Chancen und Risiken der Digitalisierung im Sozialrecht

Tagungsbericht

von Mira Kossakowski | Oktober 2021

Unter dem Titel „Chancen und Risiken der Digitalisierung im Sozialrecht“ fand am 30. September 2021 die Abschlusstagung zum Forschungsprojekt „Digitale Rechtsmobilisierung. Eine Provokation für die Sozialverwaltung?“  (siehe hier), durchgeführt von Prof. Dr. Birgit Apitzsch (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen e.V./Ruhr-Universität Bochum), Prof. Dr. Britta Rehder (Ruhr-Universität Bochum) und Philip Schillen (Ruhr-Universität Bochum), statt. Hier werden einige Aspekte der Tagung beleuchtet.

Über 70 Interessierte aus Wissenschaft und Praxis nahmen an der online durchgeführten Veranstaltung teil, um mehr über die Ergebnisse des durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderten und im Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) verorteten Projektes zu erfahren. An die Ergebnisvorstellung anknüpfend, debattierten Expert*innen aus Verwaltung, Legal-Tech-Szene und Sozialverbänden im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema. Neben der Projekt- und Ergebnisvorstellung stand insbesondere der Praxistransfer der Erkenntnisse im Fokus der Veranstaltung.

Mit digitaler Rechtsmobilisierung ist an dieser Stelle der Einsatz von Legal Technologies gemeint. Dabei handelt es sich um Software, die die Bearbeitung juristischer Prozesse unterstützt oder eigenständig durchführt. Häufig sind diese Anwendungen im Bereich des Verbraucherschutzes zu finden, etwa bei der Durchsetzung von Flug- und Fahrgastrechten. Im Sozialrecht versprechen Anbieter beispielweise, gegen fehlerhafte Entscheidungen des Jobcenters vorzugehen (siehe auch hier).

Verbessert digitale Rechtsmobilisierung den Zugang zum Recht?

Projektmitarbeiter Philip Schillen begrüßte zum Auftakt die Teilnehmer*innen und stellte das Forschungsprojekt vor. Im Zentrum der Untersuchung standen sowohl kommerzielle als auch nicht-kommerzielle Anbieter von Rechtsdienstleistungen: Auf der kommerziellen Seite Legal-Tech-Anbieter wie Online-Rechtsanwaltskanzleien und Rechtschutzversicherer, auf der nichtkommerziellen Seite Ansprechpartner*innen wie Gewerkschaften, Sozialverbände und staatliche Stellen. Die zentrale übergeordnete Frage lautete: Verbessert die digitale Rechtsmobilisierung den Zugang zum Recht? Dabei wurde insbesondere die Rolle der bereits genannten Akteure betrachtet und damit einhergehend wurden im Forschungsprojekt Fragen nach Strategien, Zielen und Potenzialen im Zusammenhang mit digitalen Rechtsdienstleistungen untersucht.

Die Corona-Pandemie, die sich nach Beginn des Forschungsprojektes entwickelte, spielte beim Fortschritt des Vorhabens eine nicht unerhebliche Rolle. Nichtkommerzielle Anbieter von Rechtdienstleistungen waren pandemiebedingt gezwungen, ihre Angebote in den digitalen Raum zu verlagern, was eine mögliche Verschiebung von Erfahrungswerten mit sich brachte.

 Legal Tech steckt im Sozialrecht noch in den Kinderschuhen

Teil des ersten Konferenzabschnittes bildeten außerdem die Ergebnisberichte des Projektes, die eine Übersicht der erlangten Erkenntnisse gaben. Prof. Britta Rehder stellte im ersten Abschnitt der Ergebnispräsentation die Resultate der Untersuchung zu den kommerziellen Anbietern von Legal-Tech-Rechtsdienstleistungen vor.  Dabei stellte sie als zentralen Befund heraus, dass hier eine eher gebremste Entwicklungsdynamik bei Legal-Tech-Anbietern im Sozialrecht zu identifizieren sei. Es wurde hervorgehoben, dass allgemein eine Fokussierung auf spezifische Teilgebiete im Sozialrecht – insbesondere Hartz IV und den Gesundheitssektor – stattfinde. Auch das Mietrecht als ein an das Sozialrecht angrenzendes Gebiet spiele eine nicht unbedeutende Rolle. Trotz des Entwicklungsbedarfes wurde prognostiziert, dass Legal-Tech-Anbieter möglicherweise das Potenzial hätten, zu einem wichtigen Treiber für eine generelle Digitalisierung im Rechtssystem zu werden.

 Digitalisierung im Sozialrecht: Entwicklungen in Zivilgesellschaft und Sozialverwaltung

Prof. Birgit Apitzsch knüpfte an diesen Vortrag an und berichtete, welche Ergebnisse die Untersuchung bei den nichtkommerziellen Anbietern hervorbracht hat. Vor allem die Folgen der Pandemie spielten hier bei der Erhebung eine wichtige Rolle, da diese zu grundlegenden Veränderungen in der Arbeit nichtkommerzieller Anbieter führten. Obwohl die interne Arbeit von Wohlfahrts- und Sozialverbänden, lokalen Beratungsstellen, Selbsthilfeinitiativen und auch der Sozialverwaltung bereits vor der Pandemie fortschreitend digitalisiert wurde, sei es besonders bei dem Kontakt zu Bürger*innen zu starken Verschiebungen und Entwicklungen gekommen. Corona sei ein „Digitalisierungsbeschleuniger“ gewesen. Es habe sich aber gleichzeitig gezeigt, wie wichtig weiterhin der persönliche Kontakt für die ratsuchenden Bürger*innen sei.

 Der Mensch muss im Fokus stehen

Moderiert von Dr. Birgit Apitzsch diskutierten Philipp Hammerich (Geschäftsführer der Legal Tech-Kanzlei rightmart), Thomas Uhlen (Landessektretär der Caritas Niedersachsen) sowie Caroline Weber und Martin Födisch (Bundesagentur für Arbeit) zur Frage, ob die Digitalisierung den Zugang von Bürger*innen zum Sozialrecht erleichtert. Dabei kamen alle Beteiligten zu einer gemeinsamen Erkenntnis: Der Mensch muss, egal bei welchem Angebotsformat, im Fokus stehen!

Zunächst ging es um die Frage, welcher Umgang mit der Digitalisierung in den Tätigkeitsbereichen der Befragten herrscht. Dabei beschrieben alle Beteiligten, dass sie – in teilweise unterschiedlicher Form – auf Digitalisierung setzen. Caroline Weber und Martin Födisch von der Bundesagentur für Arbeit (BA) gaben einen Einblick in die Ansätze und Strategien, mit denen die BA die Antragsbearbeitung sowie den Weg zu Ansprechpersonen erleichtern will. Thomas Uhlen, Landessekretär der Caritas Niedersachsen, beschrieb, dass für interne Arbeitsprozesse, aber auch vermehrt auch für die Kommunikation mit Bürger*innen auf digitale Technologien gesetzt werde. Die Caritas bietet dafür die Möglichkeit der Onlineberatung, die mit lokalen und persönlichen Beratungsangeboten verzahnt ist. Sie ist als Wohlfahrtsverband von der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes betroffen.

Dr. Philipp Hammerich, Geschäftsführer der Legal Tech-Kanzlei rightmart, beschrieb, wie die Kanzlei digitale Kanäle zur Mandant*innenakquise, aber auch zur Fallbearbeitung nutzt. Ein wichtiger Punkt an dieser Stelle sei zudem die Aufarbeitung der bereitgestellten Daten, um mögliche Problem- und Fehlerquellen zu ermitteln. Auch die Vertreter*innen der Bundesagentur für Arbeit äußerten ein Interesse an dieser Möglichkeit.

Vereinfachter Zugang zum Sozialrecht gefordert

Thomas Uhlen hob hervor, dass es wichtig zu berücksichtigen sei, wer mit den digitalen Angeboten nicht angesprochen wird: Insbesondere Menschen mit persönlichen Einschränkungen, beispielweise durch eine Behinderung, seien nicht die Zielgruppe digitaler Angebote. Dr. Philipp Hammerich äußerte hingegen, dass rightmart durch die Pandemie neue Zielgruppen erreicht habe, da es einen allgemeinen Hemmschwellenabbau im Umgang mit digitalen Angeboten gegeben habe. Beide Teilnehmer waren sich jedoch einig, dass der Gesetzgeber in der Verantwortung stehe, den Zugang zu sozialen Leistungen deutlich einfacher zu gestalten.

Die Vertreter*innen der BA fügten hinzu, dass auf unterschiedlichen Wegen versucht wurde während der Pandemie den Kontakt zur BA abzusichern. Ihre E-Services seien häufig genutzt worden, gleichwohl habe immer eine Nachfrage nach persönlichem Kontakt bestanden.

Weber und Födisch meinten zudem, dass der Onlinezugang zu Sozialleistungen deutlich niedrigschwelliger sei. Dies sei nicht nur für ihre Kund*innen relevant, sondern auch für die Dienstleister*innen selbst:  So könne durch eine niedrigschwelligere Gestaltung der Antrags- und Datenbearbeitung für mehr Effizienz gesorgt werden. Wie wichtig die Frage der Niedrigschwelligkeit allen Beteiligten war, zeigte auch die daran anknüpfende Äußerung Hammerichs, der betonte, dass für die Anwälte die Informationsbeschaffung auf digitalem Weg deutlich schwieriger sei als bei einer persönlichen Beratung vor Ort. Um diesen Prozess niedrigschwellig zu gestalten, müsse die Art und Weise der Informationsbereitstellung völlig neu gedacht werden. Auch Thomas Uhlen schloss sich der Forderung nach einfacheren Prozessen an, betonte aber erneut, dass eine tatsächliche Vereinfachung des Zuganges zum Sozialrecht auch jenseits der digitalen Schnittstellen nur durch den Gesetzgeber selbst herbeigeführt werden könne.

Legal Tech immer nur als ergänzendes Angebot

Trotz der unterschiedlichen Erfahrungswerte herrschte auf dem Podium Einigkeit darüber, dass digitale Angebote und sogar ein gewisser Grad an Automatisierung hilfreich seien, der Mensch jedoch immer im Mittelpunkt stehen müsse. Uhlen berichtete, dass viele Menschen, die sie vor Ort beraten hätten, online verloren gegangen seien – dabei seien es insbesondere diejenigen, die durch höhere Barrieren Unterstützung benötigten, die digital nicht mehr erreichbar seien. Auch Weber und Födisch erklärten, dass persönlicher Kontakt notwendig sei, um möglichst viele ihrer Kund*innen zu erreichen.  Hammerich fügte dem Thema hinzu, dass rightmart zwar viele Prozesse automatisieren, aber kein Ersatz für die analoge Welt sein könne. So sei Legal Tech vielmehr als ergänzendes Angebot zu betrachten.

Mit der abschließenden Frage, welche Wünsche die Teilnehmenden auf dem Podium an die Politik hätten, wurde erneut deutlich, dass ein einfacherer Zugang zum Sozialrecht, bei dem der Mensch selbst im Fokus steht, Priorität hat. So sei eine transparente Kommunikation wichtig, aber auch ein effizienterer Umgang mit bereits vorhandenen Daten. Vorrangig wurde jedoch der Gesetzgeber wiederholt in die Pflicht genommen: Dieser müsse den Zugang zum Sozialrecht vereinfachen, sei es durch mehr Unterstützung für Bürger*innen oder eine stichprobenartige Antragsprüfung anstelle großflächiger Kontrolle.

Mira Kossakowski, M.A.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politikwissenschaft/Politisches System Deutschland an der Ruhr-Universität Bochum