von Antonia Seeland | 12.03.2023
Nicht nur der 2021 erschienene Dritte Teilhabebericht der Bundesregierung zeigt, dass Menschen mit Behinderungen in vielen Lebensbereichen und auf unterschiedlichen Ebenen Benachteiligungen erfahren. Ihre Diskriminierung ist ein strukturelles Problem. Was bedeutet das für die Reformvorhaben des Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrechts? Welche Empfehlungen gehen aus der aktuellen Evaluation des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) hervor?
1. Die aktuelle Evaluation des BGG
Das BGG wurde in einem 2014 erschienenen Forschungsbericht zum ersten Mal evaluiert (siehe hier).
2016 wurde das Gesetz umfassend novelliert. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag innerhalb von sechs Jahren über die Wirkungen des novellierten BGG berichtet. Dazu wurde die zweite Evaluation in Auftrag gegeben, die Ende letzten Jahres erschienen ist (siehe hier).
Diese BGG-Evaluation wurde im Zeitraum von August 2021 bis Juni 2022 im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) durchgeführt. An dem interdisziplinären Projekt, das rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung verbindet, waren die Universität Kassel, das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) GmbH, das SOKO Institut Sozialforschung Kommunikation GmbH sowie das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung (HSI) beteiligt. Neben Mitarbeitenden von Behörden wurden Schwerbehindertenvertretungen der Behörden, Verbände von Menschen mit Behinderungen, Rechtsschutzvertreter:innen, Akteur:innen in Verwaltung und Politik und Menschen mit Behinderungen selbst befragt.
2. Verhältnis von BGG und Antidiskriminierungsrecht
Die Befragung im Rahmen der Evaluations-Studie hat gezeigt: Im Alltag von Menschen mit Behinderungen sind komplizierte Behördenverfahren eine der am häufigsten (61 %) genannten Barrieren (s. Abbildung 1).
Doch nicht nur im Kontakt mit Behörden werden Menschen mit Behinderungen benachteiligt. Auf Grundlage der durchgeführten Befragung können vor allem Lebensbereiche des Zivilrechts identifiziert werden, in denen sich die Betroffenen mit einer Vielzahl an Barrieren konfrontiert sehen. Insbesondere im öffentlichen Personenverkehr, beim Wohnen oder in der Arbeitswelt wurde von über 80 % der Menschen mit Behinderungen großer Handlungsbedarf gesehen (so auch der Vierte Gemeinsame Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes [S. 46, 83 ff., 127 ff., 141 ff.]).
Auch im Zivilrecht wie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das vor Diskriminierungen im Privatrecht schützen soll, gibt es Normen, die für die Gleichstellung bedeutend sind. Zugleich legt die rechtswissenschaftliche Evaluation offen, dass öffentliches und privates Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrecht häufig nicht eng genug ineinandergreifen. Rechtssystematische Defizite zeigen sich anschaulich z. B. bei den Benachteiligungsverboten nach § 7 Abs. 1 BGG und §§ 7, 19 i. V. m. § 3 AGG. Das BGG verwendet wichtige Begriffe wie „mittelbare“ und „unmittelbare Benachteiligung“, lässt allerdings deren Definitionen vermissen. Diese sind aber in § 3 AGG festgeschrieben. Ein Verweis im BGG auf die Definitionen des AGG ist aber nicht vorhanden.
Dies führt u. a. zu Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung, da intransparente Normen zu Unklarheiten führen, wenn z. B. die Norm nicht aus sich selbst heraus erklärt, was eine (un-)mittelbare Benachteiligung ist. So wird auch der Nachweis einer Diskriminierung erschwert.
Im AGG wiederum fehlt die im BGG erfolgte Definition von „angemessenen Vorkehrungen“ (§ 7 Abs. 2 BGG) (s. Eberhard Eichenhofer: Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, S. 74 f.).
Die Bedeutung von Definitionen und rechtlichen Klarstellungen für die tatsächliche Gleichstellung zeigte sich in der aktuellen Evaluations-Studie beim Begriff der „Behinderung“ (§ 3 BGG) (s. dazu auch hier).
Dieses Nebeneinander ist aus mehreren Gründen problematisch: Zum einen können Private in die öffentliche Aufgabenerfüllung durch Beteiligungen des Bundes oder über Zuwendungen einbezogen sein. Der Bund hat dann darauf hinzuwirken bzw. sicherzustellen, dass die Ziele des BGG auch von Privaten berücksichtigt bzw. angewendet werden (§ 1 Abs. 3 BGG). Dass „Barrierefreiheit“ bei Zuwendungen eine Rolle spielt, gaben zumindest über die Hälfte der im Rahmen der Evaluations-Studie Befragten an. Allerdings gaben auch 20 % an, dass das Kriterium nicht relevant sei. Die praktische Bedeutung abgestimmter Regelungen für die Teilhabe der Betroffenen wird insbesondere im Personenverkehr deutlich: An der Deutschen Bahn AG ist der Bund zu 100 % beteiligt. Damit ergeben sich in diesem Fall Schnittstellen zwischen der Bindung an das BGG und das AGG, deren Regelungen aber nicht immer koordiniert sind.
Hier Klarheit über das anwendbare Recht zu erhalten, ist herausfordernd und für die Betroffenen und Rechtsanwender:innen häufig mit Unsicherheiten verbunden. Transparentere und abgestimmte Vorschriften zur Barrierefreiheit wären wichtig, damit Behörden und Private ihre Pflichten klar erkennen und umsetzen können. Problematisch sind die rechtssystematischen Defizite zum anderen und im Besonderen auch, da die Konkretisierung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die gemeinsame Aufgabe von BGG und AGG ist. Eine bessere Verzahnung würde sich positiv auf die Umsetzung und die effektive Durchsetzung beider Gesetze auswirken und damit ein Mehr an Teilhabe ermöglichen.
3. Bedeutung des BGG für das Gesundheitswesen
Der Abstimmungsbedarf wird nochmals deutlicher mit Blick auf das Gesundheitswesen. Die Dringlichkeit bestätigt auch die in der aktuellen Evaluations-Studie erfolgte Befragung von Menschen mit Behinderungen. Denn in fast 60 % der Fälle richteten sich Beschwerden wegen mangelnder Barrierefreiheit gegen Sozialleistungsträger wie Krankenkassen und in 54 % gegen Einrichtungen des Gesundheitswesens (s. Abbildung 2). Dabei ist gerade ein barrierefreies Gesundheitswesen für Menschen mit Behinderungen von besonders hoher Bedeutung und in Art. 25 UN-BRK gefordert.
Die Rechtsverhältnisse im Gesundheitswesen sind mehrpolig. Krankenkassen beispielsweise vergeben Dienstleistungen an private Gesundheitseinrichtungen (z. B. Arzt- oder Physiotherapiepraxen). Diese Beziehung unterfällt dem öffentlichen Recht. Wenn sie dies tun, müssen sie darauf hinwirken, dass die Leistungen der Gesundheitsversorgung wie Behandlungen durch Ärzt:innen z. B. in barrierefreien Räumen und Anlagen ausgeführt werden und den Bedarfen von Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen. Die entsprechenden Vorschriften enthält das Sozialrecht als öffentliches Recht (§ 17 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 SGB I, § 2a SGB V). Zur genaueren Bestimmung des Inhalts der Verpflichtung wiederum können das BGG bzw. die Gleichstellungsgesetze der Länder dienen (s. Felix Welti: Zugänglichkeit und Barrierefreiheit der gesundheitlichen Infrastruktur – rechtliche Anforderungen – Teil 2 sowie auch hier).
Im Übrigen ist das „Hinwirken“ nach § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB I als Rechtspflicht zur Herstellung von Barrierefreiheit zu verstehen, es kann nämlich ein Verstoß gegen die Norm im Wege einer Verbandsklage nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 BGG geltend gemacht werden (s. Felix Welti: Zugänglichkeit und Barrierefreiheit der gesundheitlichen Infrastruktur – rechtliche Anforderungen – Teil 1).
Das Rechtsverhältnis zwischen Gesundheitseinrichtungen und Patient:innen wiederum unterfällt dem Privatrecht und wird z. B. durch einen Behandlungsvertrag geregelt (§ 630a BGB). Dabei verpflichtet auch das Privatrecht, Benachteiligungen zu verhindern oder zu beseitigen (§§ 7, 19 AGG). An die Einrichtungen des Gesundheitswesens werden damit sowohl von zivil- als auch von öffentlich-rechtlicher Seite Vorschriften zur Barrierefreiheit herangetragen.
4. Handlungsbedarf
Damit Klarheit darüber besteht, welche Anforderungen der Barrierefreiheit Gesundheitseinrichtungen erfüllen müssen, sind die Vorschriften im BGG, AGG und Sozialrecht explizit und koordiniert zu regeln. So sollte die Vermutungsregel des BGG (§ 7 Abs. 1 Satz 4), wonach bei einem Verstoß gegen eine Pflicht zur Herstellung von Barrierefreiheit das Vorliegen einer Benachteiligung widerleglich vermutet wird, auch für Private bei der Anwendung von §§ 7, 19 AGG sowie des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) gelten. Festzustellen bleibt: Zur Verbesserung der Barrierefreiheit sind nicht allein die Behörden, sondern gleichfalls Personen des Privatrechts verpflichtet (s. Dietrich Engels/Judith Franken/Anna-Lena Heitzenröder: Förderbedarfe für die Verbesserung der Barrierefreiheit auf kommunaler Ebene, S. 60 ff.).