Das Sozialrecht zwischen Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung
von Armin Knospe | Januar 2022
Allseitig anerkannt hat der Gesetzgeber im Sozialrecht einen „weiten Gestaltungsspielraum“. Das führt aber auch häufig dazu, dass sich Legislative, Exekutive und Judikative in der Praxis konträr und bisweilen unversöhnlich gegenüberstehen und nicht selten die Ziele und eingeschlagenen Wege der benachbarten Staatsgewalt anders einordnen, bewerten und befolgen. Der Beitrag benennt bemerkenswerte Beispiele aus den letzten 30 Jahren und sucht nach den Gründen für die entstandenen Kontroversen.
Staatliche Gewalt allein in einer Hand geht gar nicht. Staatliche Gewalt soll und muss deshalb unverrückbar seit Jahrhunderten auf mehrere Verantwortungsträger aufgeteilt werden, die sich gegenseitig ergänzen, aber auch kontrollieren. Alle Gegenbewegungen sind mindestens seit dieser Erkenntnis im alten Griechenland zum Scheitern verurteilt, auch wenn dies in späteren Jahrhunderten fatalerweise manchesmal erst viel zu spät bemerkt wurde oder wird. Aktuelles politisch ungutes Flackern in einigen Staaten der Welt lässt leider immer wieder unruhig werden. Man denke beispielsweise nur an Brasilien, Nicaragua, Sudan, Myanmar und – noch besorgter – an einige Staaten in Europa und selbst einige innerhalb der Europäischen Union, die bei der Frage der Gewaltenteilung nicht alles richtig verstanden haben oder aus besorgniserregenden Gründen nicht verstehen wollen.
Das Grundgesetz legt die Verpflichtung zur gerechten Teilung der Gewalt bekanntermaßen kurz und knapp fest: Artikel 20 Abs. 3 besagt, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Nur halten sich immer alle und beanstandungsfrei an diese von Aristoteles, Platon, John Locke und dem adligen Charles des Secondat, Baron de Montesquieu (noch 34 ½ Jahre vor der französischen Revolution 1755 in Paris verstorben) entwickelten Grundlagen? Und wann wird im Wechselspiel zwischen Legislative, Judikative und Exekutive notwendige Rechtsfortbildung zur unschönen Rechtsfortbeugung?
Im Sozialrecht ist dieser Interessengegensatz – und um Interessengegensätze geht es in der Politik immer – besonders stark bemerkbar. Denn hier geht es bekanntlich um viel Geld und vor allem um den Stellenwert des Sozialen, also dem Ausgleich zwischen viel und wenig, arm und reich und der Solidarität mit dem Einzelnen und der Einzelnen schlechthin. Setzt man in einem Gesetz eine unscheinbare Dezimalzahl, einen Faktor oder einen entsprechenden Multiplikator um wenige Millimeter nach oben oder nach unten, dann bedeutet dies nicht selten Mehrausgaben oder Einsparungen im Milliardenbereich. Und natürlich ist es legitim, dass darum gestritten wird – bitte gerne und engagiert wie auch sachgerecht, erfolgsorientiert und detailkenntnisreich.
Allerdings funktioniert das Zusammenspiel zwischen Sozialgesetzgeber, Sozialverwaltung und Sozialgerichtsbarkeit leider nicht immer reibungsfrei. Zunächst meist noch störungsfrei verfasst der Gesetzgeber normalerweise ein Gesetz (aus eigenem politischen Antrieb, auf Zuruf der Exekutive oder auf Verlangen der Gerichte), die Verwaltung setzt es um (bisweilen sehr freizügig oder sogar contra legem) und die Sozialgerichte wenden die Regelungen an und prüfen manchmal sehr feingliedrig und für einige nervenaufreibend sperrig, ob alles in die vorhandene Rechtsordnung passt. Nur wenn politischer Auftrag, soziale Grundzüge, Notwendigkeiten und praktische Gegebenheiten – denglisch gesprochen features – überhaupt nicht mehr zusammenpassen, dann wird es eng und es kommt zu Konflikten. Und fast immer ist von Bedeutung, dass der Gesetzgeber gerne Begriffe verwendet, über die man nicht nur unter Juristinnen und Juristen trefflich streiten kann: Was ist denn genau genommen „verhältnismäßig“, „schwerwiegend“ oder „unzumutbar“ und was kennzeichnet denn den „Regelbedarf“, das „Schonvermögen“ oder die unzulässige „Härte“?
Beispiel 1: Ghettorenten
Beginnen wir mit einem politisch äußerst kniffligen Beispiel: Mindestens seit Anbeginn der Bundesrepublik steht in allen Arbeits- und Sozialrechtslehrbüchern, dass ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis immer auf einem zivilrechtlich freiwilligen Vertrag beruhen muss und deshalb jeglichen Formen von Zwangsverhältnissen der Zugang zu sozialem und arbeitsrechtlichem Schutz verschlossen bleibt. Nur hilft das den armen gebeutelten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und Arbeitssklaven – von denen es heute weit mehr gibt als zur „Blütezeit“ des (seinerzeit erlaubten) Sklavenhandels – tatsächlich weiter, wenn sie auch noch die ohnehin schon nicht immer üppigen Reste sozialen Schutzes gänzlich verlieren?
Genau dieses Dilemma hatte das Bundessozialgericht in den vielbeachteten Entscheidungen zu Beschäftigungsverhältnissen in einem Ghetto zu bewerten. Erstmals am 18. Juni 1997 hatte das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass die bis dahin regelmäßig als Zwangsarbeit qualifizierte Arbeit in einem Ghetto (hier Lodz oder vormals Litzmannstadt) eine von den Merkmalen der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit bestimmte versicherungspflichtige Beschäftigung sein kann (Az.: 5 RJ 66/95).
Der Gesetzgeber hat auf den öffentlichen Druck mit dem „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ vom 20. Juni 2002 (BGBl. I, S. 2074) zwar reagiert, aber dem Grundanliegen des BSG nur sehr widerwillig entsprochen und die erhofften Renten der Betroffenen im Anspruch sehr sehr eng gestaltet und die Träger sind dem auch gefolgt. Das BSG (neben dem Staat Israel und auch zahlreichen anderen) seinerseits hat immer wieder erfolgreich Nachbesserungen verlangt und zwanzig Jahre später in einem sehr lesenswerten Urteil vom 20. Mai 2020 (Az.: B 13 R 9/19 R) seinen Standpunkt nochmals bekräftigt (s. dazu auch den lesenswerten Beitrag von Franz Ruland, in Heft 9/2020, S. 530 der Zeitschrift Die Sozialgerichtsbarkeit).
Nur: Hat es denn den Betroffenen 75 Jahre nach dem Grauen tatsächlich noch genutzt, wenn schon der 1929 geborene Kläger des Verfahrens bei Urteilsverkündung bereits 91 Jahre alt und damit unstreitig einer der ganz wenigen letzten Überlebenden war?
Beispiel 2: Hartz-Gesetze
Nehmen wir als nächstes Beispiel die vier Gesetze mit dem euphemistischen Titel „für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ aus den Jahren 2002 und 2003, umgangssprachlich als „Hartz-Gesetze“ bezeichnet. Mit diesen Gesetzen (zwei bundesratsfrei und zwei bundesratspflichtig, was infolge fehlender Mehrheiten 2002/2003 eben ganz wichtig war) sollte alle Modernität umgesetzt werden, die die durchaus breit aufgestellte Hartz-Kommission beim Durchforsten bestehender Gesetze als antiquiert und verbesserungswürdig (auch wenn etwas ökonomiezentriertlastig) entdeckt hatte. In einem Punkt waren sich alle eigentlich einig: Die zuvor parallelen und in den Voraussetzungen verfassungsrechtlich bedenklich unterschiedlichen Systeme der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe sollten zusammengeführt werden.
Doch die Umsetzung geriet dank überaus zahlreich vorhandener Köche und Köchinnen eher zu einem faulen Dauerzankapfelbrei. Da FDP und Union als Opposition nur über den bundesratspflichtigen Teil Einfluss nehmen konnten, mischten sie hier auch kräftig mit (so rauschte die damalige bayerische Sozialministerin Barbara Stamm bei einer Pressekonferenz mit der triumphierenden Bemerkung vor, man habe sich in der Sache – bei der Scheinselbständigkeit – „zu 100 Prozent durchgesetzt“). Und so sind bis heute überwiegend auch nur die von Oppositionsseite tüchtig mitgemixten Gesetze Hartz II (vom 23.12.2002, BGBl. I, S. 4621) und Hartz IV (vom 24.12.2003, BGBl. I, S. 2954) neben anderen Großbaustellen wie der verfassungsrechtlich eigentlich abenteuerlichen Beteiligung der Kommunen bei der Verteilung von Bundesmitteln im Dauerstreit. Und Begriffe wie „Schonvermögen“, „Regelbedarfe“ und „Bedarfsgemeinschaften“ geistern durch alle Ebenen der politischen Aggressionsecken. Natürlich musste der Gesetzgeber dutzendfach nachbessern und die Sozialgerichte haben die Klageflut wohl auch nur dank der Amtshilfe von „normalen“ Verwaltungsrichtern schaffen können. Und sind wir nun 20 Jahre später tatsächlich schlauer und in der Sache auch weiter? Wohl kaum, trotz nervenzerfetzender Verhandlungsmarathons in den Adventszeiten 2002 und 2003 (die der Autor leider miterleben und miterleiden musste). Und wird das von der FDP schon vor 20 Jahren einmal geforderte Bürgergeld – wenn es denn wirklich kommt (siehe dazu auch hier) – für die 20. Legislaturperiode tatsächlich erfolgreicher sein?
Beispiel 3: Nichtberücksichtigung von Einmalzahlungen bei Lohnersatzleistungen
Ein weiteres schönes Beispiel, bei dem die Gewaltenteilung zwar grundsätzlich funktionierte, aber durchaus konstruktiver und im Vorfeld gerichtlicher Auseinandersetzungen weitaus effizienter gehandhabt hätte werden können: Die so genannten Einmalzahlungen oder korrekt „die Nichtberücksichtigung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt bei der Berechnung von Lohnersatzleistungen“. Bis zum Paukenschlag des Bundesverfassungsgerichts am 11. Januar 1995 (Az.: 1 BvR 892/88) war es nämlich üblich, auch Einmalzahlungen wie üppiges Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld zwar in die Beitragserhebung einzubeziehen, aber dann bei den ohnehin schon geringeren Leistungen Arbeitslosengeld, Krankengeld und Übergangsgeld auch noch komplett aus der Berechnung wieder herauszunehmen.
Der damalige Sozialminister Norbert Blüm erkannte nach Beratung durch die Träger sehr schnell das finanzielle Ausmaß dieser Entscheidung und gab intern die „ordre de Mufti“, dass eine Neuregelung zwar zu schaffen sei, diese müsse aber kostenneutral sein. Und so kam es, wie es kommen musste und das Bundesverfassungsgericht hob auch das „Gesetz zur sozialrechtlichen Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt“ vom 12. Dezember 1996 (BGBl. I, S. 1859) mit einer schallenden Ohrfeige und einem noch ausführlicher abgefassten Urteil vom 24. Mai 2000 (Az.: 1 BvL 1/98 u. a.) schnurstracks wieder auf. Ob alle im Einzelfall von den Minderleistungen Betroffenen von diesem Streit in den Jahren bis 2000 tatsächlich von der verfassungsrechtlichen Korrektur profitiert haben, ist nicht bekannt, dürfte aber (wie auch bei den Ghettorenten) höchst zweifelhaft sein.
Beispiel 4: Sanktionen…
… im Rentenrecht
Sanktionen haben im Sozialrecht eigentlich immer eine systemwidrige Fremdkörperfunktion. Dennoch: Als der Autor in den 1980er Jahren im Bundesministerium für Arbeit (BMA) anfing, war einer dieser hässlichen Fälle der zur DDR übergelaufene Hansjoachim Tiedge. Dieser war seit 1966 im Bundesamt für Verfassungsschutz tätig und ab 1979 für die Spionageabwehr gegenüber der DDR zuständig, in die er am 19. August 1985 überlief und sich den dortigen Behörden stellte. Zwar wurde er aus dem Amt des Regierungsdirektors rasch entfernt und alle Versorgungsbezüge wurden aberkannt. Dies wiederum hatte aber auch die schmachvolle Konsequenz, dass er auf Staatskosten in der Rentenversicherung nachversichert werden musste. Das regelte zunächst § 1232 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und jetzt regeln es §§ 8, 233 SGB VI. Mit seinem unehrenhaften Seitenwechsel hatte Tiedge so eine sehr schöne bundesrepublikanische Rentenanwartschaft erworben.
Doch Versuche, eine „Lex Tiedge“ zu schaffen, waren zum Scheitern verurteilt. Das Recht ließ sich nicht so weit beugen, auch wenn dies eben als höchst unerfreulich angesehen worden ist. Allerdings nutzte man nur wenige Jahre später die Möglichkeit, sich zu „rächen“: Mit dem „Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebietes (AAÜG)“, das als Artikel 3 ins Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl. I, S. 1606) eingefügt wurde, wurde unter anderem bestimmt, dass zahlreiche Entgelte und Versicherungszeiten regierungsnaher Tätigkeiten in der DDR bei der Überführung in bundesdeutsches Rentenrecht nicht oder nur teilweise berücksichtigt wurden. Zwar wurde das AAÜG in mehreren wichtigen Teilen vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls einkassiert (Az.: 1 BvL 22/95 vom 28.4.1999 und Az.: 1 BvL 3/98 u.a. vom 23.6.2004), aber das einmal entstandene „Gschmäckle“ der Siegerjustiz hat sich bis heute erhalten, auch wenn wie im Fall Tiedge eigentlich wohl zu Unrecht.
Ein ähnliches Dilemma ergab sich bei den sogenannten „Ehrenpensionen“ für Kämpfer gegen den Faschismus, bei denen man diese üppigen steuerfinanzierten Leistungen insbesondere den Vorturnern Erich Honecker und Erich Mielke aberkennen wollte und musste. Immerhin hat das dazu erlassene „Gesetz über Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet“ vom 22. April 1992 (BGBl. I, 906) bis heute seine Grundstruktur erhalten und den „Größen“ der DDR wurde diese ausgelobte Huldigung als Heldenkämpfer erfolgreich gestrichen.
… im SGB II
Aber auch im aktuellen Recht gibt es weiterhin Fälle von Sanktionen: Zehn Jahre nach dem Entschädigungsrentengesetz hat der Gesetzgeber erneut Sanktionen im Sozialrecht eingefügt, die dann 17 Jahre später wiederum als verfassungswidrig eingestuft worden sind. Mit Urteil vom 5. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht (Az.: 1 BvL 7/16) jedenfalls die im SGB II eingeführten Sanktionsregelungen insoweit eingeschränkt, als Kürzungen des Regelbedarfes unter die Schwelle von 30 Prozent unzulässig sind (siehe dazu auch hier im Thema des Monats).
Man sollte dabei aber auch nicht ganz vergessen, dass es weiterhin etliche Fälle von Sozialleistungsmissbrauch gibt und das bedingungslose Grundeinkommen nur dann ein wirklicher Erfolg werden würde, wenn man den Goldesel der Finanzierung trotz fieberhafter Suche endlich tatsächlich entdecken könnte. Hat man aber bisher nicht.
Beispiel 5: Regelung zur Scheinselbständigkeit
Ein letztes kleines Beispiel der fast vollkommenen Dysfunktion zwischen Gesetzgebung und Gerichten ist die Entscheidung des BSG vom 11. März 2009 (Az.: B 12 R 11/07 R). Es gibt Versicherte, die keine Beschäftigten sind und es gibt Beschäftigte, die keine Versicherten sind. Diese feine Unterscheidung war insbesondere bei der bundesratsfreien Fortentwicklung der Scheinselbständigkeitsregelungen zwingend erforderlich, weil der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit (BGBl. 2000 I, S. 2) keine Mehrheit (mehr) im Bundesrat hatte. Demzufolge sollte die eingeführte Clearingstelle (§ 7a SGB IV) auch nur über das Vorliegen einer Beschäftigung und nicht über die Versicherungspflicht entscheiden – weil derartige Änderungen zustimmungsbedürftig gewesen wären. Genau dieses fein abgestimmte gesetzgeberische Puzzlespiel hat das BSG indes neun Jahre später komplett verworfen und kurzerhand entschieden, dass bei der Statusfeststellung selbstverständlich auch über die Versicherungspflicht entschieden werden müsse, ungeachtet damaliger fehlender Gesetzgebungskompetenz. Zwar verletzt diese Auslegung die grundgesetzlichen Kompetenzregelungen, aber die zweifelhafte richterliche Ausdeutung hatte bis zur Neuregelung des Anfrageverfahrens in Artikel 2c des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze vom 16. Juli 2021 (BGBl. I, S. 2970) im vergangenen Jahr weiterhin Bestand.
Weitere Beispiele der Disharmonie
Weitere Beispiele der Disharmonie gibt es viele. Man denke etwa
- an Leistungsgewährungen an EU-Ausländer (Stichwort Europäischer Gerichtshof in den Rechtssachen Alimanovic (C-67/14), Dano (C-333/13) und Garcia-Nieto (C-299/14) und deren nationale Umsetzungen),
- Drittstaatsangehörige nach dem SGB II oder Asylbewerberleistungsgesetz (hier auch spannend das Europäische Fürsorgeabkommen des Europarates u. a.),
- die Versicherungspflicht einzelner Berufs- und Personengruppen (GmbH-Geschäftsführer, familienhafte Mithilfe, ehrenamtlich Tätige usw.) oder
- viele andere erkennbar klaffende Lücken bei der Betrachtung des Versicherungs- und Leistungsrechts (ist denn eigentlich ein Rentenniveau unter der Hälfte des zuvor erhaltenen Entgelts verfassungsrechtlich noch zulässig?) durch verschiedene Brillen.
Die wichtigsten Gründe für Missverständnisse
Doch wo liegen die Gründe für diese Reibereien – meist zu Lasten der Betroffenen? Fünf der aus hiesiger Sicht wichtigsten Gründe:
- Gesetze werden immer schneller durch das parlamentarische Verfahren geschleust und meist verstehen nur noch die Expertinnen und Experten sowie speziell geschulte Sozialninjas deren Inhalt, ganz selten noch die Mitglieder des Parlaments oder die Betroffenen selbst. Und die zahlreichen beteiligten Interessengruppen sind leider oft sehr vielschichtig und bandbreit, aber meist einseitig fokussiert aufgestellt.
- Die bei einem Gesetz vielleicht ursprünglich vorhandene Fertigung „aus einem Guss“ verliert im parlamentarischen Verfahren meist seine Konsistenz und erhält bisweilen merkwürdige politische Schrammen, Kratzer, Beulen und andere „Duftmarken“. Das ist einerseits positiv zu bewerten, als sich dadurch ein zäh errungener politischer Kompromiss ergeben hat, aber es lässt die Verwaltung und die Gerichte meist völlig im Stich, die in der Praxis oft wenig damit anfangen können.
- Bei der Fülle der Sozialgesetze verlieren selbst Expertinnen und Experten gelegentlich den Überblick und große Würfe aus einem Guss in bester politischer Übereinstimmung gibt es schon lange nicht mehr (man addiere nur einmal die Gesetzesänderungen der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten 20 Jahren (dreistellig) oder versuche die exakte Anzahl von Paragrafen im SGB V in numerischer Reihung zu zählen ohne alphabetische Untergliederungen)!
- Gesetze enthalten immer mehr unbestimmte Rechtsbegriffe und immer weniger einleuchtende und allgemein verständliche Definitionen und Grundbegriffe. Das ist bei einer multiplen Juristenvielfalt idealer Nährboden für Missverständnisse und tangential und parallel verlaufende Fehldeutungen.
- Gerade im Sozialrecht ist der sonst so gepriesene Föderalismus nicht immer ein Fortschrittsbeschleuniger. Und die so genannten sozialen Medien sorgen emsig dafür, dass in Deutschland heute schon mehr als 60 Millionen Renten- und Sozialfachleute die Diskussion bestimmen. Leider meist in kakophonisch-destruktiver Disharmonie.
Und wie sieht es aus mit einer Besserung?
Würde man soziale Gesetzgebung im interessenübergreifenden Konsens und fiskalisch etwas unabhängiger erarbeiten können, wäre sicherlich vieles einfacher, insbesondere aus Sicht der Betroffenen. Aber Partikularinteressen, fehlende gemeinsame Interessen- und Zielvorgaben und manchesmal am Scheitern interessierte Störenfriede verhindern vielfach derartig angestrebte gemeinsame Vorgehensweisen und Anwendungspraktiken.
Das ist in einer Demokratie auch gut so und muss uneingeschränkt hingenommen werden; Demokratie kann eben auch grausam sein. Dennoch: Im Sozialrecht gibt es seit Jahrzehnten Großbaustellen, die sich bis heute kaum weiterentwickelt haben. Man denke nur an die Abschaffung so genannter prekärer Beschäftigung, der endlich notwendigen Verzahnung von Arbeits- und Sozialrecht in einem gemeinsamen Codex, die Überführung eigentlich staatlicher Aufgaben von der Sozialversicherung weg hin zu fiskalischer Steuerung (etwa Kindererziehungszeiten), die Einführung von Bürgerversicherungen und die Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen, einschließlich der Beamten oder den Rückbau systemwidriger kosmetischer Schaueingriffe der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, wie etwa der Grundrente oder der Einführung von Wettbewerbsideen im Gesundheitsrecht.
Die hier vorgetragene Meinung soll deshalb Anstoß sein, das Gesamtgefüge einmal kritisch zu überdenken und gegebenenfalls engagiert gegenzusteuern. Denn trotz aller berechtigter Kritik lohnt es sich wohl immer noch, für den Sozialstaat Deutschland zu kämpfen und ihn gegen destruktive und polemische Attacken von Gnomen und Trollen jeglicher Couleur zu verteidigen. Aber mit Verstand und richtig!