von Hans Nakielski | 13. Juni 2025
Neben der Kranken- gehört auch die Pflegeversicherung zu dem Bereich der Sozialversicherung, in dem der größte und dringendste politische Handlungsbedarf besteht. Was die neue Bundesregierung hier konkret tun will, steht aber nicht einmal in Ansätzen im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD.
Dabei sind die gravierenden Probleme des jüngsten Zweiges im deutschen Sozialversicherungssystem lange bekannt:
- Obwohl die Beiträge in den letzten Jahren mehrfach angehoben wurden (siehe hier), macht die Pflegeversicherung hohe Defizite. Im letzten Jahr waren es 1,54 Milliarden Euro, in diesem Jahr wird mit rund einer halben Milliarde Euro Minus gerechnet (siehe hier).
- Bereits jetzt verfügt eine Pflegekasse über so wenig Mittel, dass sie auf zusätzliche Finanzen aus dem Pflegeausgleichsfonds angewiesen ist. Das ist eine kassenübergreifende Not-Reserve für Kassen, deren monatliche Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Diese Reserve ist im letzten Jahr von 1,8 Mrd. auf 1 Mrd. Euro geschrumpft. Ohne zusätzliche Mittel ist dieser Fonds in wenigen Monaten ausgeschöpft.
- Der Eigenanteil, den die Pflegebedürftigen selbst für ihre Pflege aufbringen müssen, steigt kontinuierlich. Für Pflegeheimbewohner:innen stieg beispielsweise im ersten Jahr ihres Heimaufenthalts die Eigenbeteiligung allein für die Pflege von Januar 2024 bis Januar 2025 im Bundesdurchschnitt von 1.281 Euro auf 1.496 Euro im Monat. Insgesamt mussten diese Heimbewohner:innen Anfang dieses Jahres rund 3.000 Euro für Pflege, Investitionskosten, Unterkunft und Verpflegung aus eigener Tasche zuzahlen (siehe hier).
- Immer mehr Pflegebedürftige können die Eigenanteile für die Pflege nicht aufbringen und sind deshalb zusätzlich zu den Leistungen der Pflegeversicherung auf Sozialhilfe angewiesen. Im Laufe des Jahres 2023 (neuere Zahlen gibt es noch nicht) benötigten 407.000 pflegebedürftige Menschen die „Hilfe zur Pflege“. Das waren 8,9 Prozent mehr als im Jahr davor (siehe hier). Eigentlich sollte die 1995 in Kraft getretene Pflegeversicherung dafür sorgen, dass niemand mehr wegen Pflegebedürftigkeit verarmt und sozialhilfebedürftig wird.
- Das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung ist unübersichtlich. Längst nicht überall werden alle Leistungen ausreichend angeboten. Einige Leistungen (z. B. die Tages-, Nacht- oder Verhinderungspflege oder der Entlastungsbetrag für Leistungen zur Entlastung von Pflegenden) bleiben somit oft ungenutzt (siehe hier).
- In einer immer älter werdenden Gesellschaft fehlen zunehmend mehr Pflegehilfs- und Pflegefachkräfte (siehe hier).
Bund-Länder-Arbeitsgruppe soll große Pflegereform erarbeiten
Das sind nur die wichtigsten Punkte, bei denen dringender Handlungsbedarf besteht. Bei allen dringenden Problemen der Pflegversicherung verwundert es sehr, dass der 144-seitige Koalitionsvertrag von Union und SPD dem Thema „Pflegeversicherung“ noch nicht einmal auf eine volle Seite – konkret 27 Zeilen zwischen den Zeilen 3464 und 3490 – widmet. Der Abschnitt „Pflegereform und Bund-Länder-Kommission“ ist damit kürzer als der Abschnitt „Bürokratieabbau im Gesundheitswesen“.
Was in diesen 27 Zeilen steht, ist für diejenigen, die sich Ideen und Impulse für die künftige Pflegepolitik von der neuen Bundesregierung erhoffen, äußerst enttäuschend.
„Die Bewältigung der stetig wachsenden Herausforderungen in der Pflege und für die Pflegeversicherung ist eine Generationenaufgabe.“ Dieser Herausforderung will die neue Bundesregierung „mit einem Mix aus kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen begegnen“, heißt es zwar am Beginn des Abschnitts, in dem dann eine „große Pflegereform“ angekündigt wird. Damit soll „die nachhaltige Finanzierung und Finanzierbarkeit“ [wo ist der Unterschied?] der Pflegeversicherung sichergestellt werden „sowie eine Stärkung der ambulanten und häuslichen Pflege“ erreicht werden. Und natürlich ganz wichtig für auf die auf Bürokratieabbau und Digitalisierung fixierte neue Regierung (siehe dazu auch den Beitrag von Bertold Brücher in diesem Thema des Monats). Es soll gewährleistet werden, „dass Leistungen der Pflegeversicherung von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen einfach und bürokratiearm in Anspruch genommen werden können.“
Prüfaufträge an die Kommission
Wie dies alles geschehen soll, verrät der Koalitionsvertrag allerdings nicht einmal in Ansätzen. „Die Grundlagen der Reform“ soll schließlich auch nicht die (eigentlich dafür gewählte) neue Bundesregierung erarbeiten, sondern „eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände.“ Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD benennt lediglich Arbeits- und Prüfaufträge an diese Bund-Länder-Kommission.
Sie soll zum Beispiel den Leistungsumfang, Möglichkeiten zur Stärkung der pflegenden Angehörigen, Angebote für pflegerische Akutsituationen und die Stärkung sektorübergreifender pflegerischer Versorgung, Anreize für eigenverantwortliche Vorsorge, die Verortung versicherungsfremder Leistungen und die Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile überprüfen.
Noch in diesem Jahr soll die Kommission, die nach Aussage der neuen Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) in der letzten Bundestags-Sitzungswoche vor der Sommerpause ihre Arbeit aufnehmen soll, ihre Ergebnisse vorlegen.
Ob nun in relativ kurzer Zeit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe das gelingt, was die neue Bundesregierung erst gar nicht anpacken will und die Vorgänger-Bundesregierungen nicht geschafft haben (auch da war auch immer wieder von einer „großen Pflegereform“ die Rede), ist höchst zweifelhaft. Auch der Sinn der vielen Prüfaufträge erschließt sich Expert:innen aus Sozialpolitik und Pflege nicht. Für die „Handlungsnotwendigkeiten“ in der Pflegepolitik bestehe „kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsdefizit“, meint etwa Kai Senf, Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband – stellvertretend für viele aus der Branche (siehe hier).
Schon lange liegen detaillierte Vorschläge für eine umfassende (Finanz-)Reform im Pflegebereich vor:
- Die Beitragsbemessungsgrenze der Pflegeversicherung könnte auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden,
- der bis 2027 ausgesetzte Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung könnte wieder eingeführt und dynamisiert werden,
- die 5,9 Milliarden Euro, die während der Corona-Pandemie von der Versicherung für Corona-Tests oder Pflege-Boni in Heimen gezahlt wurden, könnten vom Bund erstattet werden,
- Versicherungsfremde Leistungen, wie etwa die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, müssten vom Bund übernommen werden,
- eine Vollversicherung, in die alle (auch Privatversicherte) einzahlen, könnte geschaffen werden,
- die von den Pflegebedürftigen zu zahlenden Eigenanteile für die Pflege könnten gedeckelt werden,
- die von den Heimbewohner:innen aufzubringenden Ausbildungs- und Investitionskosten könnten von Bund und Ländern übernommen werden.
Die Bundesregierung könnte bei der anstehenden Reform auf viele bereits ausgearbeiteten Vorschläge zurückgreifen. Sie müsste sich dann nur mal endlich entscheiden und festlegen – und die Probleme nicht immer weiter vor sich herschieben und die Lösung auf externe Arbeitskreise abwälzen.
So recht scheint allerdings auch die neue Gesundheitsministerin nicht daran zu glauben, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ihr bei der Lösung des Desasters schnell helfen wird. Jedenfalls hat sie angedeutet, dass die Pflegeversicherung möglicherweise kurzfristig mit einem Zuschuss aus der Bundeskasse rechnen kann, um sie vor einem drohenden Kollaps und Milliardendefizit zu bewahren (siehe hier). Neu-Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) gibt ihr dafür Rückendeckung.
Sinnvolle kleinere Vorhaben
Anders als zur „großen Reform“ bei der Pflegeversicherung benennt der Koalitionsvertrag wenigstens zu drei kleineren Vorhaben im Bereich der Pflege Konkretes: So sollen die bereits von der Ampelkoalition angestoßenen Gesetze zur Stärkung der Pflegekompetenz sowie zur Ausbildung von Pflegeassistenzpersonen und zur Einführung von „Advanced Practic Nurse“ auf den Weg gebracht werden.
Außerdem wird im Familien-Kapitel des Koalitionsvertrages angekündigt: „Wir streben an, das Pflegezeitgesetz und das Familienpflegezeitgesetz zusammenzuführen, die Freistellungsansprüche flexibler zu machen und den Kreis der Angehörigen zu erweitern.“ Das sind sehr sinnvolle Absichten. Genauso wie die Ankündigung: „Wir prüfen, wie perspektivisch ein Familienpflegegeld eingeführt werden kann.“ Ein Pflegegeld als Lohnersatz für pflegende Angehörige – analog zum Elterngeld für Mütter und Väter, die ihre kleinen Kinder betreuen – wird von Wohlfahrts- und Sozialverbänden schon lange gefordert.