Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – auch in der Altersvorsorge?

von Christian Mecke | Dezember 2021

„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.“ Unter dieses Motto haben die neuen Regierungsparteien ihren Koalitionsvertrag gestellt. Wird das Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der Alterssicherungs- und Rentenpolitik auch eingelöst?

Häufig vernachlässigt, ist Nachhaltigkeit der zentrale Aspekt der Rentenpolitik. Wer heute mit 17 Jahren eine Lehre beginnt, erwirbt einen gesetzlichen Anspruch darauf, in 50 Jahren Rente zu erhalten. Diese hat der Erwerbsbiografie zu entsprechen und ist bis an das Lebensende zu zahlen. Darum wirken heutige rentenpolitische Entscheidungen mindestens über einen Zeitraum von 70 bis 80 Jahren, mithin schon jetzt bis in das nächste Jahrhundert hinein.

Zudem ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, dass heutige Erwerbstätige in Zukunft mit einer Rente in etwa auf dem gegenwärtigen Niveau rechnen können. Denn im Rahmen des die gesetzliche Rentenversicherung seit 1957 beherrschenden Umlageverfahrens wird der Rentenanspruch nicht durch individuelle Beiträge angespart. Vielmehr finanzieren die Beitragseinnahmen unmittelbar die zeitgleich anstehenden Ausgaben für die gegenwärtige Rentnergeneration. Bildlich gesprochen lebt die gesetzliche Rentenversicherung also von der Hand in den Mund, sieht man von der seit 2004 als „Nachhaltigkeitsrücklage“ bezeichneten Schwankungsreserve in Höhe von 0,2 bis 1,5 Monatsausgaben ab.

Die Beschränkung der Freiheit heute Erwerbstätiger durch die Auferlegung einer Beitragspflicht ist nur gerechtfertigt durch die Zusage, im Alter ebenfalls auskömmlich versorgt zu werden. Allerdings ist dieser Generationenvertrag kein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Vielmehr wirkt er zu Lasten Dritter, nämlich der kommenden Generationen von Beitragszahler*innen, welche die künftigen Renten der heutigen Beitragszahler*innen zu finanzieren haben. Daher ist es gleichermaßen ein Gebot der Gerechtigkeit, die Freiheit der kommenden Generationen nicht durch eine unangemessene Beitrags- oder Steuerlast infolge heutiger Rentenversprechen über Gebühr einzuschränken.

Gemessen hieran enthält der Koalitionsvertrag viel Positives, aber auch eine zentrale Leerstelle.

Stabilität bei Rentenniveau, Beitragssatz und Renteneintrittsalter

An der Spitze der rentenpolitischen Aussagen des aktuellen Koalitionsvertrags steht das Versprechen, die bereits von der Großen Koalition gesetzlich definierten Haltelinien fortzuführen, also das Rentenniveau dauerhaft nicht unter 48 Prozent sinken und die Beiträge – jedenfalls in dieser Legislaturperiode – nicht über 20 Prozent steigen zu lassen. Dadurch dürfen auch künftige Rentenbezieher*innen mit Leistungen rechnen, die in Relation zum Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer*innen in etwa auf demselben Niveau wie bei heutigen Rentner*innen liegen. Zugleich müssen Beitragszahler*innen in den nächsten vier Jahren mit keiner allzu großen Steigerung des Beitragssatzes von gegenwärtig 18,6 Prozent rechnen, die deren wirtschaftliche (Handlungs-)Freiheit weiter einschränken würde. Darüber hinaus versichern die Regierungsparteien, es werde keine Rentenkürzungen und keine weitere Anhebung des sich bis 2031 stufenweise auf 67 Jahre erhöhenden Renteneintrittsalters geben.

Auf dem Weg zur steuerfinanzierten Sozialleistung?

So erfreulich diese Pläne aus Sicht heutiger Beitragszahler*innen sowie aktueller und künftiger Rentner*innen sein mögen, so fehlen im Koalitionsvertrag tragfähige Aussagen zu deren nachhaltiger Finanzierung.

Schon seit vielen Jahren ist bekannt, dass sich mit Beginn des Renteneintritts der Babyboomer ab 2025 das Verhältnis von Rentenbezieher*innen zu Beitragszahler*innen zunehmend verschlechtert. Finanzieren – grob vereinfacht – heute noch drei Beitragszahler*innen einen Menschen im Rentenbezug, so werden schon ab 2032 allenfalls noch zwei Beitragszahler*innen für einen rentenbeziehenden Menschen aufzukommen haben. Die Große Koalition, hatte die sich hieraus ergebenden Probleme immerhin noch ausdrücklich angesprochen, wenn auch ergebnisarm in die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ ausgelagert. Im Gegensatz hierzu werden die spätestens in der nächsten Wahlperiode einsetzenden massiven Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung im aktuellen Koalitionsvertrag nicht explizit erwähnt. Dies ist umso fataler, als nahezu die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Zusammenbruch des Rentensystems fürchtet, wie die Ende November veröffentlichte Trendstudie „Jugend in Deutschland“ ergab (siehe hier).

Über die aktuelle Wahlperiode hinausweisende und überzeugende Vorschläge für die langfristige Sicherung des Rentensystems wären daher dringend angezeigt gewesen.

Wegen dieser Leerstelle, lässt sich nur mittelbar auf die Vorstellungen der Ampel-Koalition zur langfristigen Finanzierung des Rentensystems schließen: Weil die Ampel-Koalition die großen systemimmanenten Stellschrauben – Renteneintrittsalter, Rentenniveau und Beitragssatz – ausdrücklich unangetastet lässt, kann die sich abzeichnende Finanzierungslücke nur durch eine wiederholte erhebliche und dauerhafte Erhöhung des Bundeszuschusses geschlossen werden. Dadurch wird die zurzeit noch überwiegend betragsfinanzierte Rente sukzessive in eine steuerfinanzierte Sozialleistung überführt werden. An der zunehmend freiheitsbeschränkenden wirtschaftlichen Belastung künftiger Erwerbsgenerationen ändert sich hierdurch nichts. Die Last der Rentenfinanzierung wird lediglich auf mehr Schultern verteilt. Alternativ kann nur angenommen werden, dass die Koalitionäre die zur Herstellung von Generationengerechtigkeit zwischen zukünftigen Rentenbezieher*innen und zukünftigen Beitragszahler*innen notwendigen unpopulären Reformen bewusst auf die nächste Wahlperiode verschoben haben.

Nachholfaktor und Verbreiterung der Einnahmebasis

Auch wenn die großen Antworten fehlen, so finden sich im Koalitionsvertrag doch drei Maßnahmen, die den Bündniszweck der (Generationen-)Gerechtigkeit in den Blick nehmen und dämpfend auf den Anstieg der Rentenlasten wirken sollen.

Zunächst wird der von der Großen Koalition bisher ausgesetzte Nachholfaktor bereits zur Rentenanpassung 2022 wieder aktiviert, wenn auch nur im Rahmen der beschriebenen Haltelinien. Dadurch bleiben – vereinfacht gesprochen – systemlogisch notwendige Rentenkürzungen nach Jahren mit sinkenden Löhnen weiterhin ausgeschlossen, jedoch fallen die Rentenerhöhungen in nachfolgenden Jahren mit steigenden Löhnen etwas geringer aus. Die Kürzung wird dadurch „nachgeholt“ und der Anstieg der Rentenausgaben auch langfristig verlangsamt.

Einen jedenfalls vorübergehend dämpfenden Effekt haben könnte auch die geplante Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmer*innen sowie der „erwerbsbezogenen und qualifizierten Einwanderung“. Die sich hierdurch verbreiternde Einnahmebasis könnte helfen, die Welle der Babyboomer zu überstehen, sofern die neu hinzukommenden Beitragszahler*innen erst zu einem Zeitpunkt in Rente gehen, zu dem sich das Verhältnis von Beitragszahler*innen zu Rentenempfänger*innen demografiebedingt wieder günstiger gestaltet.

Einstieg in die Kapitaldeckung

Langfristig stabilisierend wirken soll – als dritte Maßnahme – auch der Einstieg in die teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch wenn die Assoziation nahe liegt, ist hiermit kein individuelles Ansparen auf einem Rentenkonto gemeint. Vielmehr soll bereits 2022 ein Fonds aus Steuermitteln geschaffen werden, der zur Finanzierung der Rentenausgaben insgesamt dienen soll. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Der kapitalgedeckte Teil der gesetzlichen Rente muss für das Kollektiv der Beitragszahler dauerhaft eigentumsgeschützt sein.“ Diese Formulierung könnte so gedeutet werden, dass Versicherte individuelle Ansprüche an den Erträgen des Kapitalstocks erwerben können, die nachträglich nicht mehr geschmälert werden dürfen. Jedoch deutet die Wendung „Kollektiv der Beitragszahler“ eher darauf hin, dass der Kapitalstock und dessen Erträge „bloß“ nicht für andere Zwecke als die Finanzierung der laufenden Renten herangezogen werden dürfen.

Dem Schutz gegen eine Zweckentfremdung dient auch die vorgesehene Verwaltung des Fonds durch eine „unabhängige öffentlich-rechtliche Stelle“, also nicht durch das Finanz- oder Sozialministerium. Ob damit auch eine Verwaltung durch die Rentenversicherungsträger ausgeschlossen werden soll, bleibt unklar. Dass sich die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund hierzu in der Lage sieht, hat deren alternierender Vorsitzender, Alexander Gunkel, vor Kurzem deutlich gemacht. Dies erscheint auch plausibel und kostensparend, weil dort bereits heute die Nachhaltigkeitsrücklage von derzeit 37,2 Milliarden Euro zu verwalten ist. Dies gilt umso mehr, als dem Koalitionsvertrag zufolge zugleich vorgesehen ist, der DRV Bund einen größeren Spielraum bei der Anlage ihrer Rücklage einzuräumen.

Große Erwartungen an die geplante Kapitaldeckung sind bei dem vorgesehenen Volumen ohnehin fehl am Platz: Der für 2022 vorgesehene Betrag von 10 Milliarden Euro entspricht nicht einmal der Hälfte der Rentenausgaben nur eines Monats. Er würde nach den Angaben von Alexander Gunkel auf der jüngsten Bundesvertreterversammlung der DRV Bund nicht einmal ausreichen, um den Beitragssatz für ein Jahrzehnt auch nur um ein Zehntel Prozentpunkt zu senken (siehe hier).

Ein spürbarer Effekt dürfte sogar völlig entfallen, sofern nicht der Kapitalstock, sondern nur dessen Erträge zur Deckung der Rentenausgaben eingesetzt würden.

Zweite und Dritte Säule der Alterssicherung

Eine Erweiterung des Anlagespielraums soll es auch für die betriebliche Altersvorsorge geben. Sie soll durch die erhofften höheren Renditen gestärkt werden. Vor dem Hintergrund der mit dem dauerhaft niedrigen Zinsniveau verbundenen Schwierigkeiten vieler Pensionskassen und Pensionsfonds und einer unattraktiven Verzinsung bei Direktversicherungen bietet dies Chancen für eine Verbesserung. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass sich auch die mit renditestärkeren Anlageformen verbundenen höheren Risiken realisieren und es wiederholt zu Zahlungsausfällen kommt. Eine größere Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung auch in kleinen und mittelgroßen Unternehmen soll durch die bisher unterbliebene Umsetzung des bereits 2018 eingeführten Sozialpartnermodells erreicht werden. Die Umsetzung liegt jedoch nicht in Regierungshand. Denn zur Einführung einer solchen Versorgung bedarf es eines Tarifvertrags. Wie die Tarifparteien motiviert werden sollen, künftig entsprechende Vereinbarungen zu schließen, lässt der Koalitionsvertrag offen.

Eine grundlegende Reform erfahren soll das System der privaten Altersvorsorge. Hierzu wollen die Koalitionäre einen öffentlich verantworteten Fonds mit einem effektiven und kostengünstigen Angebot prüfen. Hiermit reagiert die neue Koalition auf die seit Jahren anhaltende Kritik an der renditeschwachen und kostenintensiven Riester-Rente, deren laufende Verträge jedoch Bestandsschutz genießen sollen. Wie genau ein solcher Fonds ausgestaltet sein soll, bleibt weitgehend offen. Die Konstruktion eines Angebots mit Abwahlmöglichkeit deutet jedoch darauf hin, dass grundsätzlich jeder zu dieser Form der privater Vorsorge verpflichtet werden soll, sofern nicht ausdrücklich widersprochen wird (opt out-Lösung). Daneben soll auch die Anerkennung von Anlageprodukten mit einer höheren Rendite als bei der Riesterrente geprüft werden.

Will man an dem bisher wenig erfolgreichen Weg ergänzender privater Vorsorge außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung festhalten, so erscheint ein staatlich verwalteter, kostengünstiger Fonds durchaus als Möglichkeit, die fragwürdigen Riester-Produkte der privaten Versicherungswirtschaft abzulösen. Demgegenüber fördert die Anerkennung von Anlageprodukten mit höheren Renditechancen zwar die (Anlage-)Freiheit. Damit verbunden ist aber auch das Risiko wesentlicher, wenn nicht vollständiger Kapitalverluste. Gerade für gering Verdienende erscheint die Schwächung der gesetzlichen Rente zugunsten solcher Vorsorgeformen wenig sinnvoll.

Ankündigungen und Verbesserungen im Detail

Darüber hinaus enthält der Koalitionsvertrag einige Hinweise auf nicht näher konkretisierte Projekte und geplante Verbesserungen im Detail:

So sollen nun auch Verbesserungen für die Personen umgesetzt werden, die schon seit längerer Zeit Erwerbsminderungsrenten beziehen. Diese Renten waren 2001 durch Reduzierung des Zurechnungsfaktors bei weiterhin auf das 60. Lebensjahr begrenzter Zurechnungszeit stark abgesenkt worden. Spätere Verbesserungen galten nur für Neuzugänge, sodass Erwerbsminderungsrentner*innen im Bestand hiervon nicht profitiert haben. Dass dies endlich nachgeholt werden soll, ist eine Frage der Gerechtigkeit.

Positiv zu bewerten ist auch die geplante Rentenversicherungspflicht von im Vollzug arbeitenden Strafgefangenen, auch wenn wegen der Kosten mit Widerstand aus den Ländern zu rechnen ist. Eine Beitragspflicht für in der Justizvollzugsanstalt geleistete Arbeit kann helfen, Beitragslücken zu vermeiden, Ansprüche z. B. auf Erwerbsminderungsrenten zu erhalten und allgemein das Risiko eines Grundsicherungsbezugs im Alter zu verringern.

Relativ unkonkret bleiben die Aussagen zu einer Evaluierung der Grundrente, bei der vor allem der Prüfaufwand bei den Kapitalerträgen hinterfragt werden soll. Ähnliches gilt für die angekündigte Stärkung des Grundsatzes „Prävention und Reha vor Rente“ durch eine stärkere Arbeitsmarktausrichtung und Kooperation der Sozialversicherungsträger. Trotz vielfacher Ankündigungen wurden hierbei bisher wenige Erfolge erzielt; der Grundsatz der Leistung aus einer Hand wurde zuletzt sogar geschwächt.

Weitgehend offen sind auch die Ausführungen zur Ermöglichung größerer Freiheiten beim Renteneintritt. Hier soll es zunächst beim Status quo verbleiben, indem die Flexi-Rente bekannter gemacht und die gegenwärtige großzügige Zuverdienstregelung (siehe dazu hier) entfristet wird. Darüber hinaus wird ein „gesellschaftlicher Dialogprozess“ mit dem Ziel des regelmäßig längeren Verbleibs im Arbeitsleben angekündigt. Dabei soll – dies ist ein wichtiger Gerechtigkeitsaspekt – aber auch die Situation besonders belasteter Berufsgruppen in den Blick genommen werden.

Alterssicherung für Selbstständige

Schließlich enthält der Koalitionsvertrag auch die Vereinbarung einer Alterssicherungspflicht für Selbstständige. Hierzu hat es seit 2012 verschiedene Anläufe gegeben, die jedoch allesamt gescheitert sind. Dies gilt auch für einen von Hubertus Heil mehrfach angekündigten Gesetzentwurf der Großen Koalition. Die Dringlichkeit eines solchen Vorsorgeobligatoriums ist dennoch unbestritten (siehe dazu auch hier).

Denn europaweit sind Selbstständige in fast allen Staaten – wenn auch in höchst unterschiedlicher Weise – in die Alterssicherungssysteme einbezogen. Demgegenüber ist dies in Deutschland nur bei einer Minderheit der Selbstständigen der Fall und auch die Eigenvorsorge der Übrigen ist zumeist unzureichend. Dies zeigt nicht zuletzt die überproportionale Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter durch Selbstständige.

Vor diesem Hintergrund hat sich auch die neue Koalition zu einem weiteren Anlauf verpflichtet. Dabei knüpft sie weitgehend an die bereits in der Großen Koalition getroffenen Vereinbarungen an. Dies gilt zunächst für die – mit Blick auf die Gesamtbelastung mit Beiträgen – schon zum 1. Januar 2019 begonnene Entlastung von Selbstständigen bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung. Diese sollen künftig oberhalb der Minijobgrenze nur noch strikt einkommensbezogen erhoben werden. Pikanterweise war ein vergleichbarer Antrag der Fraktion DIE LINKE in der letzten Legislaturperiode noch mit den Stimmen u. a. von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt worden; die FDP hatte sich enthalten (siehe BT-Drucksache 19/5112, Seite 4 zu Buchst. d).

Die Kernaussagen zur Einführung einer Altersvorsorgepflicht für Selbstständige sind im Vergleich mit dem Koalitionsvertrag von 2018 fast wortidentisch. So soll für alle neuen Selbstständigen eine Pflicht zur Altersvorsorge eingeführt werden, sofern sie keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen. Für die 300.000 bereits jetzt in der gesetzlichen Rentenversicherung erfassten Selbstständigen ändert sich damit ebenso wenig wie für die rund 400.000 in den berufsständischen Versorgungswerken. Personen, die eine selbstständige Tätigkeit neu aufnehmen, werden nach einer Karenzzeit von zwei Jahren in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Ihnen wird aber die Wahlfreiheit eingeräumt, sich stattdessen „im Rahmen eines einfachen und unbürokratischen Opt-Outs“ für ein privates Vorsorgeprodukt zu entscheiden. Jedoch muss dieses insolvenz- und pfändungssicher sein und zu einer Absicherung oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen.

Angesichts der Zusammensetzung der neuen Koalition durfte die grundsätzlich vorzugswürdige generelle Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erwartet werden. Dem Fetisch der Vorsorgefreiheit wird weiterhin gehuldigt. Positiv ist jedoch, dass das private Vorsorgeprodukt nicht mehr nur „in der Regel“ zu einer Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen muss. Dennoch bleibt zu kritisieren, dass gerade bei Selbstständigen mit niedrigem Einkommen – dies ist die Mehrzahl – der Preisdruck zu einer Flucht aus der gesetzlichen Rentenversicherung und Wettbewerbsverzerrungen führen wird. Dieses Gerechtigkeitsdefizit würde durch die Kartellwirkung einer allgemeinen Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung umgangen.

Das größte Defizit der aktuellen Koalitionsvereinbarung besteht aber in der Beschränkung der Altersvorsorgepflicht auf „alle neuen Selbstständigen“. Im Gegensatz zu den Plänen der Großen Koalition bleiben dadurch die gegenwärtig gut 2,6 Millionen kernerwerbstägigen Selbstständigen unberücksichtigt, die bisher von keinem der gesetzlichen Alterssicherungssysteme erfasst werden. Allenfalls bei jeder und jedem Siebten aus dieser Gruppe kann angenommen werden, dass sie oder er über eine auskömmliche Alterssicherung verfügt. Gerade im Vergleich zu den Neuselbstständigen wäre es ein Gebot der Gerechtigkeit, dass auch die Bestandsselbstständigen mit den Kosten einer angemessenen Vorsorge belastet werden, soweit sie diese nicht nachweisen können.

Gespannt sein darf man schließlich auf die gesetzliche Ausgestaltung der wiederholten Karenzzeit bei „jeder Gründung“. Grundsätzlich ist es sinnvoll, eine Überforderung von Existenzgründern durch Beitragslasten in der unmittelbaren Aufbauphase zu vermeiden. Dem Ziel einer Entlastung der Grundsicherung im Alter würde es aber entgegenstehen, könnten sich Selbstständige schlimmstenfalls durch Ketten-Umfirmierungen auf Dauer der Vorsorgepflicht entziehen.

Fazit

Mit Blick auf die Altersvorsorge enthält der Koalitionsvertrag einen Strauß von Vereinbarungen durch die bestehende Gerechtigkeitslücken geschlossen oder verkleinert werden könnten. In Bezug auf das von den Koalitionären gewählte Motto „Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ zeigen sich jedoch erhebliche Defizite.

Dies gilt vor allem für die Verweigerung grundlegender Antworten auf die demografischen und finanziellen Herausforderungen der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025. Durch das Unterlassen frühzeitiger und nachhaltiger Reformen droht – ähnlich wie in der vom Bundesverfassungsgericht jüngst gerügten Klimapolitik – eine einseitige Belastung kommender Generationen mit den unausweichlichen Folgen heutiger Untätigkeit. Die bereits mittelfristig zu erwartende Beitrags- und Steuerlast wird deren wirtschaftliche Freiheit über ein bisher nicht gekanntes Maß hinaus einschränken. Diese einseitige Belastung der Jungen widerspricht dem Gebot der Generationengerechtigkeit.

Ähnliche Gerechtigkeitsdefizite begründen die Aussagen zur Alterssicherungspflicht für Selbstständige. Die Belastungen ungenügender Vorsorge durch die heute Selbstständigen werden nach deren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die künftigen Steuerzahler in Form von Grundsicherung im Alter zu tragen haben. Besonders ungerecht erscheint dies, weil durch die Einführung der Vorsorgepflicht allein für die meist jüngeren neuen Selbstständigen diese nicht nur künftig mit einer erhöhten Steuerlast, sondern bereits heute mit Wettbewerbsnachteilen belastet werden.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Koalition bei der Umsetzung des Vertrags auf dessen Leitgedanken besinnt und in diesen Fragen noch nachsteuert.

Dr. Christian Mecke

ist Richter am Bundessozialgericht