Was bringt das geplante Bürgergeld?

von Judit Neumann | Dezember 2021

„Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen. Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“ Diese Formulierung leitet die Passage des Koalitionsvertrags zur geplanten Neuregelung existenzsichernder Leistungen in Form eines Bürgergelds ein. Sie benennt die drei insoweit wesentlichen Reformkomplexe, weckt manche neuen Erwartungen und schweigt zu alten.

Das Bürgergeld

Wer ist Bürger? Und was ist dann Bürgergeld? Beide Fragen suggerieren eine allgemeingültige Ableitbarkeit oder Definitionsmacht des Begriffs „Bürgergeld“, die ihm nicht zukommt. Bürgergeld gibt es in verschiedenen Vorstellungen über die finanzielle Absicherung von Menschen. Diesen verschiedenen Vorstellungen kann je nach Ausgestaltung Deckungsgleichheit mit dem oder Nähe zu einzelnen Denkansätzen über ein Grundeinkommen zugesprochen werden. Wer sich für einen Einstieg in das Thema interessiert, dem seien die beiden Teile des Artikels „Das bedingungslose Grundeinkommen: Vom Nachtgespenst der Utopie zum sozialrechtlichen Tagtraum“ von Franz Dillmann in der Zeitschrift Die Sozialgerichtsbarkeit (Ausgabe 11/2021 und 12/2021) empfohlen.

In den Vorstellungen, die die jetzigen Koalitionspartner vor ihrem gemeinsamen Koalitionsvertrag hatten, kam das „Bürgergeld“ mal mit dem Attribut „liberal“ bei der FDP vor (siehe hier und hier) oder ganz ohne Attribut bei der SPD (siehe hier, S. 33). Die Vorstellungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bezogen sich auf eine Garantiesicherung mit der Idee, diese jedenfalls zukünftig sanktionsfrei zu gestalten (siehe hier, S. 111).

Am Ende der Koalitionsverhandlungen und Beginn der Arbeit der neuen Regierung steht nun die Idee, sich – so weit wie für alle drei Koalitionspartner möglich – mit einem Bürgergeld von „der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV)“ zu entfernen. Diese These schlösse wörtlich genommen derzeitige Empfänger von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt (3. Kapitel des SGB XII) und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (4. Kapitel des SGB XII) aus. Darauf deuten auch weitere Passagen des Koalitionsvertrags („Bürgergeld [ehemals Arbeitslosengeld II])“ und inhaltliche Vorstellungen – zum Beispiel zur Karenzzeit beim Schonvermögen – hin.

Andererseits wird unter der Überschrift „Bürgergeld“ auch beabsichtigt, die Möglichkeiten für erwerbsgeminderte Personen sowie Rentner*innen auszuweiten, mit einer Erwerbstätigkeit ihr Einkommen zu verbessern.

Sicher ist eines: Jugendliche und junge Volljährige sind nicht (mehr ganz) dabei. Sie sollen in die Kindergrundsicherung einbezogen werden. Das SGB II, das weiterhin bestehen wird, bleibt für sie gültig bei den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit.

Reformkomplexe

Nicht nur der Name wird neu. Bisher hießen die Leistungen, die es nun anders geben soll, übrigens „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“ (die für erwerbsfähige Leistungsberechtigte vor allem als Arbeitslosengeld II erbracht wurde) und „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“. Eine Garantie dafür, dass sich die Menschen entschließen werden, nicht mehr „Hartz IV“ zu sagen, wenn sie für die Antragstellung in dasselbe Gebäude gehen, um demselben Jobcentermitarbeiter gegenüberzusitzen, wird es nicht geben. Vielleicht hilft die Digitalisierung.

„Zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen“

Das neue Bürgergeld soll laut Koalitionsvertrag „zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen“. Über diesen Punkt als Ansatz für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit kann stolpern, wer die FDP nicht näher kennt und gesellschaftliche Teilhabe bislang vor allem im Kontext der Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums gesehen hat, wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den Hartz-IV-Regelsätzen am 9. Februar 2010 (Az.: 1 BvL 1/09 u.a., Rn. 135).

Der Bundesvorstand der FDP hat in einem Beschluss vom 24. November 2019 die Bedeutung von Arbeit als Beitrag zur gesellschaftlichen Teilhabe bezeichnet. In der Trias der Reformkomplexe ist es folgerichtig, die gesellschaftliche Teilhabe auf die aktiven Arbeitsmarktleistungen zu beziehen.

Geplant ist im Bereich der „aktiven Leistungen“ (bisher „… zur Eingliederung in Arbeit“) Vielversprechendes. Das gilt vor allem für die Stärkung von Weiterbildung und Qualifizierung, unter anderem durch die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs und die Förderung vollqualifizierender Ausbildungen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung – unabhängig von der Dauer. Letzteres klärt den Streit, ob Weiterbildungsmaßnahmen zugelassen werden und die Teilnahme an ihnen finanziert wird, wenn eine Verkürzung im Vergleich zu einer entsprechenden Berufsausbildung nicht möglich ist.

Ein Anliegen des größten Koalitionspartners war die Abschaffung der Eingliederungsvereinbarung. Sie wird laut Koalitionsvertrag ersetzt durch eine Teilhabevereinbarung, in der Angebote und Maßnahmen mit den Leistungsberechtigten gemeinsam vereinbart werden. So weit, so unverändert. Nichts anderes besagt § 15 Abs. 1 SGB II in seiner bislang geltenden Fassung zur Eingliederungsvereinbarung. Neu sind ein unabhängiger Schlichtungsmechanismus für Konfliktfälle und eine sechsmonatige Vertrauenszeit.

Welche Bedeutung die sechsmonatige Vertrauenszeit bei der Teilhabevereinbarung haben soll, wird aus den Ausführungen des Koalitionsvertrags nicht klar. Es kann sich um den Geltungszeitraum handeln oder um eine Frist, innerhalb der die vereinbarten Teilhabeziele jedenfalls in Angriff genommen werden sollten und nach deren fruchtlosem Ablauf Folgen drohen. Denn eines ist klar: Es bleibt bei Mitwirkungspflichten und Sanktionen. Deren Neuregelung möchte die Bundesregierung bis spätestens Ende 2022 abgeschlossen haben und sie soll das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (Az.: 1 BvL 7/16) hinsichtlich der Sicherung der Unterkunft und des Wegfalls von Sonderregelungen für Leistungsberechtigte unter 25 Jahren umsetzen (siehe dazu auch das Thema des Monats Sanktionen im SGB II).

„Die Würde des und der Einzelnen achten“

Keinen Beitrag enthält der Koalitionsvertrag zu einer grundsätzlichen Neubemessung der passiven Leistungen, vor allem des bisherigen Regelbedarfs. Es gibt die Idee, die Auszahlung der Leistungen für Unterkunft und Heizung als Pauschalen zu ermöglichen. Auf die Unterkunftskosten bezieht sich auch die Karenzzeit für die Angemessenheit der Wohnung in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezugs. Das bedeutet, dass es in dieser Zeit keine (nur) teilweise Berücksichtigung der Kosten bei der Berechnung der Leistungsansprüche geben wird.

Bei der Einkommensanrechnung geplant ist die Umstellung von der horizontalen auf die vertikale Anrechnung. Bisher sind bei der horizontalen Anrechnung – grob vereinfacht – bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, das eigene Einkommen und Vermögen, dasjenige des Partners oder der Partnerin und bei Kindern der Eltern oder des Elternteils und dessen Partnerin oder Partners zu berücksichtigen. Die Bedarfsdeckungsmöglichkeiten durch Einkommen und Vermögen werden für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt. Das geht nach dem Verhältnis ihres Bedarfs zum Gesamtbedarf. Hat also ein Elternteil Einkommen, ist das nicht allein bei ihm zu berücksichtigen, sondern anteilig auch bei dessen Partnerin oder Partner und einem Kind. Alle stehen – was die Aufteilung des Einkommens angeht – im Grundsatz nebeneinander.

Beim Bürgergeld und der vertikalen Anrechnung wird das Einkommen zuerst dem Einkommensbezieher zugeordnet. Erst wenn dessen Bedarf gedeckt ist, haben die Leistungsansprüche der anderen rechnerischen Anteil an der Bedarfsdeckungsmöglichkeit. Das betont nicht nur den individuellen Charakter des Bürgergelds, sondern macht für viele die Einkommensanrechnung nachvollziehbarer. Subtraktion ist einfacher zu verstehen als eine Verteilung nach Quote.

Was bei flüchtigem Lesen als eine textlich deplatzierte weitere Idee zu den Sanktionen erscheinen kann (Stichwort: „Transferentzugsrate“), ist die geplante Verbesserung der Freibetragsregelungen bei Erwerbseinkommen. Ärgerlich ist aber die Wendung: „Die „Zuverdienstmöglichkeiten werden wir verbessern“. Bei allem mehrfach versicherten Glauben an den Wert von Arbeit für Menschen geht es nicht darum, dass Leistungsberechtigte ihre Sozialleistungen (nun in Form von Bürgergeld) mit Einnahmen aus eigener Tätigkeit „aufbessern“ oder nur bis zu einem bestimmten Betrag „hinzuverdienen“ dürften. Ein solches Verständnis kann sich allerdings durch Wording verfestigen. Nehmen wir es als Schritt zurück vor den beiden nach vorn.

„Digital und unkompliziert zugänglich sein“

Spannend wird die Umsetzung des Leistungszugangs, für dessen Erneuerung Digitalisierung und Unkompliziertheit stehen sollen. Einige Schritte zur Unkompliziertheit will die Koalition im materiellen Recht gehen, zum Beispiel über die Karenzzeiten beim Vermögen und den Unterkunftskosten sowie bei der Umstellung auf die vertikale Anrechnung. Digitalisierung ist insgesamt ein wichtiger Punkt des Koalitionsvertrags, der Begriff „digital“ mit seinen Ableitungen wird auf 178 Seiten 226 Mal erwähnt. Es bleibt zu wünschen, dass die Vorstellung, der digitale Zugang zum Bürgergeld ermögliche es seinem Adressatenkreis, die Leistungen einfacher zu erhalten, umgesetzt werden kann. Große Hürden in der Bereitstellung einer elektronischen Kommunikations- oder Antragslösung sind nicht zu erwarten. Eine Herausforderung werden dürfte aber die Heranführung Leistungsberechtigter an die Nutzung von eID-Lösungen bei einer erforderlich werdenden elektronische Authentifizierung im Rahmen der Antragstellung.

Judit Neumann

ist Richterin am Bundessozialgericht und gehört hier dem für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen 14. Senat an