von Livia Hentschel | Okt. 2020
Es stellt sich die Frage, wie eine EU-Rahmenrichtlinie für ein adäquates Mindesteinkommen ausgestaltet sein könnte. Zu welchen die Grundsicherung betreffenden Kriterien wäre die Setzung von Mindeststandards ratsam? Hier werden Vorschläge dazu erläutert.
Grundsicherungssysteme sind steuerfinanzierte Systeme. Die Grundsicherung dient als „letztes soziales Netz“, wenn Menschen in finanzielle Notlagen geraten, die sie weder durch eigene oder familiäre Hilfe, noch durch vorgelagerte Sozialleistungen abdecken können. Mittlerweile weisen alle EU-Mitgliedstaaten Elemente von Grundsicherungssystemen auf, allerdings variiert die Höhe der Grundsicherungsleistungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich. Zudem variiert der Grad der Abdeckung mit Grundsicherungsleistungen (d. h. der Anteil der Bedürftigen, die Unterstützung erhalten) und Grad der (Nicht-)Inanspruchnahme (d. h. der Anteil der Leistungsberechtigten, die einen Antrag stellen). Auch bestehen erheblich Unterschiede bei dem Bemühen, nichterwerbstätigen oder arbeitslosen Personen zu einer unbefristeten, qualifizierten Beschäftigung zu verhelfen.
Nicht nur die jüngst von den europäischen Staats- und Regierungschefs proklamierte Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) fordert in ihrem Grundsatz Nr. 14 angemessene Mindesteinkommensregelungen in der EU, auch die Bundesregierung setzt sich auf Grundlage ihrer Koalitionsvereinbarungen für „einen Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten“ ein (siehe hier).
Zahlreiche Gutachten beweisen: Die Kompetenzen für unionsweites verbindliches Handeln sind auf Grundlage von Art. 153 AEUV gegeben, wie im vorhergehenden Artikel dieses Titelthemas gezeigt wurde.
Gefragt ist nun ein starker politischer Wille. Es geht explizit nicht um die Vereinheitlichung bestehender Systeme, sondern um die Festlegung von sozialen Mindeststandards, die in der nationalen Ausgestaltung nicht unterschritten dürfen werden.
Grundlage der festzulegenden Kriterien einer Richtlinie bilden Mindeststandards. So kann die Heterogenität der verschiedenen Systeme in den Mitgliedstaaten aufrechterhalten bleiben, gleichzeitig aber ein angemessenes Niveau sichergestellt werden, was langfristig auch zu einer sozialen Konvergenz nach oben führt. Ein nationales System kann natürlich weitergehende und bessere Standards vorweisen, nicht aber unter die festgelegten Mindestanforderungen fallen. Unweigerlich stellt sich die Frage, zu welchen die Grundsicherung betreffenden Kriterien die Setzung von Mindeststandards ratsam wäre.
Wichtige Punkte für Mindeststandards
Bei der Entscheidung über mögliche festzulegende Kriterien ist es hilfreich, sich an der vom European Anti Poverty Network (EAPN) und dem European Minimum Income Network (EMIN) herausgearbeiteten drei Kriterien zu orientieren:
- Zugänglichkeit,
- Angemessenheit und
- Befähigung.
Dabei erachtet der DGB mindestens folgende sieben Punkte als unerlässlich bei der Einführung einer Rahmenrichtlinie für ein angemessenes Mindesteinkommen:
1. Individueller Rechtsanspruch für alle Hilfebedürftigen (Zugänglichkeit)
Jede(r) europäische Bürgerin und Bürger muss einen individuellen Rechtsanspruch auf Leistungen der Mindestsicherung haben, sofern die Person in eine Notlage kommt. Der Rechtsanspruch muss bestehen, solange die Notlage andauert; zeitliche Limitierungen sind auszuschließen. Sofern der Leistungsanspruch an Mitwirkungspflichten gekoppelt ist, muss sichergestellt werden, dass auch bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten die Leistung zumindest in äquivalentem Umfang als Sachleistungen zur Verfügung gestellt werden. Dem Individualanspruch steht nicht entgegen, dass die Anspruchsprüfung im Haushaltskontext erfolgt. Wird jedoch ein Leistungsanspruch festgestellt, muss dieser individuell gewährt werden.
Sofern der Mitgliedstaat eine Bedürftigkeitsprüfung vorsieht, müssen die zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen klar und deutlich definiert sein. Die Anforderungen an die Bürgerinnen und Bürger bezüglich des Beibringens von Nachweisen über Einkommen und Vermögen dürfen nicht überzogen sein, sondern müssen von den betroffenen Personen objektiv leistbar sein.
2. Diskriminierungsfreier Zugang (Zugänglichkeit)
Jeder Mitgliedstaat muss gewährleisten, dass der Zugang zu Leistungen der Mindestsicherung diskriminierungsfrei ist. Dieser diskriminierungsfreie Zugang muss für alle Bürgerinnen und Bürger gelten, die rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben. Differenzierungen zum Beispiel in der Leistungserbringung und bezüglich der Leistungshöhe nach Personengruppen müssen in unterschiedlichen Bedarfslagen der Personengruppen begründet sein.
3. Widerspruchsmöglichkeit (Zugänglichkeit)
Sofern eine betroffene Person nicht mit der Entscheidung der verantwortlichen Behörde einverstanden ist, muss ihr die Möglichkeit zustehen, mittels eines Rechtsbehelfs zu veranlassen, dass die Behörde die Entscheidung erneut überprüfen muss. Hält die Behörde an ihrer Entscheidung fest, muss die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung gegeben sein.
4. Höhe der Leistung (Angemessenheit)
Selbst wenn mittlerweile alle Mitgliedstaaten in der EU Systeme der Grundsicherung vorweisen, sind die Unterschiede in der Höhe der Leistungen gewaltig. Um sicherzustellen, dass in jedem Mitgliedstaat die Bürgerinnen und Bürger trotz Leistungsbezug nicht in Armut fallen und schrittweise eine Konvergenz „nach oben“ stattfindet – also sich eine Limitierung zwischenstaatlicher Unterschiede orientiert an den höheren Standards – muss auf europäischer Ebene eine Methodologie zur mindesten Leistungshöhe festgelegt werden.
Zentrales Ziel muss ein Leistungsniveau sein, welches die Betroffenen hinreichend vor Armut schützt. Dabei spricht sich der DGB für den auf europäischer Ebene anerkannten Indikator der 60-Prozent-Armutsrisikogrenze aus (siehe unten: „So wird die Armutsrisikogrenze ermittelt“) aus. Nach dem Vorschlag von Prof. Benjamin Benz könnte dieses Ziel allerdings erst phasen- und schrittweise (10 Jahre) nach länderspezifischen Gruppen – anknüpfend an ihre bestehenden Mindestsicherungsniveaus und ihre Wirtschaftskraft – umgesetzt werden. So hätten Mitgliedstaaten mit niedrigen Grundsicherungssätzen mehr Zeit, um schrittweise ihre Grundsicherungsleistungen auf die Armutsrisikogrenze zu erhöhen.
So wird die Armutsrisikogrenze ermittelt
Die Armutsrisikogrenze wird ermittelt, indem alle erfassten Haushaltnettoeinkommen auf Einpersonenhaushalte mittels einer Äquivalenzgewichtung umgerechnet werden. Von diesen Nettoeinkommen der Einpersonenhaushalte wird der so genannte Median (Zentralwert) berechnet. Der Median darf nicht mit dem Durchschnitt verwechselt werden. Er teilt die Liste aller Werte in zwei Hälften: Die eine Hälfte aller Haushalte liegt mit ihrem Nettoeinkommen über dem Median, die andere darunter. 60 Prozent von diesem Medianwert gelten nach dem EU-Standard als Armutsrisikogrenze. Die Armutsrisikogrenze beträgt also 60 Prozent des mediangemittelten Nettoäquivalenzeinkommens und zeigt so das relative Existenz- und Teilhabeminimum in einer bestimmten Gesellschaft an, das eine Ausgrenzung wegen zu geringer Einkommen in dieser Gesellschaft verhindern soll. (mehr dazu hier ).
Dabei ist zu betonen, dass sich das Europäische Parlament in verschiedenen Entschließungen auf die Forderung der 60-Prozent-Armutsrisikogrenze geeinigt hat (siehe z. B. hier: 2008/2034(INI) sowie 2010/2039(INI)) und auch die europäischen Staats- und Regierungschefs im Dezember 2001 in Laeken den gleichen Indikator als zentralen Armutsindikator gebilligt haben.
Um die Robustheit der Leistungsniveaus in der Grundsicherung sowie der Armutsrisikoschwelle zu überprüfen, sollten auf europäischer Ebene gemeinsame Referenzbudgets entwickelt werden. Dazu gibt es schon viele und hilfreiche Arbeiten von Seiten des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Antwerpen, des Europäischen Armutsnetzwerkes (EAPN) und des Europäischen Netzwerkes für Mindestsicherung (EMIN)
(siehe u. a. auch hier).
Dabei unterstützt der DGB die Forderung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, dass bei der Erstellung von Referenzbudgets entscheidend ist, dass sie einerseits flexibel auf die verschiedenen Bedingungen in den Mitgliedstaaten angewandt werden können, sich gleichzeitig aber nicht nur auf den Warenkorb für Lebensmittel beschränken, sondern weitere Faktoren wie etwa Gesundheitsversorgung, Wohnen, Kleidung, Mobilität und Bildung mit in die Methodik einbeziehen (siehe hier).
5. Anpassung an die Haushaltsgröße (Angemessenheit)
Die Leistungshöhe ist so auszugestalten, dass sie in angemessener Weise mit der Anzahl der Personen ansteigt, die in einem Haushalt zusammenleben. Eine Sammelunterkunft ist dabei nicht als Haushalts- und Bedarfsgemeinschaft anzusehen.
6. Mechanismus zur Leistungsanpassung (Angemessenheit)
Im Rahmen der Mindeststandards ist auch vorzugeben, dass die Leistungshöhe in gewissen zeitlichen Abständen – mindestens jährlich – zu überprüfen und anzupassen ist (Dynamisierung). Um reale Kaufkraftverluste zu vermeiden, sollten die Anpassungen mindestens einen Inflationsausgleich vorsehen.
7. Verknüpfung mit anderen sozialen Dienstleistungen (Befähigung)
Der Rechtsanspruch auf eine materielle Mindestsicherung sollte verknüpft werden mit einem Rechtsanspruch auf Zugang zu weiteren sozialen Dienstleistungen. Dazu sollte mindestens ein Zugang zur Gesundheitsversorgung, einem allgemeinen Beratungsangebot und bei Arbeitslosen ein Zugang zu Fördermaßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt gehören.
8. Robuste Klausel für ein Rückschrittsverbot
Um sicherzustellen, dass aus der Umsetzung der Richtlinie keine Absenkung bereits erreichter Standards in Deutschland und anderen Ländern resultiert, ist die Richtlinie mit einem ausdrücklichen, rechtsverbindlichen Rückschrittsverbot zu versehen.
Die Frage der Finanzierung
Die Einführung solcher Mindeststandards ist natürlich auch mit Kosten verbunden. Gerade in Mitgliedstaaten mit schlecht ausgeprägten Systemen und engen Haushaltskonditionen können solche Kriterien nicht einfach problemlos von einem Tag auf den nächsten umgesetzt werden. Dementsprechend würden sich die Debatten zwischen den Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament nicht einfach gestalten.
Insbesondere die Frage zur angemessenen Leistungshöhe wird vermutlich besonders kontrovers diskutiert, schließlich wäre eine festgelegte Mindesthöhe in einigen Mitgliedstaaten mit bisher sehr niedrigen Leistungen nicht so einfach zu stemmen. Deswegen sollte diesen Mitgliedstaaten nicht nur mehr Zeit bei der Erreichung des Zieles eingeräumt werden, sondern ihnen auch finanziell unter die Arme gegriffen werden. Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einer Rahmenrichtlinie für angemessene Grundsicherungssysteme finanziell unterstützt werden. Eine solche Finanzierung könnte beispielsweise über die EU-Strukturfonds erfolgen, da sie ohnehin die Kohäsion der Mitgliedstaaten zum Ziel haben.