragen müssen.

Diese Regel stützt sich auf die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte – zunächst der Jahrzehnte nach 1990, als der Sozialstaat die Folgen einer langwierigen und belastenden Transformation der ostdeutschen Gesellschaft mit hohen Leistungsausgaben, stagnierender Produktivität und kontinuierlich steigenden Beitrags- und Steuerlasten zu bezahlen hatte und darunter zusammengestrichen wurde, und sodann der Erfahrung des zurückliegenden Jahrzehnts, welches die Beschäftigung – allerdings unter Zurückbleiben der Löhne und Gehälter – ausweitete.

3. Sozialleistung und Erwerbseinkommen

Die Zuversicht und Hoffnung liegen also auf der Erhöhung des Mindestlohnes, die nicht nur die niedrigen Löhne anheben wird, sondern das gesamte Lohnniveau. Darin liegt das entscheidende Experiment. Die Regierung ist nicht nur optimistisch, dass dieses gelingen wird, sondern diese Maßnahmen auch die Nachfrage nach Erzeugnissen der inländischen Wirtschaft erhöhen und damit das Wachstum insgesamt befördern werden. Dementsprechend entwickelt der Koalitionsvertrag die Vision von einem „längeren, gesünderen Arbeiten“ als Schwerpunkt künftiger Politik der Alterssicherung (S. 74).

Dieser Ansatz leitet weitere Einzelreformen – so die Erhöhung der monatlichen Geringfügigkeitsgrenze auf 520 Euro und der monatlichen Obergrenze für Midi-Jobs auf 1.600 Euro (S. 70) – ein; sie nehmen die anzunehmenden Steigerungen des gesamten Lohnniveaus vorweg. Diese Anhebungen werden ergänzt durch Ausweitung der Hinzuverdienstgrenzen für Erwerbsminderungs- und Altersrentner*innen sowie der Bezieher*innen von Grundsicherung, die künftig „Bürgergeld“ heißen soll (siehe dazu auch den Beitrag von Judit Neumann in diesem Thema des Monats).

Die Übertragung von 10 Mrd. Euro als Anlagevermögen an die gesetzliche Rentenversicherung gleicht den in den Jahrzehnten zuvor verzeichneten Verlust aus, der bei der Rentenversicherung durch die Privatisierung ihrer ihr vormals gehörenden Immobilienvermögen eingetreten ist. Was mit der Kapitalanlage nach 2022 geschehen soll, bleibt offen.

Neue = junge Selbständige sollen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Bei einer gleichwertigen privatrechtlichen Sicherung können sie durch eine Erklärung aus der gesetzlichen Rentenversicherung ausscheiden (opt out) (S. 75).

Bürgergeld soll in den ersten zwei Jahren nur bei nicht hinreichendem Einkommen gezahlt werden, das Vermögen aber unberücksichtigt bleiben, desgleichen die Angemessenheit der Wohnung nicht überprüft werden. Die Erwartung, dass sich arbeitsfähige Hilfeempfänger*innen mit Hilfe des Amtes aber in den Arbeitsmarkt integrieren, bleibt und wird künftig mit Bildungs- und Weiterbildungsangeboten verbunden werden (S. 77).

Alle diese Maßnahmen beruhen auf der optimistischen, freilich konventionellen Annahme, dass wirtschaftliches Wachstum Kapital wie Erwerbseinkommen erhöhen werden und damit auch die Finanzierung der sozialen Sicherung gelingen kann.

4. Sozial(rechtlich)er Fortschritt durch Rückbesinnung auf die Sozialpolitik

Der sozialrechtliche Teil des Koalitionsvertrages erscheint, alles in allem, erstaunlich traditionell. Er wird jedenfalls weder von der neoliberalen Kritik an den angeblich beschäftigungsabträglichen Wirkungen sozialer Sicherheit, noch der aus dem Kontext der Nachhaltigkeitsdiskussion rührenden Sorgen geleitet, dass das System der Sozialleistungen angesichts der demografischen Entwicklung unmittelbar oder in absehbarer Zukunft vor dem Kollaps stehe. Alle diese wohlfeilen Einwände scheinen die Autor*innen des Koalitionsvertrages nicht in irgendeiner Weise auch nur im Geringsten angefochten zu haben.

Die durchaus zahlreichen Kritiker*innen des Koalitionsvertrages machten daher – kaum überraschend – darauf aufmerksam und sahen darin ein scheinbares Versäumnis. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass der Koalitionsvertrag auf diese Einwände nicht einmal eingeht. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung die darin anklingenden Besorgnisse nicht teilt oder auf die Herausforderungen so stark unterschiedliche Antworten hätte, dass angesichts dessen die Problematik nicht angesprochen wurde.

Der Koalitionsvertrag gründet seine sozialrechtliche Fortschrittsidee auf die Zuversicht in die Sozialpolitik und betont damit deren Kontinuität. Er lebt von der Vorstellung, dass durch Sozialreformen – wie den höheren Mindestlohn und die Ausweitung der Beschäftigung – die Fragen der sozialen Sicherung im Einklang mit deren bisheriger Entwicklung auch in Zukunft gelöst werden könnten. Die soziale Sicherung wird damit zum Ruhepol im gesellschaftlichen Fortschritt.

Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Eichenhofer

Universitätsprofessor für Sozialrecht und Bürgerliches Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena i. R.