von Antonia Seeland | 12.03.2023
Wie können die Bundesbehörden die im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) geforderte Barrierefreiheit herstellen? Inwieweit bauen die dafür vorgesehenen Instrumente Barrieren tatsächlich ab? Wo hakt es? Was kann das für andere Rechtsgebiete bedeuten?
1. Barrierefreiheit und Behinderung
„Barrierefreiheit“ verfolgt einen umfassenden und präventiven Ansatz. § 4 BGG regelt: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“
Barrierefreiheit stellt so auf die generelle und grundsätzliche Gestaltung der Umwelt, nicht auf den Einzelnen ab. Es werden alle gestalteten Lebensbereiche einbezogen. Diese müssen auffindbar, zugänglich und nutzbar sein (Art. 9, 21 UN-Behindertenrechtskonvention/UN-BRK). Die zentrale Bedeutung von Barrieren für die Teilhabe greift seit 2016 auch die Definition von „Behinderung“ in § 3 BGG auf, womit die gebotene Anpassung an die UN-BRK erfolgte. Behinderungen sind demnach „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen, welche „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“.
Aus der Befragung von Menschen mit Behinderungen und Mitarbeitenden von Behörden im Rahmen der Evaluation des BGG geht dazu hervor, dass einstellungs- und umweltbedingte Barrieren deutlich häufiger von Menschen mit Behinderungen (zu 80 % bzw. 71 %) im Vergleich zu Behördenmitarbeitenden (zu 57 % bzw. 46 %) mit dem Begriff „Behinderung“ assoziiert werden (s. Abbildung 1).
Das deutet auf ein konservativeres Begriffsverständnis von Behördenmitarbeitenden hin, bei denen die Bedeutung von Barrieren offensichtlich weniger präsent ist. Für die Herstellung von Barrierefreiheit ist in diesem Zusammenhang ein weiteres Ergebnis der Evaluations-Studie wichtig: Zwischen einem zeitgemäßen Verständnis von „Behinderung“ und der Wahrnehmung von Barrieren besteht ein signifikanter Zusammenhang. Deutlich wurde zudem, dass mit dem Begriff „Behinderung“ vor allem unmittelbar wahrnehmbare Beeinträchtigungen verbunden werden, also z. B. die Zugänglichkeit für Menschen im Rollstuhl.
Das umfassende Konzept der Barrierefreiheit geht aber darüber hinaus. Die Umwelt muss auch für sinnes-, kognitiv- und seelisch beeinträchtigte Menschen Teilhabe ermöglichen. Gerade für Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung bestehen immer noch eine Vielzahl an Barrieren.
Positiv ist, dass das Verständnis von „Behinderung“, wie die Befragung zeigt, differenzierter und zeitgemäßer geworden ist seit der Neudefinition. Rechtliche Klarstellungen sind also bedeutend für die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Es gilt zudem, weiter zu sensibilisieren – beispielsweise durch Schulungen und Informationsangebote sowie eine vollständige Angleichung an die Begriffsdefinition der UN-BRK, wonach eine „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe“ vorgeschrieben ist (Art. 1 Satz 2).
Zur umfassenden Umsetzung von Barrierefreiheit enthält das BGG für die Behörden ein Bündel an Instrumenten und Regelungen für die verschiedenen Behinderungsarten.
2. Barrierefreiheit von Gebäuden und Räumen
Mängel in der baulichen Barrierefreiheit sind laut der Erhebung für die Evaluations-Studie die häufigste Ursache von Beschwerden. Wichtig ist deshalb, dass der Anwendungsbereich des § 8 BGG erweitert wurde und seither u.a. auch die Anmietung von Räumen (z. B. einige Geschäftsstellen der Krankenkassen) erfasst ist. Für den Bund als Mieter leitet sich seit Ende 2020 in Verbindung mit dem Zivilrecht (§ 554 Abs. 1 Satz 2 BGB) nunmehr die Pflicht zur Vornahme von barrierefreien Umbaumaßnahmen ab.
Interessant wird sein, wie sich dies in der Praxis auswirkt. Positiv könnte sich auch die neu eingeführte Berichtspflicht zum Stand der baulichen Barrierefreiheit (§ 8 Abs. 3 BGG) auswirken, insbesondere da sie auch die Erstellung konkreter Maßnahmen- und Zeitpläne vorschreibt. Problematisch ist hingegen, dass sie ohne Umsetzungsfrist und nur einmalig ist und sich allein auf Bestandsbauten bezieht. Da Bauordnungsrecht im Wesentlichen Ländersache ist und Sozialleistungen in barrierefreien Räumen zu erbringen sind (§ 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB I), muss gerade zum Abbau baulicher Barrieren die Forderung nach einer guten Abstimmung zwischen dem BGG, Sozialrecht und Landesrecht wiederholt werden (s. dazu auch hier und hier).
3. Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen
Kommunikation mit Menschen mit einer Hör- oder Sprachbehinderung
Menschen mit einer Hörbehinderung oder einer Sprachbehinderung haben das Recht auf die Verwendung von geeigneten Kommunikationshilfen wie Gebärdensprache oder lautsprachigen Gebärden (§ 9 BGG). Diese Rechte stehen ihnen auch bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen (§ 17 Abs. 2 SGB I), beispielsweise bei einem Arztbesuch und im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren (§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB X) zu. Zur genaueren Ausgestaltung wird sowohl im BGG als auch im Sozialrecht auf die Kommunikationshilfeverordnung (KHV) verwiesen.
Hier ergeben sich aber Probleme praktischer Art. Denn zum einen ist die KHV unter den Behördenmitarbeitenden unzureichend bekannt (nach der Studie zur Evaluation des BGG nur bei 6 %) und nur 34 % der Mitarbeitenden aus Behörden würden Menschen mit Behinderungen auf ihr Wahlrecht (§ 2 Abs. 2 S. 1 KHV) hinweisen.
Zum anderen zeigte die Befragung im Rahmen der Evaluation des BGG, dass Gebärdensprachdolmetscher:innen in den Behörden häufig nicht zum Einsatz kommen oder überhaupt nicht verfügbar sind (das erklärten 45 % der befragten Betroffenen), insbesondere nicht für kurzfristige Termine (s. Abbildung 2).
Die Digitalisierung der Behörden birgt hier die Chance, Lücken zu füllen und Barrierefreiheit zu fördern, indem z.B. Apps, die dolmetschen, flächendeckend eingeführt werden. Dennoch sind Behörden im Rahmen ihrer Infrastrukturverantwortung im Zugzwang, dringend Verbesserungen zu erreichen.
Kommunikation mit blinden und sehbehinderten Menschen
Damit Informationen für blinde und sehbehinderte Menschen wahrnehmbar sind, sollen ihnen bestimmte Dokumente gleichzeitig mit der Bekanntgabe zugänglich gemacht werden, aber nur soweit möglich (§ 10 BGG i. V. m. der Verordnung zur Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz/VBD).
Dies kann z. B. schriftlich, akustisch oder elektronisch erfolgen. Doch, weshalb werden nur bestimmte und nicht alle Dokumente, die im Behördenverfahren verwendet werden, einbezogen? Und sollten die Dokumente nicht immer zugänglich gemacht werden müssen? Für einen gleichberechtigten Zugang sollte eine entsprechende Ausweitung der Norm vorgenommen werden, um nicht zuletzt Art. 9 UN-BRK in Bezug auf Sehbeeinträchtigte umzusetzen.
Kommunikation mit Menschen mit kognitiver oder seelischer Beeinträchtigung
Um Teilhabe für kognitiv oder seelisch Beeinträchtigte voranzutreiben, haben Behörden seit der Reform des BGG im Jahr 2016 die Verpflichtung, auf einem sprachlich einfachen Niveau und bei Bedarf in Leichter Sprache mit dieser Betroffenengruppe zu kommunizieren (§ 11 Abs. 1 und 2 BGG). Dies war ein Kernanliegen der Novelle 2016, mit der auch Vorschriften zur Verständlichkeit und Leichten Sprache in das Sozialrecht (§ 17 Abs. 2a SGB I, § 19 Abs. 1a SGB X) eingeführt wurden, die dynamisch auf § 11 BGG verweisen, der damit als zentrale Norm des Bundesrechts von hoher Relevanz ist.
Problematisch ist, dass § 11 BGG nicht als zwingende Vorschrift gestaltet ist. Außerdem ist zu kritisieren, dass nicht z. B. auch Menschen mit Hörbeeinträchtigung berücksichtigt wurden, da für sie die einfache oder Leichte Sprache ebenfalls hilfreich sein kann (so auch die Befragungsergebnisse zur Evaluation des BGG).
Der Anwendungsbereich sollte deshalb sowohl persönlich als auch sachlich umfassend sein und alle Dokumente erfassen, zumal die Verwendung Leichter Sprache hohe Relevanz in der Herstellung von Barrierefreiheit hat. Sie ist neben den Screen-Readern, die Inhalte des Bildschirms in Sprache umwandeln oder sie auf Braille-Zeilen ausgeben, das meistgenutzte Kommunikationsmittel, wie die Befragung zur BGG-Evaluation zeigte. Allerdings wurde auch deutlich, dass in der Umsetzung durch die Behörden Nachholbedarf besteht, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass nur 9 % der Behördenmitarbeitenden Kenntnisse über die Gesetzesänderungen zur Leichten Sprache haben (zum Vergleich: 45 % der befragten Schwerbehindertenvertretungen haben Kenntnisse in Leichter Sprache). Nötig ist es damit, Schulungsangebote und Textbausteine zur Verfügung zu stellen, um entscheidende Fortschritte in der Umsetzung zu bewirken.
Soweit die Befragung zeigt, dass die Instrumente inzwischen bekannter werden, bleibt trotzdem noch „viel Luft nach oben“. So schätzen die Behördenmitarbeitenden die Barrierefreiheit besser ein, als sie für Menschen mit Behinderungen laut den Schwerbehindertenvertretungen ist. Es ist somit wichtig, Menschen mit Behinderungen vor weiteren Benachteiligungen im Verwaltungsverfahren zu schützen, wenn ihnen Behörden Informationen z.B. nicht rechtzeitig vor Ablauf der Widerspruchsfrist wahrnehmbar zur Verfügung gestellt haben. Hier sollte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ermöglicht werden, die Betroffene so stellt, als wäre die Frist nicht versäumt wurden. Das bedarf Änderungen in § 67 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 60 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), § 27 Abs. 1 SGB X und § 32 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG).
Homepages, Apps und das Intranet
Wenn in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft viele Informationen und Dienstleistungen von Behörden verstärkt (nur noch) online verfügbar sind, kann die Partizipation von Menschen mit Behinderungen nur sichergestellt werden, wenn auch die Technik barrierefrei ist und z. B. Aktionen nicht nur per Mausklick ausführbar sind.
Zugleich eröffnet die Digitalisierung aber auch neue Inklusionsansätze. Nach derzeitigem Stand zeigen sich jedoch große Lücken, erfüllen z. B. nur 10 % der pdf-Dokumente die Anforderungen (s. Bericht der Bundesregierung an die EU-Kommissionüberdie periodische Überwachung der Einhaltung
der Barrierefreiheitsanforderungen von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen, S. 100 ff.).
Wichtig ist deshalb, dass der Fokus der letzten BGG-Änderungen im Jahr 2018 auf der Barrierefreiheit der Informationstechnik lag (§§ 12-12d BGG i. V. m. der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung /BITV 2.0).
Vorgaben dazu kamen vor allem aus der EU (RL [EU] 2016/2102 über barrierefreie Websites und mobile Anwendungen öffentlicher Stellen).
Nicht nur Internetauftritte, Apps und das Intranet, sondern auch die elektronischen Verfahren der öffentlichen Stellen des Bundes müssen gemäß § 12 BGG barrierefrei sein.
In der Praxis immer bedeutsamer, auch im Zusammenhang mit dem BGG, werden digitale Gesundheitsanwendungen (§ 33a i.V.m. § 139e SGB V, § 47a SGB IX), sogenannte „Apps auf Rezept“, die z. B. bei von den Betroffenen selbst durchzuführenden Übungen anleiten und auswerten. Explizite Vorschriften zur barrierefreien Ausgestaltung der digitalen Angebote fehlen jedoch. Sie sollten deshalb in § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB I und § 5 Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) aufgenommen werden. Um Verbesserungen zu erreichen, sollten die zu erstellenden Berichte über den Stand der Barrierefreiheit der Informationstechnik (§ 12c BGG) künftig veröffentlicht werden und so z. B. der Forschung zugänglich sein.
Zum Abschluss ist hervorzuheben, dass Barrierefreiheit mehr bedeutet, als die Umwelt für Menschen mit Behinderungen zugänglich und inklusiv zu gestalten. Es ist ein grundsätzliches Thema und im Sinne des Universal Designs – also eines Designs für alle – zu denken, sodass auch die selbstbestimmte Lebensführung von z. B. älteren Menschen gefördert wird, wenn ein Gebäude über eine Rampe anstatt oder neben einer Treppe zugänglich ist.