Spiel auf Zeit

Was der Koalitionsvertrag zur Krankenversicherung vorsieht

von Stephan Rixen | 13. Juni 2025

Der Koalitionsvertrag enthält einen eigenen Abschnitt (Abschnitt 4.2., immerhin gut neun Seiten), der der Gesundheit und Pflege gewidmet ist. Zur „Pflege“ siehe den Beitrag von Hans Nakielski in diesem Thema des Monats). Hier werden vor allem die für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) relevanten Themen in den Blick genommen. Die nachfolgend in Klammern genannten Zahlen beziehen sich auf die Zeilen im Koalitionsvertrag.

Koalitionsverträge sind eine Mischung aus Arbeitsplan und Wunschliste für den Weihnachtsmann (wahlweise die Weihnachtsfrau oder die Weihnachtsperson). Der Koalitionsvertrag der Koalition aus CDU/CSU und SPD, die eine Dreiparteienkoalition mit unionsinterner Konfliktdynamik ist, steht unter der Überschrift „Verantwortung für Deutschland“. Das ist immer richtig, besagt aber noch nichts darüber, wie diese Verantwortung gerade mit Blick auf Gesundheitsthemen wahrgenommen werden soll.

Kommission soll bis zum Frühjahr 2027 Reformvorschläge machen

„Wir wollen eine gute, bedarfsgerechte und bezahlbare medizinische […] Versorgung für die Menschen im ganzen Land sichern. Dafür wagen wir tiefgreifende strukturelle Reformen, stabilisieren die Beiträge, sorgen für einen schnelleren Zugang zu Terminen und verbessern die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen“ (3343-3346). Wie das genau gelingen soll, bleibt offen. Eine Kommission soll bis zum Frühjahr 2027 Vorschläge machen (3359). Im Klartext: Man spielt auf Zeit, schaut mal, was die Kommission sagt, und sieht dann weiter (Franz-Beckenbauer-Prinzip: „Schaun mer mal, dann sehn mer scho“).

(Sucht)-Prävention soll gestärkt werden, wieder einmal. Sehr viel Konkretes erfährt man auch hier nicht (3363 ff., 3584 ff.). „Wir stärken freiwillige Angebote auf kommunaler Ebene, die vulnerable Gruppen in den Blick nehmen“ (3367 f.). Wer genau ist „vulnerabel“? Wieso „Gruppen“? Was sollen „freiwillige“ Angebote sein? Was wären stattdessen „unfreiwillige“ Angebote?

Geprüft werden soll die Zukunft des öffentlichen Gesundheitsdienstes (3370 ff.) – mit Blick auf künftige Pandemien nicht eben eine vielversprechend konkrete Aussicht. Die Kriegstüchtigkeit des Gesundheitswesens wird ebenfalls adressiert (3573). Es geht letztlich um eine übergreifende Krisenfestigkeit (gegenüber Pandemien, Kriegen usw.). Insoweit für Resilienz (3577) zu sorgen, ist eine generationenübergreifende Megaaufgabe des Sozialstaats.

Die ambulante Versorgung soll – abgesehen von einer Ausweitung der Telemedizin (3390), der personalisierten Medizin (3434), innovativer (Arzneimittel-)Therapien (3435) und einer im Detail unklar bleibenden Verbesserung der sektorübergreifenden Versorgung (3391 ff.) – insbesondere durch ein Primärarztsystem (Gatekeeper-Funktion) einschließlich der Kinderärzte optimiert werden. Dieses soll (mit Ausnahme von Augenheilkunde und Gynäkologie) den Facharztzugang steuern (3379 ff.). An sich eine gute Idee. Sie setzt aber vor allem Hausärztinnen und Hausärzte voraus, die diese Steuerungsfunktion nicht nur als zusätzliche Arbeitsbelastung empfinden – was sie ist, wenn sie ernstgenommen wird. Wie wird also verhindert, dass die Überweisungen zu schnell erfolgen?

Betroffene seltener Krankheiten und auch Menschen mit Long- und Post-COVID sowie PostVac sollen – endlich – mehr Aufmerksamkeit bekommen (3562 ff.). „Für Frauen in Konfliktsituationen wollen wir den Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglichen. Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus“ (3255-3257). Man darf gespannt sein, ob sich dies angesichts der Ideologieanfälligkeit des Themas, das zu allerlei „culture wars“ einlädt, wird umsetzen lassen.

Dass die psychotherapeutische (Not-)Versorgung verbessert werden soll (3552 ff.), ist bitter nötig. Gerade politische Parteien, die den „Lebensschutz“ großschreiben, tun gut daran, sich daran zu erinnern, dass Lebensschutz auch für geborene Menschen gilt, also jede schnelle Psychotherapie sehr oft auch eine gelungene Suizidprävention ist.  „Wir […] setzen das Suizidpräventionsgesetz um“ (3554 f.) – ein zustimmungsfähiger Satz. Nur leider gibt es noch kein Suizidpräventionsgesetz, das umgesetzt werden könnte…

Neue Regeln zur Terminvergabe und zum Honorarsystem

Die Terminvergabe soll durch die Primärärzte oder die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) erfolgen. Verpflichtet dazu werden allerdings nur die KVen (3387 f.). Ob das Erfolg verspricht? Es ist bezeichnend, dass die privat organisierte Terminvergabe-Plattform „Doctolib“ nicht von KVen stammt, die dergleichen durchaus selbst hätten entwickeln und anbieten können. Dass die KVen flächendeckend eine effektive Terminvermittlung hinbekommen werden, ist angesichts des Umstands, dass die KVen eigentlich nichts anderes sind (und auch nicht sein wollen) als Honorarverteilungsstellen im Verhältnis zwischen Krankenkassen und Kassenärzten, wenig wahrscheinlich. „Gelingt dies“ – also die Terminvermittlung durch die KVen – „nicht, wird der Facharztzugang im Krankenhaus ambulant für diese Patientinnen und Patienten ermöglicht“ (3388 f.).

Das klingt nach einer effektiven Sanktion, übersieht aber die Situation der Krankenhäuser, die sich infolge der jüngsten Krankenhausreform in einem rasanten Transformationsprozess (mit zahlreichen Insolvenzen) befinden, den der Koalitionsvertrag noch verstärken will (3439 ff.). Ohne aus ihrer Sicht adäquate Vergütung werden die Krankenhäuser nicht die Ausfallbürgschaft für einen überforderten ambulanten Sektor sein wollen.

„Wir verändern das Honorarsystem im ärztlichen Bereich mit dem Ziel, die Anzahl nicht bedarfsgerechter Arztkontakte zu reduzieren (Jahrespauschalen). Durch Flexibilisierung des Quartalsbezugs ermöglichen wir neuen Patientinnen und Patienten einen besseren Zugang und die Vergütung von Praxis-Patienten-Kontakten“ (3397-3400). Wer die Geschichte des Kassenarztrechts kennt, weiß, dass sie hauptsächlich eine Geschichte des Streits um die Vergütung ist. Was sind „nicht bedarfsgerechte Arztkontakte“? Die Quartalsfixiertheit zu überwinden, klingt nach einer guten Idee, aber wie immer liegt die Wahrheit im konkreten Detail. Dass mit enormem politischem Widerstand der Ärztinnen und Ärzte zu rechnen ist, wenn das Ganze nur auf eine Honorarkürzung hinausläuft, ist absehbar.

„Wir prüfen eine Entbudgetierung von Fachärztinnen und Fachärzten in unterversorgten Gebieten“ (3406 f.). Das könnte Teil eines politischen „Deals“ sein, der da nimmt und dort gibt. Entbürokratisierung (weniger Dokumentation, weniger Prüfung, weniger Regresse) wird großgeschrieben (3491 ff.). Die Digitalisierung schreitet zumindest auf dem Papier voran, die elektronische Patientenakte – der Berliner Flughafen der GKV – soll jetzt wirklich kommen (3520 f.).

Mehr Kompetenzen für Gesundheitsberufe

„Wir stärken die Kompetenzen der Gesundheitsberufe in der Praxis“ (3401). Dieser Satz könnte es in sich haben (siehe auch 3591 ff.), denn es ist von „den“, also allen Gesundheitsberufen die Rede. Angesichts des Fachkräftemangels gerade im ärztlichen Bereich, der demografische Gründe hat, aber auch auf eine verfehlte Studienplatz-Planung zurückzuführen ist, wird es nötig sein, die derzeit laufenden Ansätze der Stärkung vorhandener Gesundheitsberufe und der Etablierung neuer Berufe (insbesondere von „physician assistants“, siehe dazu hier) die jedenfalls zum Teil bisherige ärztliche Aufgaben übernehmen, voranzutreiben.

Die Weiterbildung insbesondere im kinderärztlichen Bereich soll verbessert (3403) und die Länderbeteiligung in den Zulassungsausschüssen  gestärkt werden (3404). Außerdem sollen die Länder die Bedarfsplanung für Zahnärztinnen und Zahnärzte selbst vorzunehmen (3410 f.). Gesetze zur Notfall- und Rettungsdienstreform werden auf den Weg gebracht (3413), was ebenso zu begrüßen ist, wie die Verbesserung der gesetzlichen Regelungen zur Palliativ- und Hospizversorgung (3415 f.). Eine substanzielle Weiterentwicklung wird wie immer mehr Geld voraussetzen. Aber vor allem muss das Problem gelöst werden, welches Personal die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) ausführt.

Neben Themen, die dringlich sind und sehr viele Menschen betreffen, finden sich im Koalitionsvertrag kleinteilige Wünsche, die es offenbar durch sehr geschicktes Lobbying in den Koalitionsvertrag gebracht haben. Zwei Beispiele seien genannt, einerseits für die Apotheken, andererseits für Menschen mit Behinderungen relevant:

Dass hier sehr detailliert Reformabsichten benannt werden, spricht nicht gegen ihre politische Relevanz, wirft aber die Frage auf, wer mit seinen Anliegen welche Chance bekommt, gehört zu werden. Die ungleich verteilte Aufmerksamkeitsökonomie des Politikbetriebs ist ein viel zu wenig bedachtes Problem sozialer Ungleichheit, die eben schon da anfängt, dass manche Themen es auf die Agenda des Politikbetriebs – in den Koalitionsvertrag – gar nicht erst schaffen.

Was im Koalitionsvertrag nicht explizit genannt wird oder sich nicht halbwegs plausibel unter explizit Genanntes subsumieren lässt, hat es im politischen Alltag der jeweiligen Legislaturperiode schwer. Das gilt auch für die Themen der Gesundheitspolitik, die im Wesentlichen gesundheitsbezogene Sozialpolitik ist.

Prof. Dr. Stephan Rixen

ist Direktor des Instituts für Staatsrecht und Leiter der Forschungsstelle für das Recht des Gesundheitswesens an der Universität zu Köln