Prinzip, Aufgaben und Kompetenzen der sozialen Selbstverwaltung

von Hans Nakielski | 09. Dezember 2024

Ende September 2024 wurde der Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2023  veröffentlicht. Darin geht es nicht nur um die Ergebnisse der letzten Sozialwahl (siehe dazu auch hier), sondern auch um notwendige Reformen der sozialen Selbstverwaltung (siehe dazu auch hier). Der Bericht macht auch deutlich: Vielen Bürger:innen und Versicherten ist gar nicht klar, warum die soziale Selbstverwaltung von zentraler Bedeutung für das deutsche Sozialversicherungssystem ist und welche Aufgaben und Kompetenzen die  Selbstverwalter:innen, die in der Regel zur Hälfte von den Versicherten und zur Hälfte von den Arbeitgebern gestellt werden, haben. Hier ein Überblick.   

Die soziale Selbstverwaltung ist ein wesentliches Prinzip der deutschen Sozialversicherungen. Das gilt von ihren Anfängen bis heute. Schon Kaiser Wilhelm I. hoffte 1881, dass mit diesem Prinzip „unter staatlichem Schutze und staatlicher Förderung […] Lösungen auch von Aufgaben möglich“ gemacht werden, „denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde“.

Die soziale Selbstverwaltung basiert auf dem Grundgedanken, dass die Betroffenen durch ihre gewählten Vertreter:innen das Recht bekommen sollen, die sie unmittelbar betreffenden öffentlichen Aufgaben – im Rahmen der Gesetze – mit eigenverantwortlichen Gestaltungsspielräumen selbst zu regeln. Da die Vertreter:innen der Versicherten und der Arbeitgeber in direktem Kontakt zu ihrer Basis stehen, wird davon ausgegangen, dass sie die Probleme bedarfsgerechter und lebensnaher lösen können als staatliche Institutionen.

Somit kommt dem Selbstverwaltungsmodell in erheblichem Maße auch eine staatsentlastende Funktion zu. Die Sozialversicherungen nehmen ihre Aufgaben im Auftrag des Staates wahr, ohne selbst unmittelbar staatliche Institutionen zu sein. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „mittelbaren Staatsverwaltung“.

Mit dem Prinzip der Selbstverwaltung hat sich der deutsche Gesetzgeber zwischen den Steuerungsformen „Staat“ und „Markt“ für einen dritten Weg entschieden. Der Staat trägt zwar letztlich die politische Verantwortung für die Gestaltung der sozialen Sicherung. Er überträgt dabei aber den Organen der Selbstverwaltung neben der Durchführungsverantwortung auch selbstständige Entscheidungsbefugnisse – etwa in Personal-, Verwaltungs- und Finanzierungsfragen oder bei der Gestaltung von zusätzlichen Angeboten und Leistungen. Das Engagement der Selbstverwalter:innen ist damit Teil der selbstverantwortlichen, demokratischen Mitwirkung der Versicherten und Arbeitgeber an der Verwaltung des sozialen Rechtsstaats und ein Kernbestandteil des bundesdeutschen Sozialstaatsmodells.

Es gibt aber bis heute keine eindeutige oder gar (verfassungs-)rechtlich garantierte Definition von sozialer Selbstverwaltung. Im Sozialgesetzbuch (SGB) IV heißt es lediglich in § 29 Abs. 1: „Die Träger der Sozialversicherung (Versicherungsträger) sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung“. Und für die Bundesagentur für Arbeit regelt § 367 Abs. 1 SGB III: „Die Bundesagentur ist eine rechtsfähige bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung.“

Der § 29 SGB VI beschreibt aber zumindest drei prägende Merkmale der sozialen Selbstverwaltung:

Mitgestaltung in grundlegenden Fragen

Die Politik setzt für die Sozialversicherungen den gesetzlichen Rahmen und legt darin fest, was diese zu leisten haben. Die Selbstverwaltung muss sich in diesem Rahmen bewegen. Sie kann also nicht etwa den allgemeinen Beitragssatz in einem Sozialversicherungszweig ändern oder beschließen, dass die Bezugsdauer für das Arbeitslosen- oder Krankengeld verlängert oder das Pflegegeld angehoben wird.

Die Selbstverwaltung hat aber ein Gestaltungsrecht bei Angelegenheiten, die nicht durch Gesetze oder Verordnungen geregelt sind. Das betrifft grundlegenden Fragen – etwa strategischen Richtungsentscheidungen, zum Beispiel zur Fusion eines Versicherungsträgers mit einem anderen. Klassische Schwerpunkte der Aufgaben der Selbstverwaltung sind Organisations- und Personalfragen, die Finanzen und die Rehabilitation und Prävention. Bei der gesetzlichen Unfallversicherung kommt auch das Recht hinzu, den Beitragssatz sowie die Gefahrklassen für die bei ihr versicherten Gewerbezweige festzusetzen.

Nach dem Gesetz (§ 33 SGB IV und § 373 SGB III) beschließt die Selbstverwaltung „die Satzung“ und „sonstiges autonomes Recht des Versicherungsträgers“. Zum autonomen Recht gehören alle Vorschriften, die der Versicherungsträger im Rahmen der Gesetze erlässt. Neben der Satzung betrifft das z. B. Dienstanordnungen, Unfallverhütungsvorschriften oder Richtlinien – beispielsweise für das Erbringen von Leistungen zur Teilhabe. Auch die Festlegung der Sätze und Pauschalbeträge für die Entschädigung der ehrenamtliche tätigen Selbstverwalter:innen gehören zum autonomen Recht jedes Versicherungsträgers.

Die Beschlussfassung über die Satzung ist eine herausragende Aufgabe der Selbstverwaltung. Denn die Satzung ist so etwas wie die Verfassung des Versicherungsträgers. Damit regelt die Selbstverwaltung unter anderem den rechtlichen und organisatorischen Aufbau des Versicherungsträgers. Hier wird aber zum Beispiel auch festgelegt, wie und aus wie vielen Mitgliedern sich die Selbstverwaltungsorgane zusammensetzen und welche Aufgaben sie im Einzelnen haben.

Bei der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung gibt es zwei Selbstverwaltungsorgane: die Vertreterversammlung und den Vorstand. Bei der Kranken- und Pflegeversicherung existiert nur ein Organ: der Verwaltungsrat. Er agiert sowohl für die jeweilige Kranken- als auch die Pflegekasse. Bei der Arbeitslosenversicherung existiert eine Sonderform der Selbstverwaltung. Sie besteht auch aus zwei Selbstverwaltungsorganen, zum einen dem Verwaltungsrat und zum anderen den Verwaltungsausschüssen. Allerdings sind diese beiden Organe für unterschiedliche Bereiche zuständig. Während der Verwaltungsrat für die zentralen Angelegenheiten bei der Bundesagentur für Arbeit verantwortlich ist, sind die Verwaltungsausschüsse bei den einzelnen Agenturen für Arbeit vor Ort zuständig.

Neues Handbuch für Selbstverwalter:innen erläutert Grundlagen

Bei den – je nach Versicherungszweig verschiedenen – Organen, Strukturen, Kompetenzen, Aufgaben und Pflichten der Selbstverwaltung ist es nicht ganz einfach, den Durchblick zu behalten. Ein gerade erschienenes neues Handbuch, das von Anja Piel und Markus Hofmann (DGB-Bundesvorstand) herausgegeben wird, hilft dabei. Es erläutert Prinzipien, Aufgaben und Rechtsgrundlagen der Selbstverwaltung, beschreibt die Besonderheiten in den einzelnen Sozialversicherungszweigen und die Rechte und Ansprüche, die die Selbstverwalter:innen im Rahmen ihrer Tätigkeit haben. Mehr dazu hier.

Auch wenn die Aufgaben der Selbstverwaltung im Wesentlichen durch gesetzliche Regelungen vorgegeben sind, so bleibt doch ein Gestaltungsspielraum für weitere Aufgaben, (Service-)Leistungen und Innovationen, die der Versicherungsträger per Satzung festlegen kann. Die Selbstverwaltung kann über die Satzung auch die Gestaltung von Art und Umfang bestimmter Versicherungsleistungen vornehmen. Entscheidungsspielräume kommen ihr hier – vor allem bei der Renten- und Unfallversicherung – insbesondere im Bereich der Prävention und Rehabilitation zu. Allerdings muss die Satzung von den zuständigen Aufsichtsbehörden genehmigt werden.

Weitere wichtige Handlungsfelder der Selbstverwaltung sind unter anderem:

Die Selbstverwaltung der Krankenkassen hat darüber hinaus nach § 197 Abs. 1 SGB V ausdrücklich das Recht, „alle Entscheidungen zu treffen, die für die Krankenkasse von  grundsätzlicher Bedeutung sind“. Was dazu im Einzelnen zählt, wird im Gesetz nicht näher ausgeführt. Die recht offene Formulierung bietet also die Chance für die Selbstverwaltung, bei vielen Angelegenheiten mitzubestimmen, denen man ihnen eine grundsätzliche Bedeutung zumisst.

Auf jeden Fall zählt zu den Grundsatz-Angelegenheiten der Krankenkassen neben den oben aufgeführten Punkten auch die Festlegung des kassenindividuellen Zusatzbeitrages. Dieser ist nach § 242 SGB V auch in der Satzung aufzuführen. Auch die Gewährung satzungsmäßiger zusätzlicher Leistungen – etwa zu Schutzimpfungen, dem Umfang häuslicher Krankenpflege oder professionelle Zahnreinigung – sowie die Angebote und Ausgestaltungen von Wahltarifen haben für die Krankenkassen grundsätzliche Bedeutung.

Generell ist die Gestaltungsmacht der sozialen Selbstverwaltung aber erheblich eingeschränkt. Denn insbesondere bei den Krankenkassen hat der Gesetzgeber in der Vergangenheit durch eine immer höhere Regulierungsdichte mit Gesetzen und Verordnungen den Gestaltungsspielraum für eigenständige Entscheidungen und eigene satzungsrechtliche Regelungen der Selbstverwaltung stark begrenzt.

Ehemals autonome Handlungsfelder – wie etwa die Festlegung der allgemeinen Beiträge in der Krankenversicherung – wurden der Selbstverwaltung entzogen. Gleichzeitig wurden ihr immer mehr Vorschriften gemacht: zum Beispiel dazu, wie viele Finanzreserven bei den Krankenkassen erlaubt sind (§ 260 Abs. 2 SGB V) oder dass für Vorstandsmitglieder des GKV-Spitzenverbandes Erhöhungen der Vergütung während der Dauer ihrer zumeist sechsjährigen Amtszeit unzulässig sind und die Aufsichtsbehörde zu Beginn einer neuen Amtszeit eines Vorstandsmitgliedes eine niedrigere Vergütung anordnen kann (§ 217b Abs. 2 SGB V).

Insbesondere bei den klassischen Selbstverwaltungsdomänen „Personal- und Finanzautonomie“ hat die Selbstverwaltung so wichtige Entscheidungsbefugnisse verloren. Schon lange wird deshalb von Seiten der Selbstverwaltung und der sie tragenden Organisationen gefordert, dass die Einschnitte der Entscheidungskompetenzen aufhören müssen und der sozialen Selbstverwaltung wieder mehr Entscheidungskompetenzen gegeben werden müssen. Das fordern auch die jetzigen Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen (siehe hier).

Hans Nakielski

ist Dipl.-Volkswirt und Fachjournalist für Arbeit und Soziales in Köln