von Hans Nakielski | Oktober 2021
Legal Technologies werden längst auch im Bereich des Sozialrechts von kommerziellen Rechtsdienstleistern angewandt. Hier werden Beispiele dazu vorgestellt.
„Hartz 4-Bescheid kostenlos prüfen lassen
- Komplett kostenlos
- Hohe Erfolgsquote
- Bis zu 650 Euro mehr im Jahr“.
So wirbt das Online-Portal www.hartz4widerspruch.de für ihr Legal-Tech-Angebot. Der Anbieter verspricht unter anderem:
- „Unsere Partneranwälte lassen Sie mit Ihren Jobcenter-Problemen nicht allein.“
- „Sie können Ihren Bescheid und alle Unterlagen einfach in unserem Online-Portal hochladen oder uns zuschicken.“
- „60.000 geprüfte Bescheide: Niemand kennt die Fehler der Jobcenter besser als unsere Partneranwälte.“
- „50 % aller Hartz 4-Bescheide sind fehlerhaft. Unsere Partneranwälte lassen diese Fehler für Sie korrigieren.“
Das Portal war eines der ersten, das den Einsatz von Legal Technologies beim Sozialrecht anwandte. Was bei Streitigkeiten um Flugausfälle, Mietennebenkosten oder rund um den Diesel Abgasskandal funktioniert, wird hier nun auch bei einem eng begrenzten Teilgebiet des Sozialrechts praktiziert: Nach einer Registrierung und der Beantwortung von wenigen Fragen können auf der Plattform Hartz-IV-Bescheide eingestellt und geprüft werden. Widersprüche werden dann mit dem Erteilen einer Vollmacht „automatisch“ erstellt.
Die Idee zu diesem neuen Business-Modell bei zweifelhaften Hartz-IV-Bescheiden hatte der Bremer Start-up-Unternehmer Marco Klock. „Niemand sollte auf sein gutes Recht verzichten müssen, nur weil der Weg zum Anwalt zu teuer, zur weit oder zu kompliziert ist“, so Klock. Der Zugang zu Rechtsdienstleistungen solle so einfach „wie eine Bestellung bei Amazon“ sein. Klock entwickelte eine Software anhand einiger Kerndaten zu den Hartz-IV-Anträgen und verkauft diese an Anwälte. An die ausgewählten Anwälte vermittelt er auch diejenigen, die auf seinem Portal rechtlichen Rat suchen. Marco Klock selbst ist kein Volljurist und kann deshalb auch keine Kanzlei betreiben.
Über 50.000 Bescheide geprüft
Seit 2015 arbeitet „hartz4widerspruch.de“ mit den „Sozialrechts-Experten“ der Kanzlei rightmart Rechtsanwalts GmbH zusammen. „Als Partner haben wir gemeinsam schon über 50.000 Hartz 4-Bescheide geprüft und in vielen Fällen eine Korrektur des Hartz 4-Bescheides erreicht“, berichten die rightmart-Anwälte auf dem Portal. „Egal, ob Bescheidprüfung, Widerspruch oder Klage: Die Leistung unserer Partneranwälte ist für Sie immer kostenlos“, verspricht „hartz4widerspruch.de.“ Dank der staatlichen Beratungs- und Prozesskostenhilfe, die es für bedürftige Kläger*innen gibt, ist das finanzielle Risiko bei Standardverfahren für die Legal-Tech-Anwälte gering. Verliert ein Hartz-IV-Bezieher seine Klage, bekommt der Anwalt das Geld von der Prozesskostenhilfe. Wird die Klage oder der Widerspruch gewonnen wird, muss ohnehin das Jobcenter zahlen.
„Verbraucher haben nun die Möglichkeit, Rechtsansprüche durchzusetzen, ohne dabei ein wirtschaftliches Risiko einzugehen (‚no win, no fe‘), erklärte Philipp Hammerich, geschäftsführender Gesellschafter der Legal Tech-Kanzlei rightmart und Vorstandsmitglied des Legal Tech Verbandes Deutschland jüngst gegenüber Legal Tribune Online.
Dies sei vor Jahren noch undenkbar gewesen – nicht zuletzt, weil es Rechtsanwälten nach der Bundesrechtsanwaltsordnung (§ 49b Abs. 2) verboten sei, Mandanten von Prozesskosten freizustellen. Sie dürfen also – anders als Legal-Tech-Unternehmen – nicht die Gerichtskosten ihrer Mandanten finanzieren. Erst Legal-Tech-Unternehmen hätten somit „eine Schar von Verbrauchern ohne Rechtsschutz“ dazu bewegen können, ihre Ansprüche geltend zu machen, so Hammerich. Damit seien „Legal-Tech-Unternehmen ein Glücksfall für den faktischen Rechtsstaat“, schwärmt Legal-Tech-Anwalt Hammerich.
Mit den über die Beratungs- und Prozesskostenhilfe vergüteten Hartz-IV-Verfahren können die Anwälte allerdings finanziell keine großen Sprünge machen. Sie müssen deshalb gut kalkulieren und sehr effizient arbeiten. Und genau dabei hilft ihnen die Legal-Tech-Software. Dabei ist allerdings für die von ihnen bearbeiteten Bescheide ganz wichtig: „Wir brauchen die richtigen Daten“. Das stellte Phillip Hammerich bei der Online-Tagung „Chancen und Risiken der Digitalisierung im Sozialrecht“ der Ruhr Universität Bochum (RUB) und des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) Göttingen am 30. September fest (siehe dazu auch hier).
Häufig lägen die richtigen und die vollständigen Infos, die als Grundlage für die Hartz-IV-Bescheide dienten, nicht vor. Das liege auch an oft komplizierten und unklaren Fragestellungen in den Anträgen.
Auf die Fehler anderer angewiesen
Hammerich brachte dazu ein Beispiel. So steht etwa im Antrag auf Arbeitslosengeld II unter Punkt 5 „Prüfung des Mehrbedarfs“ folgender Text zum wahlweisen Ankreuzen: „Ich erzeuge mein Warmwasser dezentral (z. B. Boiler, Durchlauferhitzer) und habe deshalb einen Mehrbedarf.“ Viele Antragsteller:innen würden gar nicht verstehen, was hier gemeint sei. Deshalb fehlten hier oft die richtigen Angaben – und damit werde den Antragstellenden vielfach auch ein berechtigter Anspruch auf den Mehrbedarf für die dezentrale Warmwasserversorgung vorenthalten. Die Legal-Tech-Anwälte haben deshalb Piktogramme eingesetzt. Es werden Bilder von Geräten zur dezentralen Warmwassererzeugung gezeigt und gefragt: Steht so ein Gerät bei Ihnen in Ihrer Küche oder im Bad? Oft können fehlerhafte Hartz-IV-Bescheide so korrigiert werden.
Das Beispiel zeigt: Die standardisierten Programme der Legal-Tech-Unternehmen „sind angewiesen auf die Fehler anderer“. Das berichtete Prof. Britta Rehder (RUB), die die Angebote der Legal-Tech-Rechtsdienstleister untersucht hat. Fehler kommen bei den Hartz-IV-Bescheiden ja bekanntermaßen reichlich vor. Daher scheint dieses Feld auch geeignet für die automatisierte Standard-Prüfung von Bescheiden.
Doch Legal Tech stößt – auch im Sozialrecht – schnell an Grenzen: Die Legal-Tech-Programme könnten zwar bei spezifischen Teilrechtsgebieten mit relativ einfachen und geklärten Rechtsfragen weiterhelfen, so Rehder. Kompliziertere Fragen, die bei Hartz-IV-Fällen ja auch häufig vorkommen, könnten damit aber nicht mit gelöst werden. Dann muss vielfach direkt ein Anwalt konsultiert und bezahlt werden.
Allerdings: „Das Sozialstaatsklientel ist nicht sehr lukrativ für die digitale Rechtsmobilisierung“, so Britta Rehder. So wundert es nicht, dass sich das das Projekt „hartz4-widerspruch.de“ längst erweitert hat. Seine Leistungen sind seit Oktober 2019 in die Plattform für digitale Rechtsberatung „Atornix“ integriert. Geschäftsführer Marco Klock betreibt dieses Portal für Verbraucherrecht zusammen mit seinem Partner Phillip Harsleben. Neben dem ursprünglichen Geschäftsfeld „Hartz IV“ geht es bei „Atornix“ auch um viele weitere Verbraucher-Themenfelder – etwa in den Bereichen Arbeits-, Verkehrs-, Erb-, Miet- und Immobilienrecht. Es gibt auch einen „Dieselskandal-Helfer“.
Die Prüfung von Jobcenter-Bescheiden und deren Korrektur sei auch „bei Atornix kostenlos“, versprach das Portal den Nutzern bei seinem Start. „In allen anderen Rechtsbereichen bieten wir Ihnen eine kostenlose Erstberatung an und erstellen Ihnen dann ein Angebot.“
Legal Tech auf dem Wachstumsmarkt Gesundheit
Im Sozialrecht haben mittlerweile nach den Erkenntnissen von Prof. Britta Rheder einige Anbieter auch den „Wachstumsmarkt Gesundheit“ für sich entdeckt. Hier ist die Mandantenstruktur differenzierter als bei den SGB-II-Beziehenden und es liegt eine engere Bindung zum Verbraucherrecht (z. B. bei Haftungsfragen) vor. Insbesondere gehe es in diesem Bereich oft um Standardprobleme bei der Bewilligung von Heil- und Hilfsmitteln, aber auch um die Arzthaftung, so Rheder.
Ein Legal-Tech-Akteur auf diesem Markt ist das Portal www.widerspruch.online: „Ihre Krankenkasse will nicht zahlen?“ fragt das Portal auf seiner Startseite in großen Lettern. „Wir empfehlen Ihnen einen erfahrenen von uns unabhängigen Rechtsanwalt, der von Ihnen mandatiert wird und in Ihrem Auftrag Widerspruch für Sie einlegt.“ Das gehe ganz einfach: Man müsse sich lediglich mit seiner E-Mail-Adresse und einem Passwort registrieren, einem ausgewählten Rechtsanwalt eine Vollmacht zur Durchsetzung der Ansprüche erteilen und dann den zweifelhaften Bescheid der Krankenkasse einfach fotografieren, hochladen und die persönlichen Daten eingeben.
„Ihre anwaltliche Vertretung ist für Sie völlig kostenlos“, verspricht das Portal. Die Begründung: „Bei einem erfolgreichen Widerspruch ist die Krankenkasse grundsätzlich dazu verpflichtet, eine Aufwandsentschädigung zu zahlen. Die Kosten für die anwaltliche Vertretung eines verlorenen Falls tragen wir für Sie. Wir können dies für Sie leisten, weil die Rechtsanwälte, die wir vermitteln, an uns Lizenzgebühren für Software bezahlen, die wir Ihnen zur Verfügung stellen.“
Betreiber und Geschäftsführer des Portals, das unter dem Namen SmartLegal GmbH betrieben wird, sind die Hamburger Rechtsanwälte Felix Korten und Jan-Philippe von Hagen. Die SmartLegal GmbH hat ihren Sitz unter der gleichen Hamburger Adresse wie die „Korten Rechtsanwälte AG“, die sich auf „zivil- und wirtschaftsrechtlichen Themen für den Mittelstand“ spezialisiert hat. Das Sozialrecht gehört eigentlich nicht zu den Kerngebieten dieser „Rechtsanwälte AG“. Trotzdem scheint es für die Rechtsanwälte – etwa zur Kundenakquise – attraktiv zu sein, sich über ein angegliedertes Legal-Tech-Unternehmen mit den Widerspruchsverfahren bei den Krankenkassen zu beschäftigen…