Rentenpolitische Herausforderungen für die nächste Wahlperiode

Gelöste und ungelöste Fragen der Alterssicherung

von Christian Mecke | Juni 2021

Die 19. Wahlperiode des Bundestages neigt sich ihrem Ende zu. Wesentliche, bisher noch nicht in das parlamentarische Verfahren eingebrachte Gesetzgebungsprojekte sind nicht mehr zu erwarten. Dies gilt auch für die Rentenpolitik. Welche Fragen der Alterssicherung wurden in der fast vergangenen Wahlperiode gelöst, welche dringenden Fragen sind weiterhin offen? Hier erfolgt ein Überblick.

Einige rentenpolitische Projekte der amtierenden Regierungskoalition – wie beispielsweise die Grundrente (siehe hier) – sind abgearbeitet. Andere, wie z.B. die Alterssicherungspflicht für Selbstständige, die ebenfalls zu den Kernpunkten des letzten Koalitionsvertrags gehörte, wurden angegangen, sind jedoch (erneut) gescheitert.

Aber auch drängende grundsätzliche Zukunftsfragen der gesetzlichen Rentenversicherung wurden nicht gelöst bzw. nicht einmal ernsthaft angegangen. Nach dem Motto „wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis“ wurde die Befassung mit ihnen schon im Koalitionsvertrag einer Expertenkommission zugewiesen und von dieser auf die nächste oder gar übernächste Legislaturperiode vertagt.

1. Die Demografie-Falle

Das wohl drängendste Problem der gesetzlichen Rentenversicherung ist die demografische Entwicklung der nächsten 15 Jahre. Bereits heute steht fest, dass diese von einem steilen Anstieg des Anteils der Menschen im Rentenalter an der Gesamtbevölkerung gekennzeichnet ist. Schon in einem mittleren Szenario (bezogen auf Geburtenhäufigkeit, Mortalität und Wanderungssaldo) wird der Bevölkerungsanteil im gesetzlichen Rentenalter bis 2038 von gegenwärtig etwa 21 % auf über 26 % ansteigen.

Deutlicher werden die Konsequenzen dieser Entwicklung beim Blick auf den Altersquotient: So wird der Anteil der Menschen über dem früheren Regelrentenalter von 65 Jahren zu den Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren von gegenwärtig etwa 36 % bereits um das Jahr 2032 die Marke von 50 % überschreiten und sich danach zunächst knapp unter 55 % einpendeln. Das machte der Ende März 2020 vorgelegte Bericht der Kommission Verlässlicher Generationenvertrag (im Folgenden: Rentenkommission) deutlich (s. Bd. I, S. 43 ff.).

Grob vereinfacht bedeutet dies, dass im Rahmen des die gesetzliche Rentenversicherung seit 1957 beherrschenden Umlageverfahrens aus den Beiträgen eines Beschäftigten jeweils die Rente einer Person im Rentenalter finanziert werden muss. Hieraus folgt ein sich stetig weiter verschärfender Interessenkonflikt zwischen gegenwärtigen und künftigen Rentnerinnen und Rentnern auf der einen Seite sowie Beschäftigten und Arbeitgebern auf der anderen Seite. Während die einen im Hinblick auf die ihnen in der Vergangenheit auferlegten Beitragslasten Anspruch auf ein auskömmliches Sicherungsniveau haben, haben die anderen einen Anspruch darauf, in ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Handlungsfreiheit durch Beiträge nicht über Gebühr beeinträchtigt zu werden, was eine Gesamtschau der Beiträge zu allen Zweigen der Sozialversicherung sowie der Steuerlast erfordert.

2. „Doppelte Haltelinien“

Vorübergehend entschärft wurde dieser Konflikt durch die „doppelte Haltelinie“ des Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 28. November 2018. Hierdurch wurde die Rentenanpassungsformel um eine Niveausicherungsklausel ergänzt. Dadurch werden die Renten bis 2025 so angepasst, dass mindestens ein Sicherungsniveau vor Steuern von 48 % erreicht wird. Zugleich wurde eine Beitragssatzgarantie eingeführt, um den Beitragssatz bei 20 % zu halten, indem bei Bedarf weitere Bundesmittel für die Rentenversicherung bereitzustellen sind.

„Gelöst“ wurde der Konflikt also allein durch die erweiterte Kofinanzierung der Renten durch Steuermittel. Hierdurch wurden die Steuerzahler als dritte Gruppe (verstärkt) in den Konflikt hineingezogen, wobei selbstverständlich weitreichende Überschneidungen mit den beiden zuvor benannten Gruppen bestehen. Zugleich darf nicht verkannt werden, dass sich das Interesse der Steuerzahler nicht allein darin erschöpft, allenfalls im Rahmen des Ausgleichs sog. versicherungsfremder (gesamtgesellschaftlicher) Aufgaben zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung herangezogen zu werden. Vielmehr besteht ihr Interesse zugleich darin, nicht für die Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter als Folge unzureichender privater Vorsorge einstehen zu müssen.

3. Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“

Vor diesem Hintergrund richteten sich in der Öffentlichkeit große Erwartungen auf die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“, auch bekannt unter der Kurzbezeichnung „Rentenkommission“. Diese war bereits im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für die 19. Wahlperiode vereinbart und kurz nach der Regierungsbildung durch Beschluss des Bundeskabinetts vom 15. Mai 2018 eingesetzt worden, um „sich mit den Herausforderungen der nachhaltigen Sicherung und Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung und der beiden weiteren Rentensäulen ab dem Jahr 2025“ zu befassen sowie bis März 2020 „eine Empfehlung für einen verlässlichen Generationenvertrag“ vorzulegen. Jedoch war der Auftrag dieser Kommission von vornherein beschränkt, indem schon der Koalitionsvertrag eine Festlegung auf eine Fortschreibung der „doppelten Haltelinie“ enthielt.

Für ihre Arbeit bediente sich die Rentenkommission verschiedener wissenschaftlicher Vorausberechnungen, deren Ergebnisse einen erheblichen Finanzbedarf für die gesetzliche Rentenversicherung ab 2025 aufgrund des demografischen Wandels zeigten (Bericht Rentenkommission, Bd. I, S. 15 f.). Den Kern des sich hieraus ableitenden rentenpolitischen Dilemmas fasste die Kommission in ihrem Leitgedanken 5 (Bd. I, S. 14) zusammen:

„Die demografische Entwicklung wird zu einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung in der gesetzlichen Rentenversicherung führen. Für die nächsten Jahrzehnte muss deshalb das Finanzierungsgefüge neu justiert werden. Ein dauerhaft verlässlicher Generationenvertrag verlangt also die ausgewogene finanzielle Beteiligung aller (Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, Rentnerinnen und Rentner).“

Eine Antwort auf die implizierte Frage, wie die Neujustierung des Generationenvertrags und konkret des Finanzgefüges der gesetzlichen Rentenversicherung für die nächsten Jahrzehnte aussehen soll, blieb die Kommission jedoch schuldig. Zwar hat die Kommission die verschiedenen Parameter, die die Rentenfinanzen beeinflussen und in Wechselwirkung zueinanderstehen (Beitragssatz, Sicherungsniveau, Renteneintrittsalter sowie versicherter Personenkreis und Bundesmittel) durchaus in den Blick genommen, blieb jedoch letztlich an den Berichtsauftrag, doppelte Haltelinien zu entwickeln, gebunden. Dementsprechend empfahl sie einen „Dreiklang“ (Bd. I, S. 17 ff.) bestehend aus

  1. gesetzlich verbindlichen Haltelinien für das Sicherungsniveau vor Steuern und den Beitragssatz für einen Zeitraum von jeweils sieben Jahren,
  2. gesetzlich perspektivischen Haltelinien für einen Zeitraum von jeweils 15 Jahren und
  3. neuen sozialstaatlichen Bezugsgrößen im Rentenversicherungsbericht (Gesamtsozialversicherungs- und Vorsorgeaufwand sowie Abstand der verfügbaren Standardrente zum durchschnittlichen Bedarf der Grundsicherung im Alter).

Zur Lösung der Zukunftsfragen schlug die Kommission die Umgestaltung des heutigen Sozialbeirats der Bundesregierung zu einem für alle Säulen der Altersvorsorge sowie die Empfehlungen für die Festlegung der verbindlichen und perspektivischen Haltelinien zuständigen Alterssicherungsbeirat vor. Dieser soll dann erstmals Anfang 2026 auch eine Empfehlung darüber abgeben, ob und in welcher Weise eine weitere Anhebung der Altersgrenze erfolgen soll.

Die Debatte hierüber ist aber längst entbrannt, wie auch die sehr kontrovers diskutierten Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi)  vom 7. Juni 2021 für eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Entwicklung der Lebenserwartung zeigen. Der DGB hat dazu sehr kritisch Stellung genommen (siehe hier).

4. Tatsächliche Lebensarbeitszeit

Die Entscheidung der Rentenkommission, die Frage der weiteren Anhebung der Altersgrenzen für die Zeit nach 2030 auf den Beginn der 21. Wahlperiode zu vertagen, war bereits innerhalb der Kommission umstritten (vgl. Sondervotum Axel Börsch-Supan, in: Bericht Rentenkommission, Bd. I, S. 94). Auch von anderen Seiten ist sie scharf kritisiert worden, so etwa vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Finanzen.

Unter akuten Rechtfertigungszwang gerät diese Politik des Aufschiebens nunmehr auch durch den jüngsten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz (Beschluss vom 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18 u. a.), sofern hierdurch Belastungen unumkehrbar auf künftige Beitrags- und Steuerzahler sowie Rentenjahrgänge verschoben werden. Angesichts des mehrere Generationen umfassenden Zeithorizonts rentenpolitischer Entscheidungen wird es zu den wichtigsten Aufgaben einer Regierung in der 20. Wahlperiode gehören, die mit einer stetig steigenden Lebenserwartung und einer kurzfristig massiven Änderung des Altersquotienten verbundenen Fragen umfassend zu beleuchten und eine sowohl nachhaltige wie auch sozialverträgliche Lösung zu entwickeln. Dabei werden insbesondere auch Beschäftigte in besonders belasteten Berufen sowie die Probleme einer sozialdifferenzierten Lebenserwartung und massiver Nachteile für betriebliche und private Altersvorsorge in den unteren Einkommensgruppen in den Blick zu nehmen sein.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind Maßnahmen zur Anhebung der tatsächlichen Lebensarbeitszeit, ohne die eine Anhebung der Altersgrenzen lediglich eine Rentenkürzung durch die Hintertür wäre. Aber auch unabhängig von der Frage einer Anhebung der Altersgrenze besteht neben einem gesellschaftlichen typischerweise auch ein individuelles Interesse der Versicherten an einer Verlängerung der tatsächlichen Lebensarbeitszeit. Für die Einzelnen ist eine möglichst durchgängige Erwerbsbiografie bis zur Regelaltersgrenze und in guter Arbeit mit guten Löhnen eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine auskömmliche Altersversorgung (vgl. Bericht Rentenkommission, Bd. I, S. 24).

Von zentraler Bedeutung hierfür sind Leistungen der Prävention und Rehabilitation, die die körperliche und seelische Gesundheit erhalten und nach dem Eintritt von Krankheiten den Verbleib bzw. die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben ermöglichen. Zwar konnte durch das Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen das von den Rentenversicherungsträgern bisher praktizierte „offene Zulassungsverfahren“ bei der Beschaffung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation neu justiert und vergaberechtskonform ausgestaltet werden (siehe auch hier).

Doch fehlt es trotz entsprechender gesetzlicher Vorgaben weiterhin an einer funktionierenden trägerübergreifenden Zusammenarbeit und Beratung. Deshalb beklagt die Rentenkommission zu Recht (Bd. I, S. 108), dass trotz unbestrittener Bemühungen und konkreter Verbesserungen die Aufgaben in den Versicherungszweigen teilweise nur trägerspezifisch isoliert gedacht und wahrgenommen, Synergiepotenziale zu wenig genutzt sowie Systeme und Organisationseinrichtungen mehrfach vorgehalten werden.

Eine künftige Bundesregierung wird daher sicherzustellen haben, dass diese Missstände abgestellt werden. Insbesondere im Interesse der Versicherten müssen endlich auch in der Praxis der jeweiligen Träger Angebote anderer Träger mitgedacht und mit den eigenen Angeboten abgestimmt werden, so dass Beratung, Betreuung und Leistung entsprechend dem Geist des SGB IX aus Versichertensicht „wie aus einer Hand“ erfolgen.

5. Altersvorsorgepflicht für Selbstständige

Unabhängig von den aktuellen Debatten um eine Erwerbstätigenversicherung sowie Nutzen und Machbarkeit einer Verbreiterung des versicherten Personenkreises der gesetzlichen Rentenversicherung unter Einbeziehung auch von Abgeordneten und Beamten ist eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige seit langem überfällig. Spätestens seitdem die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen im März 2012 mit einem Eckpunktepapier „für eine Altersvorsorgepflicht für selbständig tätige Erwerbspersonen“ (siehe hier) an die Öffentlichkeit ging, steht das Thema dauerhaft auf der politischen Agenda.

Heute wird die Notwendigkeit einer solchen Vorsorgepflicht von allen Bundestagsparteien anerkannt, wenn auch die Meinungen über das „Wie“ weiterhin weit auseinandergehen. Dennoch sind bisher alle Versuche gescheitert, eine solche gesetzliche Vorsorgeverpflichtung gesetzlich zu verankern. Dieses Schicksal ereilte auch den zuletzt für Anfang 2021 erwarteten Entwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der trotz entsprechender Vereinbarungen im Koalitionsvertrag am Widerstand der CDU scheiterte (siehe hier).

Damit verlängert sich ein deutscher Sonderweg. Denn im europäischen Vergleich ist festzustellen, dass Selbstständige in fast allen Staaten in die Alterssicherungssysteme einbezogen sind. Allerdings sind sowohl diese Systeme als auch die Bedingungen, unter denen Selbstständige dort versichert sind, sehr unterschiedlich ausgestaltet. Das zeigt auch ein Bericht der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung zur sozialen Absicherung von Crowdworkern in Europa. Weitere Informationen zur unterschiedlichen Absicherung der Selbstständigen sind in dem gegenseitigen Informationssystem für die soziale Sicherheit (Missoc) der EU (siehe hier) zu finden.

5.1 Altersvorsorge von Selbstständigen reicht bei Weitem nicht

In Deutschland ist nur eine Minderheit der Selbstständigen in die Sicherungssysteme einbezogen und auch die Eigenvorsorge ist zumeist unzureichend.

In der gesetzlichen Rentenversicherung waren nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung am 31. Dezember 2017 insgesamt 305.695 Selbstständige aktiv versichert. Dies waren 13.912 Antrags-Pflichtversicherte, 52.297 Handwerker, 177.511 Künstler und Publizisten sowie 61.975 nach § 2 Satz 1 SGB VI Versicherte.

Zwar ist eine bedeutende Anzahl Selbstständiger in den berufsständischen Versorgungswerken pflichtversichert; im Bericht der Rentenkommission (Bd. I, S. 100) wird sie mit 0,4 Millionen angegeben. Jedoch geht eine Studie des Institute of Labor Economics (IZA) (S. 46 f.) davon aus, dass Ende 2017 nur gut ein Viertel aller Selbstständigen der Altersvorsorgepflicht in einem der gesetzlichen Sicherungssysteme unterlag. Es kann also angenommen werden, dass von 3,5 Millionen kernerwerbstägigen Selbstständigen gut 2,6 Millionen von keinem der gesetzlichen Alterssicherungssysteme erfasst werden.

Gleichzeitig kann nicht davon ausgegangen werden, dass der nicht pflichtversicherte Teil der Selbstständigen in bedarfsdeckendem Maße private Vorsorge betreibt. Insbesondere viele der geringverdienenden Selbstständigen bilden nicht die notwendigen Rücklagen, um dauerhaft ihren Lebensunterhalt im Alter bestreiten zu können. Nach einer Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2016 verfügen gerade einmal 17 % aller Haushalte, in denen Selbstständige leben, über ein frei verfügbares Geld-, Aktien-, Anleihen- oder Investmentfondvermögen von mehr als 100.000 Euro.

Auch diese zunächst stattlich wirkende Summe ist für eine auskömmliche Altersvorsorge bei Weitem nicht ausreichend. So muss man sich vor Augen halten, dass, um monatlich (nur) 1.000 Euro zur Verfügung zu haben – ohne Berücksichtigung von Zins und Inflation –, ein Kapitalstock von 216.000 Euro notwendig ist, um die Zeit zwischen Vollendung des 67. und 85. Lebensjahres abzudecken. Selbst unter Berücksichtigung des Immobilienvermögens wird diese Marke von 60 % der Haushalte mit Selbstständigen nicht erreicht. Darüber hinaus müssen Selbstständige auch im Alter regelmäßig die vollen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung selbst tragen. Selbst im Basistarif der privaten Krankenversicherung erfordert dies zurzeit rund 770 Euro im Monat zzgl. weiterer rund 150 Euro für die Pflegeversicherung. Die monatliche Entnahme von 1.000 Euro wird also allein hierdurch schon aufgebraucht.

Dass die Alterssicherung vieler Selbstständiger tatsächlich nicht ausreichend ist, zeigt sich schon heute an der Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII. So liegt der Anteil zuletzt Selbstständiger unter den Über-65-jährigen mit Grundsicherungsbezug bei 17 %, während ihr Anteil unter den Personen dieser Altersgruppe ohne Grundsicherungsbezug nur bei 10 % liegt. Bereits die Grundsicherungsquote aller zuletzt Selbstständigen – einschließlich der obligatorisch Altersgesicherten – liegt mit 3,7 % sehr viel höher als die Quote der zuletzt als Arbeiter oder Angestellte Beschäftigten (2,2 %). Noch einmal deutlich höher liegen die Grundsicherungsquoten der meist nicht obligatorisch abgesicherten sonstigen Freiberufler (7,9 %) und Gewerbetreibenden (6,2 %). Das geht aus dem Forschungsbericht „Alterssicherung in Deutschland 2015“ (S. 102 f.) sowie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Linken (BT-Drs. 18/10762, S. 56 f.) zur sozialen Lage und Absicherung von Solo-Selbstständigen hervor. Die Pflicht zur Altersvorsorge schützt daher nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gemeinschaft der Steuerzahler.

 5.2 Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung oder maximale Wahlfreiheit?

Vor diesem Hintergrund notwendig und vorzugswürdig erscheint die Einbeziehung aller Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung, soweit keine obligatorische Absicherung in einem der anderen gesetzlichen Systeme besteht. Dies forderte etwa 2016 auch Eva M. Welskop-Deffaa (damals im verdi-Bundesvorstand, heute Vorstand für Sozial- und Fachpolitik im Deutschen Caritasverband) in der Fachzeitschrift Soziale Sicherheit 8/2016 (S. 307). Anderenfalls ist damit zu rechnen, dass die – häufig unfreiwillige und doch stets zu Wettbewerbsverzerrungen führende – fehlende oder ungenügende Vorsorge vieler Selbstständiger im Alter auf Kosten der Steuerzahler ausgeglichen werden muss.

Nach der Empfehlung der Rentenkommission (Bd. I, S. 101) soll es zwar eine allgemeine Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen, die nicht bereits anderweitig obligatorisch abgesichert sind, geben. Dabei sollen die Selbstständigen allerdings zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und – als Opt-out Lösung – anderen geeigneten insolvenzsicheren Vorsorgearten wählen können.

Abzulehnen ist hingegen der Gedanke einer maximalen Wahlfreiheit, die sowohl die Vorsorgeform als auch deren Umfang umfassen soll. Dies sieht etwa ein Antrag der FDP-Bundestagsfraktion vom November 2019 (BT-Drs.19/15232) vor. Eine völlige Wahlfreiheit der Vorsorgeform steht in einem unlösbaren Widerspruch zur angestrebten „Pflicht“ zur Altersvorsorge. Schon die häufig geforderte Möglichkeit eines freien Wechsels zwischen höheren und niedrigeren Einzahlungen oder auch Einmalzahlungen bietet keinerlei Gewähr, dass zum Ende des Erwerbslebens tatsächlich die angestrebte Mindestsicherung in Form einer Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus erreicht wird bzw. das notwendige Kapital für eine entsprechende Einmalzahlung zur Verfügung steht. Sofern die Pflichtvorsorge auch mittels Unternehmensbeteiligungen, Investmentfonds, ETFs, Immobilien und Betriebsvermögen betrieben werden soll, müsste ein jährlich steigender Betrag der nicht vorsorgegerechten Verwendung durch den Vorsorgenden wie auch dem Zugriff von Gläubigern entzogen werden. Ohne eine institutionelle Trennung von der Altersvorsorge dienendem Vermögen sowie Rücklagen zu betrieblichen oder anderen privaten Zwecken wäre eine Pflicht zur Altersvorsoge in Bezug auf solche „Vorsorgeformen“ nicht zu überwachen und liefe faktisch leer.

Schließlich würde das mit diesen und vergleichbaren Anlageformen verbundene Risiko von Wertschwankungen der Gemeinschaft der Steuerzahler überbordet, die Grundsicherungsleistungen zu erbringen hätte, sollten sich die Anlagen im Alter als nicht so werthaltig erweisen wie erhofft. Erinnert sei nur an das Platzen der Immobilienblase in den USA im Jahr 2008 und die sich anschließende weltweite Finanzkrise oder an die häufigen Totalausfälle bei zur Altersversorgung eingeplanten Erlösen aus dem Verkauf von Landarztpraxen oder Apotheken.

Ebenfalls kritisch zu bewerten sind Vorschläge für eine uneingeschränkte Wahlfreiheit hinsichtlich der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung. Nicht nur, dass dies dem Solidargedanken der Sozialversicherung widerspricht. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich vor allem bei hybriden Erwerbsverläufen mit einem wiederholten Wechsel zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung, mit denen zukünftig verstärkt zu rechnen ist. Auch bei einem mehrfachen Statuswechsel müssen gesetzliche und private Absicherung ohne nachteilige Brüche in der Versicherungsbiografie ineinandergreifen.

Schließlich muss auch die Funktionsfähigkeit und Stabilität des Sozialversicherungssystems gewährleistet werden, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang darstellt (Beschluss vom 31.10.1994, Az.: 1 BvR 35/82 u.a.; Beschluss vom 20.03.2001, Az.: 1 BvR 491/96; Beschluss vom 13.09.2005, Az.: 2 BvF 2/03). Dies verbietet es, eine Risikoselektion zu Lasten der Sozialversicherung zu befördern, wie es insbesondere auch bei einer Wiedereröffnung von Möglichkeiten zur Neugründung berufsständischer Versorgungswerke der Fall wäre.

Insgesamt erscheint es sinnvoller und auch als Gebot der Fairness, alle Selbstständigen bis zu den auch für Beschäftigte geltenden Einkommensgrenzen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Hierdurch entstünde nur ein gegenüber anderen Varianten geringerer Verwaltungsaufwand für Umsetzung und Überwachung der Vorsorgepflicht. Zugleich hätten auch Selbstständige die Chance, von einer Rendite zu profitieren, die zurzeit deutlich über den Renditeerwartungen vieler privatwirtschaftlicher Vorsorgeprodukte liegt. Auch ein Zugang zur sog. Riesterförderung wäre dann naheliegend.

6. Allgemeiner Rentenfreibetrag in den Fürsorgesystemen

Mit der Einführung der Grundrente zum 1. Januar 2021 (siehe hier) wurden in für den hiernach zu zahlenden Rentenzuschlag Freibeträge im Wohngeld, der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), in der Hilfe zum Lebensunterhalt, in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) und den fürsorgerischen Leistungen der Sozialen Entschädigung geschaffen. Dies soll verhindern, dass die Verbesserungen in der Rente durch eine Anrechnung in den bedarfsorientierten Fürsorgesystemen beziehungsweise bei einkommensabhängigen Sozialleistungen aufgezehrt werden (siehe BR-Drs. 85/20, S. 4).

Damit erfahren Personen Einkommensverbesserungen, die langjährig – also für mindestens 33 Jahre – verpflichtend Beiträge in die Alterssicherungssysteme gezahlt haben (siehe BR-Drs. 85/20, S. 18 f.).

Es ist schon schwer erkennbar, wieso die Freibeträge nur für Rentenbezieherinnen und -bezieher mit Grundrentenanspruch gelten sollen, nicht aber auch für diejenigen, die ebenfalls für mindestens 33 Jahre verpflichtend Beiträge gezahlt, dadurch jedoch Rentenansprüche ober- oder gar unterhalb des Grundrentenniveaus erworben haben.

Der Gesetzgeber der 20. Wahlperiode sollte deshalb darüber hinaus eine Ausweitung der Renten-Freibeträge bei der Grundsicherung im Alter und beim Wohngeld auf alle Berechtigten prüfen. Nur ein solcher allgemeiner Freibetrag gewährleistet, dass derjenige, der gearbeitet und Rentenversicherungsbeiträge abgeführt hat, im Alter tatsächlich mehr Geld zur Verfügung hat als derjenige, der nie gearbeitet oder keine Beiträge gezahlt hat. Ohne einen solchen Freibetrag nähmen Legitimität und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung erheblichen Schaden, wenn künftig vermehrt Erwerbstätige mit geringem Verdienst und/oder gebrochener Erwerbsbiografie zu Pflichtbeiträgen herangezogen werden, ohne dass sie hierdurch einen Rentenanspruch oberhalb des Grundsicherungsniveaus erwerben können.

7. Verbesserung der Zurechnungszeiten

Handlungsbedarf für eine neue Bundesregierung besteht auch in Bezug auf die „vergessenen Jahrgänge“ unter den Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentnern.

Renten für Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit sowie für Hinterbliebene, die vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze durch den Versicherten beginnen, wurden bereits vor Einführung des SGB VI unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit berechnet, für die ab 1992 die Zeit bis zum vollendeten 55. Lebensjahr in vollem Umfang und die darüber hinausgehende Zeit bis zum vollendeten 60. Lebensjahr zu einem Drittel berücksichtigt wurde. Erwerbsgeminderte und Hinterbliebene wurden dadurch in etwa so gestellt, als hätten die Versicherten bis zu diesem Zeitpunkt gearbeitet.

Zum Ausgleich für die Nachteile bei der Einführung des bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 65. Lebensjahrs um bis zu 10,8 % verminderten Zugangsfaktors durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 wurde die Zeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahrs ab dem 1. Januar 2001 voll berücksichtigt. Der abgesenkte Zugangsfaktor sollte – wie bei einem vorzeitig in Rente Gehenden – die längere Bezugsdauer ausgleichen. Dennoch wird die doppelte Absenkung der Rentenhöhe durch die begrenzte Zurechnungszeit und einen abgesenkten Zurechnungsfaktor von den Betroffenen als ungerecht empfunden, da die Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 65. Lebensjahrs auf einer Erkrankung beruht und nicht freiwillig erfolgt.

Erste Verbesserungen erfolgten durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 und das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 23. Juni 2014.

Dadurch wurden das für die Abschläge maßgebliche Mindestalter sowie die Zurechnungszeit auf die Vollendung des 62. Lebensjahrs festgelegt bzw. bis zu diesem Zeitpunkt verlängert.

Eine weitere Verbesserung erfolgte durch das Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 28. November 2018.

Damit wurde das Ende der Zurechnungszeit für Rentenzugänge im Jahr 2019 in einem Schritt auf das Alter von 65 Jahren und acht Monaten verlängert und anschließend wurde es ab dem Jahr 2020 schrittweise auf das vollendete 67. Lebensjahr angehoben. Dadurch erfolgt eine Rentenminderung nur noch über den verringerten Zugangsfaktor.

All diese Verbesserungen galten jedoch jeweils nur für Rentenneuzugänge. Personen, die bei Inkrafttreten der Neuregelungen bereits eine Erwerbsminderungs- oder Hinterbliebenenrente bezogen, profitierten nicht davon. Es erscheint als ein Gebot der Gerechtigkeit, die als notwendig erkannten Verbesserungen auch diesen „vergessenen Jahrgängen“ zugutekommen zu lassen.

8. Fazit

Eine Agenda für die Rentenpolitik in der 20. Wahlperiode ließe sich sicher noch um viele große und kleine Punkte ergänzen. Jedoch sollte bereits bis hierhin deutlich geworden sein, dass es künftig einer Reihe rentenpolitischer Initiativen bedarf, die nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen.

Dabei steht zu hoffen, dass eine neue Bundesregierung ein ausreichendes Verständnis für eine sozial ausgewogene und vor allem nachhaltige Politik mitbringt. Denn die gesetzliche Rentenversicherung verträgt kein kurzfristiges Denken. Vielmehr muss sie den 17-Jährigen, die heute ihre ersten Beiträge zahlen, in 50 Jahren adäquate Rentenansprüche garantieren, die darüber hinaus noch für weitere 20 bis 30 Jahre zu zahlen sind. Rentenpolitik hat daher nicht in Wahlperioden, sondern in Generationen zu denken.

Dr. Christian Mecke

ist Richter am Bundessozialgericht