Rechtsgrundlagen für europäische Mindeststandards bei der Grundsicherung

von Livia Hentschel | Okt. 2020

Die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung steht schon seit Jahrzenten auf der politischen Agenda der EU-Kommission. Dabei hat die Stärkung der nationalen Grundsicherungssysteme schon immer eine zentrale Rolle gespielt. Doch hat die Europäische Union überhaupt rechtliche Kompetenzen, um hier tätig zu werden? Und welche rechtlichen Grundlagen gibt es, die die Einführung von EU-Mindeststandards bei den Grundsicherungssystemen ermöglichen würden?

Nicht zuletzt findet die Forderung zur Bekämpfung von Armut und sozialere Ausgrenzung und Stärkung der nationalen Grundsicherungssysteme in zahlreichen internationalen Abkommen ihren Niederschlag. Von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), dem Europäischen Fürsorgeabkommen (1953), der Europäischen Sozialcharta (1961), dem Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (in Kraft seit 1976) bis zur Charta der Grundrechte der Arbeitnehmer (1989).

Soft-law-Instrumente bringen keine nachhaltigen Ergebnisse

Bisher beschränkten sich die Anstrengungen in der EU allerdings nur auf so genannte „weiche“ Maßnahmen („soft law“). Einen wichtigen Meilenstein bildet hierbei die Empfehlung 92/441/EWG des Rates der Arbeits- und Sozialminister vom 24. Juni 1992 über gemeinsame Kriterien für ausreichende Zuwendungen und Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung.

Hier werden eine Reihe von Kriterien zur Ausgestaltung angemessener Mindestsicherungssysteme benannt und empfohlen. Da es sich aber bei Ratsempfehlungen um ein nicht rechtsverbindliches Instrument handelt, steht es den Mitgliedstaaten frei, ob sie die Empfehlungen umsetzen.

Im Rahmen der 2000 ins Leben gerufenen Strategie von Lissabon wurde ein Überwachungs- und Koordinierungsmechanismus eingeführt, der Zielvorgaben zur Armutsbekämpfung festgelegt hat sowie Indikatoren und Benchmarks zur Ermittlung der Armutsquote umfasste und klare Leitlinien für die Mitgliedsaaten sowie nationale Aktionspläne gegen Armut beinhaltete. Die so genannte Offene Methode der Koordinierung (OMK) wurde gleichzeitig in anderen Bereichen des Sozialschutzes angewandt. Mittels Informationsaustausch und Zielvereinbarungen sollten die Ziele der Lissabon-Strategie, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, unterfüttert werden. Im Jahr 2008 wurde der Kampf gegen Armut auf EU-Ebene um eine Empfehlung zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen ergänzt.

Die 2010 angenommene Strategie „Europa 2020“ für intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum hatte sich zum Ziel gesetzt, die Zahl der unter der nationalen Armutsgrenze lebenden Europäerinnen und Europäer um 25 Prozent zu verringern, wodurch mehr als 20 Millionen armutsgefährdete Menschen aus der Armut befreit werden sollten. Zur Erreichung des Zieles wurde eine Reihe von Schlüsselinitiativen aufgelistet, wie etwa die Gründung der Europäischen Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Weitere Initiativen folgten im Jahr 2013 mit der Mitteilung „Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt – Sozialinvestitionspaket“ und dem Kommissionsvorschlag zur Stärkung der sozialen Dimension im Rahmen der Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion.

Die seit Jahren kontinuierlich hohen Zahlen der von Armut gefährdeten Menschen in der EU zeigen allerdings, dass „Soft-law“-Instrumente allein – wie die EU Strategie 2020, die offene Methode der Koordinierung (OMK) oder Ratsempfehlungen – keine ausreichenden Grundlagen für eine wirkungsvolle Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der EU sind. Das verschärft nicht nur die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten, sondern führt für die EU auch zu einem erheblichen Glaubwürdigkeitsproblem. Verbindliche Mindeststandards sollten daher die herkömmlichen Instrumente ergänzen. Die Einführung einer europäischen verbindlichen Rechtsvorschrift über Mindeststandards bei der Grundsicherung ist somit unerlässlich.

Art. 153 AEUV und die Möglichkeit über den Erlass von Mindestvorschriften

Allerdings scheiden sich bei Fragen des sozialen Europas immer wieder die Geister, wenn es darum geht herauszufinden, ob die EU auf Grundlage der europäischen Verträge überhaupt eine Rechtsetzungskompetenz auf diesem Feld hat. Die Diskussionen zentrieren sich in diesem Zusammenhang auf Art. 153 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (Titel X „Sozialpolitik“ AEUV), welcher die in Art. 151 AEUV formulierten Ziele der Union konkretisiert.

Artikel 153 AEUV Abs. 2 lit. b) gestattet in neun Bereichen (Art. 153 Abs.1 lit. a) – lit. i) den Erlass von Mindestvorschriften. Dazu gehören unter Art. 153 lit c) auch Mindestregelungen auf den Gebieten „soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer“. Die Mindeststandards sind nach Art. 153 Abs. 2 AEUV „schrittweise anzuwenden“ und „dürfen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung kleiner und mittlerer Unternehmen entgegenstehen“.

Ihre Funktion liegt darin, einen „allgemeinen Standard innerhalb der Union sicherzustellen, der auf der einen Seite weniger leistungsfähige Staaten nicht überfordert, leistungsfähige Staaten aber auf der anderen Seite auch nicht daran hindert, ein höheres Schutzniveau vorzusehen“. Das stellt Prof. Dr. Thorsten Kingreen (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg) in seinem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten „Ein verbindlicher EU-Rechtsrahmen für soziale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten“ fest.

Art. 153 Abs. 1 lit. c) AEUV als mögliche Rechtsgrundlage

Kingreen favorisiert in seinem Rechtsgutachten Art. 153 Abs. 1 lit. c) AEUV („soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer“) als Grundlage für unionsweites Handeln. Da diesem Buchstaben nicht der arbeitsrechtliche, sondern der sozialversicherungsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde liegt, könnte ein europäischer Rechtsrahmen für Mindeststandards bei der Grundsicherung in Deutschland die Beziehenden von Arbeitslosengeld II (§ 19 SGB II) sowie von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbminderung (§§ 41–43 SGB XII) erfassen. Davon ausgenommen in Deutschland wären demzufolge die Empfänger/innen von allgemeinen Leistungen zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII).

Welche Personengruppen in den anderen Mitgliedstaaten auf Grundlage der dort bestehenden Grundsicherungssysteme mit dem Buchstaben c) erfasst werden, wäre im Einzelnen zu überprüfen.

Ferner kommt Kingreen zum Schluss, dass laut europäischer Verträge ein solcher Rechtsrahmen das Gleichgewicht der sozialen Sicherungssysteme nicht beeinträchtigen dürfe und keine erheblichen Haushaltsrisiken in den Mitgliedstaaten entstehen dürften. In diesem Kontext betont er die Notwendigkeit einer finanziellen Förderung bei der Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten, die über die Strukturfonds erfolgen könnte. Ein Gesetzesvorschlag unter Art. 153 Abs.1 lit. c) würde der Einstimmigkeit im Rat unterliegen.

Art. 153 Abs. 1 lit. h) AEUV als weitere mögliche Rechtsgrundlage

Ein weiterer Buchstabe in Art. 153 Abs. 1 AEUV, der zur Einführung einer Richtlinie für Mindeststandards bei der Grundsicherung herangezogen werden könnte und vom DGB favorisiert wird, bildet lit h): „berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen […]“. Bereits 2010 kam ein für das Europäische Armutsnetzwerk (EAPN) erstelltes Rechtsgutachten zu dem Schluss, dass dieser Buchstabe h) dem Buchstaben c) vorzuziehen sei.

In einem vom DGB und der Nationalen Armutskonferenz in Auftrag gegebenen Gutachten zur „Ausgestaltung eines europäischen Rahmens für die Mindestsicherung“ von 2019 kommt Prof. Dr. Benjamin Benz (Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie, Bochum) ebenfalls zum Ergebnis, dass hiermit eine geeignete Rechtsgrundlage für einen europäischen Rechtsrahmen gegeben sei. Im Unterschied zum Buchstaben c) bestünde hier – bezogen auf Deutschland – nicht das Problem des Aus-schlusses der Empfänger/innen von allgemeinen Leistungen zum Lebensunterhalt.

Dem liege zugrunde, dass Leistungsberechtigte von Leistungen zum Lebensunterhalt zum einen allgemein als vom Arbeitsmarkt ausgegrenzte Personen begriffen werden können und zum anderen die Mindestsicherungssysteme als Instrumente angesehen werden müssten, die nicht nur die Re-Integration in die Gesellschaft allgemein, sondern auch die berufliche (Wieder-)Eingliederung zum Ziel haben. Außerdem sei in vielen Sprachversionen des Art. 153 Abs.1 lit. h) Eingliederung nicht als „berufliche“ eingeführt. Auf Grundlage des Buchstabes h) sei die Einführung von Mindeststandards per Mehrheitsentscheid möglich.

Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit

Die Einführung einer Rahmenrichtlinie darf nicht gegen das Prinzip der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verstoßen. In ihrer Empfehlung zur aktiven Eingliederung von 2008 stellt die Europäische Kommission in diesem Zusammenhang fest: „Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip fällt die Definition der Höhe der Einkommensunterstützung sowie die Festsetzung des angemessenen politischen Instrumentariums angesichts der unterschiedlichen Situationen und Bedürfnisse auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“.

Die europäische Festlegung eines Mindestniveaus wird in keinem der drei oben genannten Gutachten als Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip gesehen. Schließlich ist es jedem Mitgliedstaat selbst überlassen, das Existenzminimum im Einklang mit den Bedingungen im jeweiligen Land zu bestimmen und das Verfahren dazu festzulegen. Hierzu zöge eine EU-Richtlinie nur eine Untergrenze ein und könnte Bestimmungen zur mindesten Aufwärtskonvergenz enthalten. Zu einem die Menschenwürde wahrenden Leistungsniveau haben sich die EU-Staaten ohnehin längst mehrfach (rechtsunverbindlich) bekannt.

Eine Frage des politischen Willens

Abschließend kann man also festhalten, dass es in Art. 153 AEUV ausreichend Möglichkeiten gibt, um ein rechtliches Handeln auf EU-Ebene zu legitimieren, auch wenn die politische Durchsetzbarkeit mit Hürden versehen ist. Die Debatte zeigt aber auch, dass es dazu vor allem einen starken politischen Willen erfordert.

Das zeigt die derzeitige Initiative der EU-Kommission für einen EU-Rahmen für die Mindestlöhne. Die Hürden für eine europäische Rechtsetzung bei Entgeltfragen sind weitaus höher und dennoch ist die neue EU-Kommission mit Präsidentin Ursula von der Leyen hier mit einem Vorschlag vorgeprescht. Auch wenn das Dossier derzeit in Sozialpartnerverhandlungen steckt, hat Beschäftigungskommissar Nicolas Schmid nicht davor zurückgescheut, die Einführung einer EU-Richtlinie zu den Mindestlöhnen zu erwägen.

Eines steht fest: Mit der Einführung einer Europäischen Rahmenrichtlinie zur Festsetzung von Mindeststandards für die Grundsicherungssysteme hätte die Kommission die Möglichkeit, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu zeigen, dass sie Armut und soziale Ausgrenzung endlich nachhaltig bekämpfen möchte. Das erscheint gerade jetzt in der Corona-Krise wichtiger denn je.

Livia Hentschel

ist Referatsleiterin für Europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beim DGB-Bundesvorstand