„Einmalzahlungen sind keine transparente und angemessene Lösung“

Regelsatzexpertin Irene Becker zum Existenzminimum in Zeiten der Inflation

Irene Becker im Interview | Juni 2022

Portraitfoto Irene Becker

Irene Becker, Regelsatzexpertin

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Irene Becker ist Expertin für empirische Verteilungs- und Armutsforschung. In zahlreichen Studien und Gutachten hat sie sich mit der Ermittlung und Bemessung des soziokulturellen Existenzminimums beschäftigt – zuletzt auch mit den Auswirkungen der Inflation auf die Grundsicherungsbeziehenden. Das Netzwerk Sozialrecht sprach mit ihr.

Netzwerk Sozialrecht:
Der Regelsatz für Alleinstehende beträgt in diesem Jahr 449 Euro im Monat. Sie haben berechnet, wie hoch der Regelbedarf ausfallen müsste, wenn der Gesetzgeber eine „saubere“ Rechenmethode anwenden würde: Wenn also unter anderem darauf verzichtet werden würde, bestimmte Ausgabenpositionen – wie etwa für Speiseeis, Alkohol, Tabak oder den Weihnachtsbaum – aus dem Regelbedarf herauszurechnen und wenn es keine Zirkelschlüsse mehr gäbe, indem zum Beispiel auch die Ausgaben von „verdeckt armen Menschen“ bei der Regelsatzbemessung herangezogen werden (siehe hier). Wie hoch müsste bei einer solchen „sauberen“ Methode der Regelsatz derzeit sein?

Becker:
Für die saubere statistische Methode gibt es verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung im Detail. Ich habe zwei alternative Varianten berechnet. Für die eine Variante ergibt sich ein Regelbedarf von 580 Euro im Monat und für die andere ein Bedarf von 670 Euro. Hinzu kämen in jedem Fall noch die individuellen Kosten für den Haushaltsstrom.

 

„Die Stromkosten dürfen nicht pauschalisiert werden“

Netzwerk Sozialrecht:
Warum müssten die Kosten dafür gesondert gezahlt werden?

Becker:
Die Kosten für den Haushaltsstrom sind ja jetzt im Regelbedarf enthalten. Ich denke, das ist nicht angemessen. Denn die Stromkosten kann man nicht pauschalisieren. Sie sind einerseits regional unterschiedlich. Sie sind aber auch abhängig von der Haushaltsausstattung, also ob der Haushalt auf energieeffiziente Geräte zurückgreifen kann oder so genannte Stromfresser benutzt. Und der individuelle Stromverbrauch ist auch abhängig davon, ob jemand überwiegend zu Hause ist oder ob er erwerbstätig und deshalb viel auch außerhalb ist. Von daher finde ich, dass man die Stromkosten gar nicht pauschalieren dürfte. Das passt nicht mit der empirisch-statistischen Methode zusammen.

Netzwerk Sozialrecht:
Sie haben eben von alternativen Regelsätzen von 580 oder 670 Euro gesprochen. Wie erklärt sich die Differenz von 90 Euro?

Becker:
Sie ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass bei dem geringeren Betrag noch mehr Einmalleistungen dazukommen als bei dem höheren Betrag. Wenn derzeit Grundsicherungsbeziehende eine neue Waschmaschine brauchen, müssen sie das Geld dafür über viele Jahre lang aus dem Regelsatz ansparen oder sie müssen dafür ein Darlehen aufnehmen und dieses über viele Monate aus dem Regelsatz abstottern. Bei der Alternative mit dem geringeren Regelsatz von 580 Euro gilt die „weiße Ware“ als nicht zu pauschalisieren, das heißt sie wird auf Antrag individuell erstattet. Es wird nicht von der Fiktion ausgegangen, dass dafür Rücklagen aus dem Regelbedarf gebildet werden. Dabei sind wir bei dieser Variante aber noch weiter gegangen: Wir haben nicht nur die „weiße Ware“ aus dem Regelbedarf herausgerechnet, sondern auch Möbel, Teppiche oder Mobilitätskosten – also z. B. die Rücklagen für ein Kraftrad. Dagegen umfasst der höhere Betrag von 670 Euro auch die Kosten für „weiße Ware“ und andere notwendige teurere Anschaffungen. Bei diesem Betrag wird also angenommen, dass tatsächlich Rücklagen für solche Anschaffungen gebildet werden. Je höher der Regelbedarf ist, desto eher ist es ja auch möglich, dafür Rücklagen zu bilden.

Netzwerk Sozialrecht:
Haben Sie bei Ihren Berechnungen auch berücksichtigt, dass die Ausgaben von Grundsicherungsempfänger:innen nicht zu weit hinter den Ausgaben der Durchschnittsverdiener:innen zurückbleiben?

Becker:
Ja. Das ist gerade ein Kernelement des Reformvorschlags, dass der Abstand zur gesellschaftlichen Mitte kontrolliert wird und damit die realen Lebensverhältnisse, wie wir sie in Deutschland beobachten können, berücksichtigt werden: Und zwar bin ich konkret davon ausgegangen, dass die Referenzgruppe, auf deren Ausgaben man den Regelsatz basiert, hinsichtlich der Grundbedarfe um nicht mehr als 25 Prozent hinter der Mitte zurückbleiben darf. Und hinsichtlich der soziokulturellen Teilhabe sollte der Rückstand maximal 40 Prozent betragen. Das sind jetzt selbstverständlich nur Vorschläge für politische Setzungen, über die diskutiert werden muss. Zu weit nach unten können die normativen Setzungen aber nicht gehen, da sie empirisch relevant sein müssen. Denn wenn der Gesetzgeber die Normen für das Grundsicherungsniveau sehr weit nach unten setzt, dann würden wir in der Statistik keine Referenzgruppe dafür mehr finden.

Netzwerk Sozialrecht:
Haben Sie bei den oben genannten Zahlen für den errechneten Regelbedarf schon einkalkuliert, dass wir jetzt eine sehr hohe Inflation haben?

Becker:
Nein.

Netzwerk Sozialrecht:
Anfang dieses Jahres wurde der Regelbedarf nach der Anpassungsformel des § 28a Abs. 2 SGB XII gerade einmal um 0,76 Prozent erhöht. Für einen Alleinstehenden gab es so gerade einmal drei Euro mehr im Monat. Allein im Jahr 2021 lag die Inflation gegenüber dem Vorjahr bei 3,1 Prozent und im März 2022 ist die Inflationsrate gegenüber dem Vorjahresmonat sogar schon um 7,3 Prozent gestiegen. Wie haben sich denn die Preise für die regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen in dieser Zeit entwickelt?

Becker:
Also für das Jahr 2021 ergibt sich ein Preisanstieg von 2,3 Prozent gegenüber dem Jahr 2020 und im März 2022 lagen die Preise der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienste um 4,5 Prozent über denen im März 2021. Wenn man jetzt sehr restriktiv annimmt, es gäbe keine weiteren Preissteigerungen im laufenden Jahr für diese Güter und Dienste, dann beliefe sich die Preiserhöhung im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr auf gut 4 Prozent.

Netzwerk Sozialrecht:
Warum ist denn die Preisentwicklung bei den regelbedarfsrelevanten Gütern und Diensten etwas niedriger als bei der für alle Güter und Dienste?

Becker:
Das liegt insbesondere an den Energiekosten. Diese gehen ja beim Regelbedarf lediglich mit den Kosten für Haushaltsstrom ein, während die Heizkosten außerhalb des Regelbedarfs gezahlt werden. Und Benzin und Dieselkosten werden bei den Grundsicherungsbeziehenden überhaupt nicht berücksichtigt. Sie sollen ja generell ohne ein Auto und ohne ein Kraftrad auskommen. Das hat ja der Gesetzgeber so entschieden – nicht sachgerecht, wie ich meine. Deshalb gehen die derzeit besonders drastischen Preiserhöhungen bei der Energie in den Regelbedarf nur sehr begrenzt ein. Und daher erklärt sich die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Lebenshaltungskostenindex und demjenigen der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienste.

 

„Die unterjährige Anpassung an die Inflationsentwicklung wäre überhaupt kein Problem“

Netzwerk Sozialrecht:
Erfasst das Statistische Bundesamt eigentlich regelmäßig die für die Grundsicherungsbezieher:innen maßgebliche Preisentwicklung?

Becker:
Nein. Das Statistische Bundesamt erfasst zwar alle relevanten Rohdaten, die man dafür braucht. Es berechnet aber nur einmal im Jahr – und zwar vor jeder Regelbedarfsanpassung – den so genannten Mischindex (siehe hier). Und hier geht dann die Preisentwicklung der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienste mit 70 Prozent ein – allerdings für den 12-Monats-Zeitraum, der ein halbes Jahr vor dem Anpassungszeitpunkt endet. Also, es ist eigentlich schon immer wieder alles überholt, was da herauskommt.

Netzwerk Sozialrecht:
Aber eigentlich wäre das Statistische Bundesamt durchaus in der Lage, die Preisentwicklungen, die für den Regelbedarf maßgebend sind, kontinuierlich zu erfassen?

Becker:
Ja. Das wäre ohne Probleme möglich. Die haben ja die monatliche Preisentwicklung, und die Gliederung dieser Preisstatistik des Bundesamtes lässt die Fokussierung auf die regelbedarfsrelevanten Positionen durchaus zu. Und das Wägungsschema zur Gewichtung der einzelnen Preisveränderungen liegt ja auch vor. Das heißt: Die unterjährige Anpassung an die Inflationsentwicklung wäre überhaupt kein Problem.

Netzwerk Sozialrecht:
Um wie viel müsste der Regelbedarf für einen Alleinstehenden angehoben werden, um allein die Preissteigerungen im letzten Jahr und die bisherigen Steigerungen in 2022 auszugleichen?

Becker:
Also für 2021 ergibt sich nach meinen Berechnungen auf Basis dieser Preisstatistik des Bundesamtes ein notwendiger Finanzausgleich von 123 Euro im Jahr. Das sind gut 10 Euro pro Monat. Und im laufenden Jahr sind wir jetzt schon bei einem notwendigen Inflationsausgleich von 217 Euro auf das Jahr hochgerechnet bzw. bei etwa 18,50 Euro pro Monat, wenn man von einem ab jetzt konstanten Niveau der regelbedarfsrelevanten Preise ausgeht. Davon kann man aber wohl nicht ernsthaft ausgehen. Das heißt, die 18,50 Euro pro Monat müssten wahrscheinlich noch mal angehoben werden.

Netzwerk Sozialrecht:
Das käme also eigentlich noch drauf auf die Regelsätze von 580 oder 670 Euro, die Sie anfangs erwähnt haben?

Becker:
Ja. Allerdings dadurch, dass ich in meinen Modellen keine Streichungen für bestimmte Ausgaben drin habe, müsste man einen etwas anderen Preisindex zugrunde legen. Also der notwendige Inflationsausgleich wäre dadurch noch höher.     

 

„Der inflationsbedingte Fehlbetrag summiert sich jetzt schon auf 240 Euro“

Netzwerk Sozialrecht:
Die Bundesregierung hat jetzt ein Entlastungspaket verabschiedet, dass einmalig 100 Euro zum Ausgleich wegen der Inflation vorsieht (siehe hier). Weitere 100 Euro sind zur Abdeckung der coronabedingten Pandemiekosten vorgesehen. Dafür gab es auch 2021 schon einmal einmalig 150 Euro (siehe hier). Reichen diese Einmal-Beträge?

Becker:
Also die inflationsbedingte Einmal-Zahlung von 100 Euro reicht ganz sicher nicht. Denn sie bleibt jetzt schon um mindestens 117 Euro hinter den bisher feststehenden Preissteigerungen von 2022 zurück. Außerdem bleiben dabei die Mehrkosten von Grundsicherungsbeziehenden im Vorjahr völlig außen vor. Also der Fehlbetrag trotz Einmalzahlung summiert sich jetzt schon auf insgesamt 240 Euro.

Netzwerk Sozialrecht:
Und wie sieht es mit der Abdeckung der pandemiebedingten Mehrkosten aus?

Becker:
Hinsichtlich der pandemiebedingten Einmalzahlungen von insgesamt jetzt 250 Euro pro erwachsenen Leistungsberechtigten ist es meines Erachtens sehr zweifelhaft, dass die ausreichen sollen. Wenn man den März 2020 als Beginn der Pandemie ansieht und Ende Juni 2022 als das angenommene Ende der Pandemie, dann wären Mehrkosten für 28 Monate durch die 250 Euro abzudecken. Dann resultiert daraus ein Betrag von unter 9 Euro im Monat. Dass damit die notwendigen Aufwendungen für Masken, Hygieneartikel, Tests usw. kompensiert werden sollten, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Dramatischer wird es natürlich noch, wenn wir im Herbst 2022 wieder in eine neue Corona-Welle kommen.

 

„Einmalzahlungen sind nicht hinreichend und kommen zu spät“

Netzwerk Sozialrecht:
Die Fortschreibung der Regelbedarfe erfolgt nach dem Gesetz immer nach einer rückwärts gerichteten Berechnung. Für die letzte Anhebung wurde die Preis- und Lohnentwicklung vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 mit dem Vorjahreszeitraum (1. Juli 2019 bis 30. Juni 2020) verglichen. Müsste dieses Rückwärts-Verfahren in Zeiten einer hohen Inflation reformiert werden?

Becker:
Ja. Auf jeden Fall. Diese Regelung stammte aus einer Zeit sehr mäßiger Preisveränderungen. Wir haben jetzt eine völlig andere Situation. Und in dieser Situation sollte man sich nicht mit Ad-hoc-Einmalzahlungen begnügen. Denn es besteht ja wirklich die Gefahr, dass diese nicht hinreichend sind oder auch zu spät kommen. Und das sehen wir ja jetzt.

Netzwerk Sozialrecht:
Welche Schritte würden Sie empfehlen, um bei steigender Inflation eine „saubere“ zeitnahe Anpassung vorzunehmen, die ja auch das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden Regelsatzurteilen gefordert hat?

Becker:
Das Bundesverfassungsgericht hat ja 2010 (siehe hier) und 2014 (siehe hier) dem Gesetzgeber nicht vorgeschrieben, wie er dafür sorgt, dass das soziokulturelle Existenzminimum auch im Falle von Preissteigerungen immer gedeckt ist. Und von daher meint der Gesetzgeber, dass er sich auf Einmalzahlungen zurückziehen kann. Aber das ist keine transparente und auch keine angemessene Lösung. Man sollte die gesetzliche Vorschrift, die wir derzeit haben, mindestens dahingehend erweitern, dass eine unterjährige Anpassung der regelbedarfsstufen an Preissteigerungen zu erfolgen hat.

Netzwerk Sozialrecht:
Dafür könnte das Statistische Bundesamt dann ja auch die aktuellen Zahlen liefern…

Becker:
Ja, ganz sicher. Also diese unterjährige Anpassung der Regelbedarfsstufen erfordert dann eben den Auftrag an das Statistische Bundesamt, aus den ohnehin vorliegenden Rohdaten den Index für die regelbedarfsrelevanten Güter zu berechnen, und aufgrund dessen wäre dann die monatliche Zahlung an die betroffenen Menschen im Grundsicherungsbezug anzuheben.   

Netzwerk Sozialrecht:
Sie beschäftigen sich als Verteilungsforscherin seit weit über zehn Jahren mit der Regelsatzberechnung und haben in zahlreichen Studien und Gutachten die Schwachstellen bei der Bedarfsbemessung nachgewiesen (siehe z. B. hier und hier). Geändert hat sich bisher in der Praxis aber kaum etwas. Haben Sie eigentlich noch Hoffnung auf Besserung?

Becker:
Die Hoffnung gebe ich nicht auf. Sie ist aber – ehrlich gesagt – nicht gerade groß. Ich weiß, dass gesellschaftliche Veränderungen sowie aber auch Veränderungen und Einstellungen gegenüber Gruppen außerhalb des eigenen Umfeldes allenfalls sehr langsam vor sich gehen. Und ich weiß von daher, dass man einen wirklich langen Atem braucht. Also der große Wurf wird wohl nicht kommen, aber möglicherweise kleine Schritte in die richtige Richtung.

Hans Nakielski

Das Interview führte Hans Nakielski. Er ist Fachjournalist für Arbeit und Soziales in Köln.