Soziale Herkunft von Sozialrichter:innen kaum erforscht
von Sarah Schulz | Februar 2022
Im Sozialgericht passieren im Kleinen viele Kämpfe um die Ausgestaltung sozialer Rechte. Über den Ausgang dieser Konflikte entscheiden Sozialrichter:innen. Bei ihren Bewertungen könnte auch ihre soziale Herkunft von Bedeutung sein: Kann etwa ein verbeamteter Richter aus einer Akademikerfamilie über das rechtliche Anliegen und die Situation einer Hartz-IV-Empfängerin ohne Bildungsabschluss vorurteilsfrei, verständlich und fair urteilen? Ist die soziale Herkunft der Richter:innen für ihre Entscheidung wichtig?
Wie wichtig die deutsche Sozialgerichtsbarkeit ist, wird gern anhand der hohen Zahl gerichtlicher Fälle verdeutlicht. Im Jahr 2020 wurden allein vor den Sozialgerichten – also den unteren Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit – 328.471 Klageverfahren erledigt (siehe hier, S. 15).
Diese Quantifizierung der Wichtigkeit will mit zahlenmäßiger Höhe beeindrucken. Das kann sie auch, muss sie aber eigentlich gar nicht. Denn eine Herleitung aus der Sache allein zeigt die gesellschaftliche Dimension, mit der wir uns hier beschäftigen müssen.
Sozialpolitik beeinflusst ganz unmittelbar die Lebenswirklichkeit der Menschen. Abstrakt gesprochen spiegeln sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in der Sozialpolitik wider: Wie werden gesellschaftliche Widersprüche ausbalanciert? Werden sie ausgeglichen oder verschärft? In welche Richtung wird was ausgeglichen, wer wird ausgeschlossen? Wegschauen, fördern und fordern oder ein auskömmliches Leben für alle? Diese abstrakten Fragen rufen – zu Recht – politischen Streit hervor.
Abstrakte soziale Gerechtigkeit und konkrete soziale Realität
Weniger politisch heiß diskutiert scheint – obwohl ein vorangehender Konflikt in der Natur der Sache gerichtlicher Auseinandersetzungen liegt – das Sozialrecht selbst zu sein. Doch das liegt wohl vornehmlich an seiner überbordenden Komplexität, deren Teufel wie so oft im Detail steckt. Hier geht es ganz konkret um das Ergebnis aus den großen politischen Weichenstellungen.
Gesetze sind der rechtstaatliche Versuch, Politik regelhaft umzusetzen. Die materialistische Theorietradition betont, dass Recht lediglich die Stütze des Status quo sei, mithin hiermit soziale Veränderungen gerade nicht geschehen. Leider hat sich diese Kritik schon allzu oft bestätigt. Die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus hat in ihrem 1986 erschienenen Buch Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus trotz der desillusionierenden Analyse der deutschen etatistischen Rechtsstaatsentwicklung auch optimistisch auf das Potenzial des Rechts geblickt. Gerade wenn das formale Recht politische Gleichheit gewährt, steht auch soziale Ungleichheit mehr und mehr zur Debatte. So bietet ein demokratischer Rechtsstaat die Möglichkeit, soziale Kräfteverhältnisse umzugestalten.
Prominent trat der Politik- und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth für einen demokratischen sozialen Rechtsstaat ein und stritt sich mit der Traditionselite der konservativen, nationalistischen Staatsrechtslehre, in persona am liebsten mit dem Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff (siehe hier, ab S. 85).
Heutzutage wissenschaftlich en vogue ist die Frage nach der Ausgestaltung einer sozial-ökologischen Transformation (siehe z. B. hier). Ob bei der sozial-ökologischen Transformation, dem demokratischen sozialen Rechtsstaat oder der rechtlichen Absicherung des bürgerlichen kapitalistischen Status quo: Recht spielt dabei immer eine tragende Rolle. Wir müssen nur fragen: „Welches Recht, welche Vergleiche, welche Wirkungen?“, wie die Juristin Ulrike Müller in ihrer 2020 erschienenen Studie zu SGB-II-Klagen schrieb. Das bürgerliche Recht des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war ein anderes als das heutige Sozialrecht. Die großen abstrakten Kritiken der Makroebene müssen also empirisch auf die Mikro- und vor allem die institutionelle Mesoebene geholt werden. Im konkreten Einzelfall und mit komplexen, komplementären oder sich ausschließenden Regelungen werden im sozialgerichtlichen Verfahren die abstrakten Fragen nach Gerechtigkeit und sozialen Rechten auf den harten Boden der gesellschaftlichen (Einzelfall-)Realität geholt.
Sind beispielsweise prozessrechtliche Erleichterungen für alle gleichermaßen gut? Ein aktuelles Beispiel aus dem Strafrecht zeigt die sozialen Härten, um die es bei solchen Fragen gehen kann. Wenn Verurteilungen per Brief möglich sind, mindert das zwar die Arbeitsbelastung im Justizsystem. Es kann auch für Angeklagte angenehmer sein, nicht vor Gericht erscheinen zu müssen. Wenn diese Briefe aber Wohnungslose nicht erreichen oder Menschen mit Demenz sie nicht einordnen können und sie die geforderten Bußgelder nicht zahlen, dann drohen Ersatzfreiheitsstrafen aufgrund von Bagatelldelikten. Das Absitzen solcher Ersatzfreiheitsstrafen, das jüngst der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ anschaulich dokumentiert hat, weist auf soziale Probleme in der Gesellschaft und im Justizprozess selbst hin. Wir haben es hier eigentlich nicht mit strafrechtlichen Themen zu tun, sondern mit sozialen. Strafrecht ist gern Beispiel für rigides Recht, das Marginalisierte drangsaliert. Die soziale Dimension von Recht ist aber weitgreifender und auf dem Gebiet des Sozialrechts werden konkrete Ausgestaltungen der sozialen Rechte verhandelt. Hier passieren im Kleinen die Kämpfe um die großen abstrakten Forderungen. Der Autor der gerade angesprochenen Studie, Ronen Steinke, bemüht (auch als Untertitel seines Buches) den gern zitierten, aber umstrittenen Begriff der „Klassenjustiz“. Dazu müssten wir aber genauer wissen, wer eigentlich zu Gericht sitzt. Wer urteilt am Sozialgericht?
„Klassenjustiz“ – ein unklarer und umstrittener Begriff
In der rechtssoziologischen Diskussion ist der Begriff „Klassenjustiz“ weit verbreitet. Anders als man vermuten könnte, gehört er aber nicht zu den zentralen Begriffen des Marxismus, wie der Soziologe und Rechtswissenschaftler Klaus F. Röhl in seinem 1987 erschienenen Lehrbuch „Rechtssoziologie“ (Kapitel 8, S. 385) anmerkt: „Für den Marxismus bringt die Vorstellung von Klassenjustiz keine neuen Einsichten, denn nach der Lehre von Basis und Überbau bilden Recht und Justiz lediglich den ideologischen Reflex der Produktionsverhältnisse. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist deshalb schlechthin alles Klassenrecht und die Justiz notwendig Klassenjustiz“, so Röhl. So wie der Begriff inzwischen vielfach verwandt wird, sind damit aber keine Klassengegensätze (im marxistischen Sinn), sondern Schichtunterschiede zwischen Richter:innen und denen, die beim Gericht erscheinen (müssen) gemeint. Mit dem Begriff der „Klassenjustiz“ verbinde sich kein „einheitliches analytisches Konzept“, stellt Röhl fest. Oft gehe es dabei nur um „die Frage, ob sich Richter bei der Ausübung ihres Handlungs- und Entscheidungsermessens von einem durch Herkunft, Erziehung und Schichtzugehörigkeit gelenkten Vorverständnis leiten lassen.“
H.N.
„Klassenjustiz?“ Viele Fragen – einige Antworten
Welche Arzneimittel müssen von der Krankenkasse bezahlt werden? Wird das gewünschte Pflegehilfsmittel gewährt? Muss das Jobcenter die Weiterbildung unterstützen? Wo bringe ich den suchtbedrohten Jugendlichen unter? Wann kann eine Kostenerstattung für eine Therapieplatz beantragt werden? Wer trägt welche Verfahrenskosten und wie wird das eigentlich geregelt?
Jede einzelne dieser Fragen hat in erster Linie einen Menschen und seine Geschichte im Hintergrund. Wenn Konflikte um die Beantwortung dieser Fragen auftreten, kann die Sozialgerichtsbarkeit ins Spiel kommen. Die erste übergeordnete Frage wäre hier: Wer arbeitet als Richter:in am Sozialgericht und entscheidet diese Fragen? Die zweite, darauffolgende Frage wäre: Ist es überhaupt wichtig, wer entscheidet?
Es verwundert schon fast: Die erste Frage könne wir nicht beantworten und bei der zweiten Frage können wir viel spekulieren und Thesen diskutieren. Obwohl also die Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland ein eigenständiger Gerichtszweig ist und diese Besonderheit auch stets betont wird, ist sie in ihrer Situiertheit und Wirkung im politischen System der Bundesrepublik noch zu wenig erforscht. Insbesondere richtersoziologische Erhebungen sind rar. Über die ehrenamtlichen Richter:innen, die als sogenannte Lebensweltvermittler:innen fungieren und in das Sozialgerichtsverfahren Erfahrungen mit Leistungen und Defiziten des Sozialstaats einbringen, wissen wir dank einer Studie des Zentrums für Sozialforschung in Halle etwas mehr (siehe dazu auch den zweiten Beitrag dieses Themas des Monats).
Klassenjustiz ist strukturell zu verstehen, aber auch personell im interdependenten Wechselverhältnis zwischen Struktur und Akteur:innen in der Struktur zu erforschen. Der Richtersoziologie muss entsprechend wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet werden, um das interdependente Verhältnis konkret charakterisieren zu können.
Richtersoziologie – oder wer entscheidet eigentlich?
Eine der wohl bekanntesten Antworten auf die erste Frage nach dem „Wer?“ kam von Ralf Dahrendorf. Der Soziologe veröffentlichte 1965 die Studie „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“. Die Ergebnisse waren bitter. Konstatierte er doch, dass ein Großteil der deutschen Elite aus Juristen (das generische Maskulinum ist hier bewusst zur Betonung der männlichen Dominanz gewählt) besteht und dass sie „den Rechtsstaat durch alle Versionen und Perversionen seiner Gestalt in den letzten hundert Jahren begleitet“ haben. Eine juristisch ausgebildete Elite sei kein hinreichendes Kriterium für einen stabilen Rechtsstaat. Sie ist es erst recht nicht für soziale Gerechtigkeit, möchte man hinzufügen.
Die Homogenität der konservativen Elite verhinderte nicht nur sozialen Fortschritt, sondern war historisch dem Faschismus nicht abgeneigt. Das hatte schon der Rechts- und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel für das deutsche Kaiserreich konstatiert. Durch seine rechtswissenschaftliche Arbeit und seine anwaltliche Tätigkeit hatte er profunde Einblicke in die Justiz, ihr Personal und ihre Praxis. Eine „gewisse Kleinbürgerlichkeit“, so Fraenkel in seinem 1927 erschienenen Band „Zur Soziologie der Klassenjustiz“, sei Kennzeichen der Richterschaft des monarchistischen Deutschlands gewesen, „zu dem Proletariat schlug keine soziale, gesellschaftliche oder geistige Brücke“ und die neue demokratische Weimarer Republik erschien ihr suspekt. Auch hier war die „Klassenjustiz“ schon programmatisch im Titel aufgeführt.
Nun ist die Sozialgerichtsbarkeit jüngeren Datums. Weder im Kaiserreich noch in Weimar existierte sie als eigenständiger Gerichtszweig. Über ihre Vorläufer haben u. a. Wolfgang Ayaß, Alfred Christmann, Siegfried Schönholz und Florian Tennstedt gearbeitet (siehe hier).
Die bundesrepublikanische richtersoziologische Forschung widmete sich allerdings öfter der Richterschaft allgemein und nicht den Sozialrichter:innen im Besonderen. Eine Hochphase der rechtssoziologischen Forschung liegt in der zweiten Hälfte der 1960er und der beginnenden 1970er Jahre. Hier wurde zwar nicht unbedingt in expliziter Verbindung mit der 68er-Bewegung, aber in gewisser Hinsicht in ähnlichem Fahrwasser, um eine Modernisierung der Justiz und der Juristenausbildung gerungen, was sich in der Forschung niederschlug. So wertete etwa Walther Richter, ehemals Präsident des Oberlandesgerichts Bremen, in seiner 1968 erschienenen Untersuchung „Zur soziologischen Struktur der deutschen Richterschaft“, die Personalunterlagen von 2.000 Richter:innen aus, die zwischen 1961 und 1965 in der ordentlichen Gerichtsbarkeit eingestellt wurden. Er stellte fest: 90 % aller Richter:innen kamen aus einem Elternhaus der Mittelschichten, davon 62,7 % aus der oberen und 28,2 % aus der unteren Mittelschicht. Aus der oberen Unterschicht stammten lediglich 4,8 % und aus der unteren Unterschicht 3,4 %. Die Unterschichten, die insgesamt die Mehrheit der Bevölkerung (55 %) ausmachten, entsandten also nur gut 8 % der Richter:innen.
Das 1971 erschienene Buch „Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie“ des Rechtssoziologen Wolfgang Kaupen und des Richters Theo Rasenhorn unterstrich schon im Titel Dahrendorfs Kritik an der abgeschotteten Justiz, die sich einer modernen demokratischen Gesellschaft nur schwer zu nähern vermag und Klassenunterschiede manifestiert.
Was wissen wir, wenn wir wissen, wer entscheidet?
Der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner betonte in den 1980er Jahren, dass die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, politischer Einstellung und tatsächlicher richterlicher Entscheidungsfindung nicht vorschnell kausal gezogen werden können. Er zeigt uns also Wege für die Beantwortung der zweiten Frage: Ist es wichtig, dass wir wissen, wer zu Gericht sitzt?
Das wäre wichtig, wenn festgestellt wird, dass dieselben Richter:innen die gleichen Fälle je nach Schichtzugehörigkeit der Betroffenen unterschiedlich beurteilen oder: wenn Richter:innen von unterschiedlicher sozialer Herkunft die gleichen Fälle anders beurteilen. Fraglich ist auch, ob soziale Notlagen in ihrer Dringlichkeit erkannt werden können. Muss man darin „erfahren“ sein, um richtig zu urteilen, oder tut das nichts zur Sache?
Rottleuthner legte in seiner 1984 erschienen Studie „Soziale Merkmale, Einstellungen und Verhaltensweisen von Arbeitsrichtern“ instruktive Forschung zur Richter:innen der Arbeitsgerichte vor. Kausale Zusammenhänge zwischen Urteilen und politischer Einstellung oder sozialer Herkunft seien schwer auszumachen. Es müsse differenziert werden, zum Beispiel zwischen lebensgeschichtlich früh sozialisierten oder später erworbenen Einstellungen. Im Lichte der heutigen postmodernen politischen Theorie könnte diese These noch einmal diskutiert und materialistisch untermauert werden: Wie also determinieren soziale Verhältnisse das Handeln der Akteur:innen; wie wirken letztere auf Strukturen zurück? Es ließe sich nach Karrierewegen (traditionell nach dem Referendariat oder über eine juristische Laufbahn in der Verwaltung) und ihre Auswirkungen auf die Spruchpraxis fragen. Beeinflusst die Berufserfahrung aus der Exekutive die judikative Tätigkeit, vielleicht auch einzelne Rechtsgebiete und ihre politische Brisanz (z. B. das SGB II)? Schwächt das die judikative Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive oder stärkt es sie gar? Oder könnte beispielsweise durch eine eigene, richterliche Migrationsgeschichte das Verwaltungshandeln rassismussensibler betrachtet werden und hätte das Auswirkungen auf Urteile?
Die Frage nach der sozialen (Aus-)Wirkung richterlicher Entscheidung ist insbesondere in der Sozialgerichtsbarkeit relevant. Der klassische Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, der ja Grundlage für den Begriff der „Klassenjustiz“ ist, ist in einer prekarisierten Arbeitswelt zwar immer noch ausschlaggebend, soziale Probleme sind aber mehrdimensionaler. Hier spielen Geschlecht, Migrationsgeschichte, Behinderung und weitere Aspekte eine Rolle.
Eine Frage wäre, welche Jurist:innen nach ihrer Ausbildung den Weg in die Sozialgerichtsbarkeit finden und ob sie dort ihre politische Einstellung oder ihre soziale Herkunft in der Bearbeitung der Fälle sichtbar werden lassen. Ulrike Müller hatte in ihrer Studie darauf hingewiesen, dass sozialgerichtliche Entscheidungen zum SGB II für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Jobcenter zuträglich waren, die Justiz hier also schlicht „ihren Job macht“: Sie kontrolliert die Exekutive. Und erarbeitet sich so auch das Vertrauen von Klagenden.
Sozialgerichte gegen „Klassenjustiz“?
Kann also, politisch verstanden, soziale Gerechtigkeit in Sozialgerichtsurteilen verfolgt werden? Weist die Judikative die Exekutive in die Schranken und der Vorwurf der „Klassenjustiz“ ist mit Blick auf die Sozialgerichte völlig falsch? Wir wissen es kaum.
Eine der wenigen Studien, die existieren, beschäftigt sich nur mit der obersten Instanz, mit den Richter:innen des Bundessozialgerichts. Der vor seinem Ruhestand selbst dort tätige Richter Wolfgang Spellbrink befragte und erforschte um die Jahrtausendwende die Einstellung seiner Kolleg:innen. Seine Ergebnisse erschienen 2004 im Rahmen der Festschrift „50 Jahre Bundessozialgericht“ (siehe hier, S. 875).
Diese Innenperspektive hat Vor- und Nachteile zugleich; der Autor ist sich diesen auch bewusst. Interne Konventionen und Abläufe, „Flurfunk“ und Kantinengespräche können schwer von außen richtig eingeordnet werden. Das Expertenwissen hilft bei der Konzeption der Forschung. Zugleich verstellt es gegebenenfalls den Blick auf Aspekte, die leichter von außen sichtbar sein können, thinking outside the box, sozusagen.
Spellbrinks Studie „Das Bundessozialgericht aus dem Blickwinkel der Rechtssoziologie – oder wie wird man Bundesrichter?“ erfragte die soziale Herkunft, die Geschlechterverteilung und die Karrierelaufbahn. Dabei fiel auf, dass die BSG-Richter:innen dem düsteren Dahrendorfschen Bild einer konservativen und homogenen Juristenschaft nicht entsprechen, sondern durchaus auch selbstreflexiv und kritisch ihre Institution und ihre Postenbesetzung betrachteten. Fast alle Befragten gaben damals an, dass ihr Status als Bundesrichter:in einen sozialen Aufstieg darstellte.
Allerdings haben wir keinen Überblick, wie es an den einzelnen Sozialgerichten und Landessozialgerichten aussieht – auch nicht, wie hier die Geschlechterverteilung oder die Migrationsgeschichte der Richter:innen ist. Die jährlichen Erhebungen des Bundesamtes für Statistik fragen nicht nach sozialen Merkmalen der Sozialrichter:innen. Wir müssten sogar zunächst noch die genaue Anzahl ermitteln. Bernard Braun und andere haben im Rahmen ihrer Forschung zum Anstieg der Klageverfahren und zum Gebührenrecht in der Sozialgerichtsbarkeit schon 2009 herausfinden können, dass die Angaben im Handbuch der Justiz stets mit den Gerichten abgeglichen werden müssen, um allein die tatsächliche Anzahl der Richter:innen zu ermitteln (siehe hier, S. 46 ff.).
Kurzum: Einige Forschung zur Sozialgerichtsbarkeit wurde begonnen – zum Beispiel bei der Universität Kassel (siehe hier).
Aber der Weg ist noch lang…