Revidierte Europäische Sozialcharta

Beitritt Deutschlands nach fast 25 Jahren – unter bedenklichen Vorbehalten!

von Eberhard Eichenhofer | Dezember 2020

Am 25. November 2020 ist das „Gesetz zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996“ in Kraft getreten. Fast 25 Jahre hat es damit gedauert, bis Deutschland die revidierte Sozialcharta angenommen hat. Doch auch das nur unter bedenklichen „Vorbehalten“. Insbesondere an das „Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ und „das Recht auf Wohnung“ fühlt sich Deutschland nicht gebunden. Warum nicht? Hier werden die Hintergründe erläutert.

1. Die zu lange verschmähte Revision der Sozialcharta

Gemeinsam mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bildet die 1961 geschaffene Europäische Sozialcharta (ESC) das Rückgrat der Menschenrechte in Europa. Beide Rechtsakte wurden vom Europarat hervorgebracht. Dieser sitzt seit 1949 in Straßburg und hat 47 europäische Staaten als Mitglieder, etwa Serbien, Georgien, Armenien oder Albanien – auch die Türkei und Russland, aber nicht Belarus.

Am 3. Mai 1996 beschloss der Europarat, die ESC an die vorangegangenen Fortentwicklungen des Arbeits- und Sozialrechts anzupassen, die Rechte neu und erweiternd zu fassen und dafür die ESC zu revidieren. Die Revidierte Europäische Sozialcharta (RevESC) wurde seither von vielen Staaten gezeichnet, ratifiziert und in ihr Recht überführt – allerdings nicht von Deutschland.

Die Bundesrepublik Deutschland zeichnete zwar die 1961 in Turin geschaffene ESC sofort, nahm sie 1964 an und setzte sie 1965 in Geltung. Trotz ihrer Revision unterließ Deutschland jedoch die Übernahme der geänderten, modernisierten ESC – über Jahrzehnte! 2007 wurde das Vertragswerk lediglich unterschrieben. Die Ratifizierung stand aber weiterhin aus. Unterblieb dies aus der Furcht vor möglichen Fehlern, weil es – was anfangs dieser Legislaturperiode ein maßgeblicher Politiker verlauten ließ – angeblich eine Tugend sei, besser nichts zu tun, statt das Falsche? Es hat fast den Anschein.

Doch schließlich kam Schwung in die Angelegenheit. Nachdem Ende 2017 die Bildung einer Bundesregierung vorgeblich an der Furcht, beim Regieren etwas falsch zu machen, gescheitert war, fand sich eine andere Regierungsmehrheit mit dem Versprechen, einen neuen Aufbruch in Europa zu wagen. Nachdem die beiden, die Bundesregierung seither abermals tragenden Fraktionen von CDU/CSU und SPD übereinkamen, dass Deutschland der RevESC nun (endlich) zustimmen solle, unterbreitete die Bundesregierung mit dem „Gesetz zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996“ (BT-Drs. 19/20967) am 20. Juli 2020 einen Gesetzgebungsvorschlag. Darin wird die Übernahme der RevESC vorgeschlagen, allerdings mit mehreren Vorbehalten.

Sie betreffen:

Mehr dazu findet sich im zweiten Beitrag dieses Themas des Monats.

Zwei weitere und wichtige Vorbehalte betreffen das Recht auf Existenzsicherung und das Recht auf Wohnung (Art. 30,31).

2. Gründe für die späte Billigung der RevESC

Folgt man den gesetzgeberischen Erwägungsgründen für die Ratifikation, versteht man nicht, warum sich Deutschland damit ein ganzes Vierteljahrhundert Zeit gelassen hat. Denn die Bundesregierung bringt in ihrem Gesetzesentwurf (BT-Drs.19/20967) höchst billigenswerte Motive für die Annahme der RevESC vor: Dadurch solle die „älteste europäische Organisation“ (S. 42) gestärkt werden. Dies geschehe in Anerkennung dessen, dass der Europarat seit seinem Bestehen mit 200 Konventionen „Kernelemente der Arbeits- und Sozialrechtsintegration“ (S. 42) formuliert habe.

Die RevESC modernisiere die ESC aus 1961 durch die Aufnahme zahlreicher neuer Rechte auf:

Des Weiteren sehen Art. 30 RevESC ein „Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ vor und Art. 31 RevESC gewährt ein „Recht auf Wohnung“. Eine zentrale Bestimmung der ESC ist die strikte Gleichbehandlung von Angehörigen aller Vertragsstaaten bei sämtlichen, in der Sozialcharta gewährleisteten wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten (Art. E RevESC).

Schließlich weist die Bundesregierung zur Begründung für ihren Schritt auf die – im Europarats-Jargon nach dem Ort der Verabschiedung der ESC als „Turin-Prinzip“ bezeichnete – Einsicht hin: „Die Sozialcharta kann ihre Aufgabe, dem sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt der europäischen Völker zu dienen, nur erfüllen, wenn sie für möglichst viele Mitgliedsstaaten des Europarats verbindlich ist“ (BT-Drs. 19/20976, S. 50).

Aus dieser Erkenntnis folgt nicht nur die Notwendigkeit zu einer allseitigen Ratifikation der RevESC, sondern auch, dass diese schnell und möglichst ohne jeglichen Vorbehalt seitens der Mitgliedstaaten geschieht. Kein Europe à la carte! Die europäische Integration im Arbeits- und Sozialrecht wird – anders formuliert – weder durch Untätigkeit noch Trödelei noch gar Eigenbrötelei gefördert. Es ist daher gut, dass mit der jetzt endlich erfolgten Ratifikation der RevESC eine unvertretbar lange Phase deutscher Untätigkeit endet. Am 8. Oktober 2020 wurde der Gesetzentwurf mit einer Änderung (BT-Drs. 19/23182 – Beschlussempfehlung) vom Bundestag angenommen. Am 6. November stimmte der Bundesrat zu. Am 24. November wurde das „Gesetz zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996“ im Bundesgesetzblatt verkündet.

Am 25. November 2020 trat es in Kraft – 24 Jahre und sechs Monate, nachdem die RevESC im Europarat beschlossen worden war.

3. Überblick über die RevESC

Die RevESC vom 3. Mai 1996 führt insgesamt 31 „Grundsätze” auf (Teil I) und formuliert auf dieser Grundlage 31 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (die amtliche deutsche Übersetzung findet sich hier im Bundesgesetzblatt).

Die Präambel hebt die Unteilbarkeit aller Menschenrechte hervor und formuliert Grundsätze, die den Kern der gewährleisteten Rechte festhalten.
Darunter finden sich in Teil I folgende Gewährleistungen:

für Arbeitnehmer und Arbeitgeber das

für Arbeitnehmervertreter im Betrieb

für die Beschäftigten

„Jedermann“ (so der Text) hat

Menschen mit Behinderungen haben

Familien

Ältere Menschen haben

Kinder und Jugendliche haben

Staatsangehörige aller Vertragsstaaten haben

Diese Grundsätze werden in Teil II der RevESC durch einzelne Rechtsverbürgen eingehender umschrieben und detaillierter ausgeformt.

4. Zwei gewichtige Vorbehalte

Wird die Freude darüber, dass nun endlich auch Deutschland in Sachen RevESC das Notwendige, weil längst Überfällige ermöglicht, durch die geltend gemachten Vorbehalte getrübt? Die wichtigsten Vorbehalte gelten dem in Art.30 RevESC formulierten Recht auf Existenzsicherung und dem in Art. 31 RevESC normierten Recht auf Wohnung.

Daneben wurden in Artikel 1 des gerade beschlossenen Gesetzes noch gegen weitere fünf Bestimmungen der RevESC sowie gegen mehrere Auslegungserklärungen Vorbehalte angebracht. Sie betreffen wichtige und grundlegende Bestimmungen des Arbeitsrechts und sollen im Hinblick auf die sozialrechtliche Ausrichtung dieser Website nicht eingehend gewürdigt werden.

Die Vorbehalte zum „Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ betreffen dagegen elementare Fragen des Sozialrechts. Sie ergingen mit der Begründung, die angesprochenen Rechte seien „nicht ausreichend konturiert“ (BT-Drs. 19/20976, S. 75), weshalb ihre „Umsetzung in nationales Recht problematisch“ werde. Außerdem würde diese von „einer oftmals extensiven Auslegung der Verpflichtungsgrundlagen der Charta durch den Sachverständigenausschuss“ gekennzeichnet. Damit ist der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte (European Commission of Social Rights) angesprochen, welcher die Wahrung der ESC durch die Mitgliedstaaten überwacht. Es sei aus diesen Gründen „erforderlich“, die Anwendung dieser Vorschriften „für Deutschland gänzlich auszunehmen“.

Ist diese Argumentation wirklich stichhaltig? Hat Deutschland im SGB II und SGB XII das Recht auf Existenzsicherung unzureichend ausgeformt und im Wohngeldrecht, dem Recht des sozialen Wohnungsbaus und dem durch Landesverfassungsrecht konkretisierten Schutz vor Obdachlosigkeit (z.B. Recht auf Wohnung Art. 106 BayVerf; Art. 28 Verf v Berlin; Art.47 BrbgVerf; Art. 14 BremVerf; Art.17
Meck-VorpVerf; Art. 6a NdsVerf; Art. 63 RhPfVerf; Art. 90 LVerfSachAnh; Art.15 und 16 Th Verf.; Art 17 Abs. 3 Meck-VorpVerf.) das Recht auf Wohnung unklar geregelt?

Es muss bei diesen Rechten nichts „umgesetzt“ werden: Warum soll das deutsche Recht international dann nicht anschlussfähig sein? Ist hierzulande das Recht auf Existenzsicherung unbekannt oder folgt es nicht aus der Menschenwürde? Kann einem Kontrollorgan für die ESC wirklich überzeugend entgegengehalten werden, dass es die ihm zur Überprüfung unterbreiteten Rechte ernst nimmt und daher „extensiv auslegt“?

5. Der eigentliche Stein des Anstoßes

Alle diese Einwände treffen nicht den Kern. Vielleicht ist der wahre Grund des Vorbehalts der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt worden. Als der eigentliche Stein des Anstoßes erscheint das Gebot der Gleichbehandlung aller Angehöriger der Vertragsstaaten in Sozialhilfe und beim Schutz gegen Wohnungslosigkeit im Teil III in Artikel E der RevESC (s. folgenden Hinweis).


Artikel E
Diskriminierungsverbot

Der Genuss der in dieser Charta festgelegten Rechte muss ohne Unterscheidung
insbesondere nach der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der
Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen
Herkunft, der Gesundheit, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, der Geburt oder dem sonstigen Status gewährleistet sein.


Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) folgt seit langem und geradezu mit Inbrunst einem ganz anderen Pfad, weil hierzulande in § 7 SGB II und 23 SGB XII bei der Sozialhilfe zwischen In- und Ausländern unterschieden wird, weshalb „Ausländer“ bei Sozialhilfeabhängigkeit – notfalls mit Unterstützung durch die Sozialhilfeträger – auch zur Ausreise „motiviert“ werden dürfen (siehe dazu auch hier).

In diesem Credo gründet der sozial- und migrationspolitische Basiskonsens der Großen Koalition, der diese nun schon seit mehreren Wahlperioden zusammenhält.

Dem Recht des Europarates sind solche Vorstellungen hingegen eher fremd. Schon das 1953 verabschiedete Europäische Fürsorgeabkommen verpflichtete die Staaten, bei der Gewährung der Sozialhilfe nicht nach der Staatsangehörigkeit zu unterscheiden, und es untersagte ferner die Abschiebung von „Ausländern“ wegen Sozialhilfebedürftigkeit. Diese Gewährleistungen sind nach dem genannten Abkommen auf die Ausländer mit Aufenthaltsrecht beschränkt. Die Sorge, dass durch die Verabschiedung von Art.30 und 31 RevESC Armutswanderungen in Europa ausgelöst würden, ist also unbegründet.

Ungeklärt ist jedoch der sozialrechtliche Status von Staatsangehörigen aus Europaratsstaaten mit Aufenthaltsrecht in Deutschland, namentlich falls sie hilfebedürftig werden und das Europäische Fürsorgeabkommen für sie nicht gilt, weil ihre Heimatstaaten diesem nicht beigetreten sind. Durch Art. 30 und 31 RevESC soll diesen Personen aus allen Europaratsstaaten bei einem bestehenden Aufenthaltsrecht ein dem Aufenthaltsstaat entsprechender Schutzstandard bei Sozialhilfebedürftigkeit und Wohnungslosigkeit zuerkannt werden – ganz so wie es das Europäische Fürsorgeabkommen von 1953 vorsieht. Deutschland erhebt dagegen den genannten Vorbehalt.

Die Thematik ist in der Tat europaweit höchst umstritten und schwierig. Sie beschäftigte über viele Jahre den Europäischen Gerichtshof (EuGH) [EuGH v. 11.11.2014, Az.: C-333/13 (Dano); EuGH v. 15.9.2015, Az.: C- 67/14
(Alimanovic); EuGH v. 25.2.2016, Az.: C-299/14 (García-Nieto); EuGH v. 6.10.2020, Az.: C- 181/19 (Jobcenter Krefeld)].

Die Rechtslage scheint dadurch nur vorläufig befriedet. Denn sie erregt europaweit die Politik. Der Vorbehalt im jüngsten Gesetz versucht jedoch, dieser Thematik zu entrinnen und damit der Debatte auszuweichen. Aber auch hier gilt: Nichtstun heißt nur, den Kopf in den Sand stecken, ist aber auf die Dauer keine Lösung!

6. Bewertung

Sicher war eine unzureichende Ratifizierung der RevESC besser als gar keine. Die entgegengesetzte Maxime huldigte aus vorgeschütztem Perfektionismus dem Immobilismus und wäre deshalb ganz unpolitisch, ja geradezu weltentrückt! Deshalb war nun eine Ratifizierung unter den erwähnten Vorbehalten immer noch besser als ein weiteres dumpfes Zuwarten.

Aber der Vertiefung der europäischen Integration ist wenig gedient, wenn Deutschland bei einer zentralen Thematik ausweicht und sozialhilferechtliche Unterscheidungen zwischen Inländern und Ausländern, die durch die europäische Integration gerade überwunden werden sollen, zu verteidigen oder gar zu retten versucht.

Es ist auch nicht ausgemacht, ob die Vorbehalte wirklich zureichend menschenrechtlich fundiert sind. Bekanntlich leitet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum aus der Menschenwürde ab (z.B. BVerfG v. 9.2.2010, Az.: 1 BvL 1,3,4/09; BVerfG v. 18.7.2012, Az.: 1 BvL 10/10, 2/11) – und gerade nicht aus der Staatsbürgerstellung. Mit diesem Rechtsgebot steht der von Deutschland gegen die RevESC erklärte Vorbehalt in Widerspruch. Der von Deutschland angekündigte „neue Aufbruch für Europa“ bleibt insoweit aus! Die beiden Vorbehalte gegen das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung und das Recht auf Wohnung stehen nicht für europäisches Denken, sondern für Eigenbrötelei.

Prof. Dr. Dr. h.c. Eber­hard Eichen­hofer,

Universitäts­professor für Sozial­recht und Bürger­liches Recht an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena i. R.