Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit

Von Jutta Siefert und Dirk Felmeden | Oktober 2022

Wie viele neue Verfahren müssen die Sozialgerichte jährlich bearbeiten? Wie entwickelten sich die Neueingänge in den letzten 20 Jahren? Und welche Rechtsgebiete standen und stehen dabei im Vordergrund? Hier folgt ein Überblick.     

1. Geschäftsentwicklung schwankt mit der Konjunktur und neuen Gesetzen

Die Nachfrage nach Rechtsschutz durch die Sozial- und Landessozialgerichte sowie das Bundessozialgericht ist – wie in allen Bereichen der Justiz – mitunter starken Schwankungen unterworfen. Gesetzesänderungen werden gerade im Bereich des Sozialrechts häufig in hoher Frequenz und zum Teil unter erheblichem Zeitdruck auf den politischen Weg gebracht, beispielsweise als Reaktion auf aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen. Sie verlangen nicht nur den Sozialverwaltungen, die diese Änderungen in der Praxis umzusetzen haben, einiges ab.

Mit etwas zeitlichem Verzug sind auch an erster Stelle die Richterinnen und Richter der 68 Sozialgerichte dazu berufen, Klarheit bei der Rechtsanwendung zu schaffen und zum Teil schwierige Streit- und Abgrenzungsfragen rechtssicher und zeitnah zu lösen, um effektiven Rechtsschutz zu sichern. Und natürlich sind die Richter:innen der Sozialgerichtsbarkeit auch in ihrer kommunikativen und sozialen Befähigung gefragt, nicht nur, wenn es um den Ausgleich von Interessen in scheinbar festgefahrenen „langjährigen Beziehungen“ zwischen einer Behörde und klagenden Personen geht.

So verwundert es nicht, wenn sich – in Zahlen ausgedrückt – im Zeitverlauf deutliche Veränderungen der Geschäftsentwicklung der Sozialgerichtsbarkeit zeigen.

Abbildung 1

Abbildung 1: Sozialgerichtsbarkeit – Neuzugänge bei Klagen, Berufungen, Nichtzulassungsbeschwerden und Revisionen

Beispielsweise lässt eine stabile und florierende Wirtschaft (zur Entwicklung der Konjunkturindikatoren von 2010 bis 2022 siehe hier), die mit einer hohen Erwerbstätigenquote verbunden ist, regelhaft den Bedarf an Rechtsschutz beim Eintritt in nachrangige soziale Sicherungssysteme – sei es beitrags- oder steuerfinanziert – sinken und damit auch die Eingänge an den Sozialgerichten.

Wirtschaftliche Krisenzeiten hingegen bewirken meist das Gegenteil, wenn sie nicht – wie zum Beispiel während der Pandemiejahre 2020/2021 – durch erleichterte Zugänge zu sozialen Sicherungssystemen und großzügigere Bezugsmöglichkeiten von Sozialleistungen abgefedert werden. Diese Entwicklungen sind, regelmäßig leicht zeitversetzt, auch in den Eingangs- beziehungsweise Erledigungszahlen der Sozialgerichte zu erkennen. So stieg etwa die Zahl der Neuzugänge bei Klagen, Berufungen, Nichtzulassungsbeschwerden und Revisionen im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 zeitversetzt in der Sozialgerichtsbarkeit – und erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 2010 (siehe Abbildung 1).

2. Verfahren bei den Sozialgerichten

Die geschilderte allgemeine Entwicklung lässt sich insbesondere an den Eingangs- beziehungsweise Erledigungszahlen der Sozialgerichte über den Verlauf der letzten rund 20 Jahre gut erkennen.

Greift man die Reform der Absicherung bei Arbeitslosigkeit durch die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Jahr 2005 heraus, gingen im Jahr 2007 insgesamt 89 869 Verfahren auf diesem Rechtsgebiet bei den Sozialgerichten ein, was bei 276 037 Neuzugängen insgesamt schon rund ein Drittel aller Verfahren ausmachte. Dementsprechend entfielen 2007 deutschlandweit schon 21,9 Prozent aller erledigten Verfahren auf das SGB II und damit etwa so viele wie auf die Rentenversicherung (22,9 Prozent). Im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes entfielen von insgesamt 36 830 erledigten Verfahren gar 27 815 auf das SGB II.

Abbildung 2

Abbildung 2: Sozialgerichte – Neuzugänge bei Klagen

Diese Entwicklung hielt im Jahr 2008 weiter an. So waren bei insgesamt 326 921 Neuzugängen insgesamt 127 290 dem SGB II zuzuordnen. Von den 44 865 bundesweit erledigten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entfielen gar 34 877 auf das SGB II. Betrachtet man das Jahr 2008 – das Jahr der Banken- und Finanzkrise – weiter, ist festzustellen, dass insgesamt 326 921 Verfahren bei den Sozialgerichten neu eingegangen sind. Im Jahr 2010 waren es sogar 422 214 Hauptsacheverfahren, was den absoluten Höchststand an Neuzugängen von 2008 bis 2021 bedeutete (siehe Abbildung 2) und sicherlich auch auf die „Nachwirkungen“ der Wirtschaftskrise auf den Sozialstaat zurückgeführt werden kann.

Die erhebliche Zunahme der Neuzugänge in den Jahren 2018 und 2019 beruht wiederum auf einer im November 2018 beginnenden Klagewelle der gesetzlichen Krankenkassen auf Rückzahlung angeblich zu Unrecht abgerechneter Krankenhauskosten, ausgelöst durch eine mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz beabsichtigte Einführung einer gesetzlichen Ausschlussfrist. Anfang Dezember 2018 verständigten sich die beteiligten Krankenhaus- und Krankenkassen-Verbände auf eine gemeinsame Vorgehensweise zur Beilegung der Streitigkeiten und Beendigung der Klageverfahren.

Im Jahr 2021 hingegen gingen nur 280 953 Hauptsacheverfahren bei den Sozialgerichten neu ein. Eine erste Untersuchung der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Sozialgerichtsbarkeit macht deutlich, dass es zwischen 2019 und 2020 (trotz der Pandemie) zu einem Rückgang der Eingangszahlen um 16 Prozent kam, also von einer pandemiebedingten Klagewelle nichts zu spüren war (siehe hier und hier).

Insbesondere die erleichterten Zugangsvoraussetzungen zu SGB-II-Leistungen (§ 67 SGB II) lassen insoweit den deutlichen Rückgang der Eingangszahlen im Bereich SGB II von 99 747 Verfahren im Jahr 2019 auf 82 642 Verfahren im Jahr 2020 und 61 908 Verfahren im Jahr 2021 erklären. Danach ist seit dem 1. März 2020 unter anderem Vermögen nur noch bei Überschreiten einer Erheblichkeitsschwelle zu berücksichtigen und sind in der Regel die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung von den Jobcentern zu übernehmen (siehe hier).

Die mittlerweile mehrfach und jetzt bis zum 31. Dezember 2022 verlängerte Geltungsdauer der Regelung (siehe hier) fand ihrem wesentlichen Inhalt nach auch Eingang in den Gesetzentwurf eines Bürgergeldes, das zum 1. Januar 2023 in Teilbereichen des SGB II zu wesentlichen Änderungen führen wird. Im Übrigen ist denkbar, dass das von der Bundesagentur für Arbeit zeitweise angeordnete Absehen von Leistungsminderungen während der Schließung der Jobcenter für den Publikumsverkehr ebenso wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus 2019 zu Sanktionen im SGB II (siehe hier), die in der Praxis zu einem weitgehenden Verzicht auf Leistungsminderungen führten, den deutlichen Rückgang an Verfahrenszahlen jedenfalls auch erklären können.

Abbildung 3

Abbildung 3: Sozialgerichte – Neuzugänge bei Verfahren zur Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz

Die Verfahrensentwicklung über alle Verfahren bei den Sozialgerichten ergänzend bietet sich der Blick auf die Verteilung der Verfahren innerhalb der einzelnen Rechtsgebiete an. In der Halbierung der Eingangszahlen im SGB II (2008: 127 290; 2021: 61 908) lässt sich bereits ein Grund für den Rückgang der Verfahrenszahlen über alle Rechtsgebiete erkennen; die Rückgänge im Aufgabenbereich der Bundesagentur für Arbeit (SGB III) sind nicht ganz so deutlich (2008: 25 339; 2021: 17 184).

Ebenso signifikant ist der Rückgang der Eingangszahlen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung (2008: 59 073; 2021: 43 164). Demgegenüber haben sich die Eingangszahlen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung beinahe verdreifacht (2008: 28 856; 2021: 71 554), im Bereich der sozialen Pflegeversicherung nahezu verdoppelt (2008: 6 442; 2021: 11 180). Einen großen Teil der Verfahren nehmen auch solche um die Anerkennung einer Schwerbehinderung nach dem SGB IX ein. In diesem Rechtsgebiet sind die Eingangszahlen über die Jahre nahezu konstant geblieben (2008: 37 710; 2021: 36 854).

Auch bei den Verfahren zur Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz ist (mit Ausnahme der beschriebenen Sondersituation in den Jahren 2018/2019) eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten (siehe Abbildung 3). Waren es 2008 noch 48 342 Verfahren, die neu bei den Sozialgerichten eingingen, war schon im Jahr 2009 der absolute Höchststand mit 52 476 Verfahren erreicht. 2021 waren hingegen (nur) 26 483 Eilverfahren bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit neu einzutragen.

3. Berufungen bei den Landessozialgerichten

Abbildung 4

Abbildung 4: Landessozialgerichte – Neuzugänge bei Berufungen

Nicht so signifikant sind die Schwankungen im Bereich der Eingangszahlen bei den Landessozialgerichten. 26 945 Neuzugängen im Jahr 2008 standen 23 702 in 2021 gegenüber. Der „peak“ der Eingangszahlen in diesem Zeitraum lag mit jeweils über 27 500 Hauptsacheeingängen in den Jahren 2011 bis 2015 (siehe Abbildung 4).

Die ab dem Jahr 2000 zum Teil deutlich überschrittene Zahl von 25 000 Eingängen pro Jahr wurde erstmals im Jahr 2019 mit 24 633 Neuzugängen wieder unterschritten (2021: 23 702).

Die für die Sozialgerichte beschriebenen Veränderungen spiegeln sich nicht in vollem Umfang in den Eingangszahlen bei den 14 Landessozialgerichten wider. Während 2008 2 248 Verfahren aus dem Gebiet der Krankenversicherung bei den Landessozialgerichten anhängig gemacht wurden, waren es mit 3 952 im Jahr 2021 zwar ebenfalls mehr, aber es gab bei weitem noch keine Verdoppelung der Zahlen. In der Pflegeversicherung gingen die Zahlen sogar zurück (2008: 521 Verfahren; 2021: 504 Verfahren). Einen relativ geringeren Rückgang verzeichneten auch die Eingangszahlen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung (7 660 im Jahr 2008; 5 717 im Jahr 2021). Im SGB II (3 119 Verfahren in 2008; 4 610 in 2021) und dem SGB IX (1 664 Verfahren in 2008; 2 293 Verfahren in 2021) kam es trotz eines Verfahrensrückgangs bei den Sozialgerichten zu einem Anstieg der Eingangszahlen bei den Landessozialgerichten.

4. Verfahren beim Bundessozialgericht

Abbildung 5

Abbildung 5: Bundessozialgericht – Neuzugänge Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden

Tendenziell vergleichbar gestaltet sich die Geschäftsentwicklung am Bundessozialgericht, das mit insgesamt 42 Berufsrichter:innen sowie 116 ehrenamtlichen Richter:innen als oberstes Bundesgericht zur abschließenden Klärung von Rechtsfragen berufen ist.

Gingen 2008 insgesamt 2 574 Verfahren (535 Revisionen und 2 039 Nichtzulassungsbeschwerden) beim Bundessozialgericht ein, waren die Neuzugänge im Jahr 2021 auf 1 885 (311 Revisionen und 1 574 Nichtzulassungsbeschwerden) gesunken.

Einen Überblick über die beim Bundessozialgericht neu eingegangenen Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden in den vergangenen zwanzig Jahren gibt die Abbildung 5.

Hinzukommen an weiteren Verfahren insbesondere isolierte Anträge auf Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht anwaltlich vertretener Kläger:innen (zuletzt circa 250 Verfahren / Jahr). In diesen Verfahren prüft das Bundessozialgericht auf der Grundlage des Akteninhalts, ob hinreichende Erfolgsaussicht besteht und eine anwaltliche Beiordnung zu erfolgen hat.

Statistikquellen:

Umfassende Daten zu den Verfahren bei allen Sozialgerichten finden sich jährlich in der Fachserie „Rechtspflege Sozialgerichte“ (Fachserie 10, Reihe 2.7) des Statistischen Bundesamtes. Die letzte Veröffentlichung aus dieser Serie erfolgte im August 2022 mit Daten für das Jahr 2021 (siehe hier).

Auch die Jahresberichte der Landessozialgerichte sowie des Bundessozialgerichts (siehe hier)  enthalten Zahlen, Daten und Fakten zur Geschäftsentwicklung.

Jutta Siefert

Richterin und Pressesprecherin am Bundessozialgericht  

Dirk Felmeden

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Bundessozialgericht