zusammengestellt von Hans Nakielski
Gesetzgebungsverfahren
1. Lesung im Bundestag am 7. Oktober 2020
Der Bundesrat hat am 9. Oktober 2020 eine kritische Stellungnahme zu dem Gesetz beschlossen (BR-Drs. 486/20 – Beschluss).
Darin kritisiert der Bundesrat u. a., dass bei der Regelbedarfsermittlung die Vorgaben, auf die das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23. Juli 2014 (Az.: 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) hingewiesen hat, nicht umgesetzt worden seien. Der Gesetzgeber dürfe ernsthafte Bedenken, die auf tatsächliche Gefahren der Unterdeckung des Existenzminimums verweisen, „nicht einfach auf sich beruhen lassen und durch die Fortschreibung der Regelsätze lösen“. Er sei vielmehr gehalten, „bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen der Regelbedarfe zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsmethoden zu korrigieren.“ Konkret listet der Bundesrat neun Punkte auf, die bei der Regelbedarfsermittlung „zeitnah“ berücksichtigt bzw. korrigiert werden müssten. Sie reichen von methodischen Problemen durch die Berücksichtigung der Ausgaben von „verdeckt Armen“ bei der Regelbedarfsermittlung bis zur Untererfassung der Energiekosten und der zu geringen Berücksichtigung (mit nur 2,23 Euro im Monat) von Sehhilfen und therapeutischen Mitteln.
Die Bundesregierung hat am 21. Oktober 2020 in ihrer Gegenäußerung (BT-Drs. 19/23549) der Kritik und Einschätzung des Bundesrates widersprochen. Nach Ansicht der Bundesregierung „sind die im vorliegenden Gesetzentwurf ermittelten Regelsätze zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums angemessen, da die Ermittlung der Regelbedarfe […] streng nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, ‚aktuell‘, zeit- und realitätsgerecht‘, ‚auf der Grundlage verlässlicher Zahlen‘ und mittels ‚schlüssiger Berechnungsverfahren‘ durchgeführt wurde“.
Der Gesetzentwurf wurde am 5. November 2020 vom Bundestag mit Änderungen und Ergänzungen sowie einer Umbenennung des Gesetzestitels (zuvor hieß dieser: „Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes“) beschlossen (BT-Drs. 19/24034 – Beschlussempfehlung).
Der Bundesrat hat dem Gesetzentwurf am 27. November 2020 zugestimmt. In einer begleitenden Entschließung (BR-Drs. 654/20) bedauert der Bundesrat aber, dass „viele seiner fachlichen Hinweise zum Gesetzentwurf zur Ermittlung der Regelbedarfe […] im Gesetz unberücksichtigt geblieben sind. Die Bundesregierung wird weiterhin gebeten zu prüfen, wie die Ermittlung der Regelbedarfe im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts […] verbessert und fortentwickelt werden kann.“
Das Gesetz wurde am 14. Dezember 2020 im Bundesgesetzblatt verkündet.
Es trat in seinen wesentlichen Teilen am 1. Januar 2021 in Kraft.
Stellungnahme des DGB zum Gesetzentwurf.
Einige wichtige Inhalte
Mit dem Gesetz werden vor allem die Regelbedarfe für die Bezieherinnen und Bezieher der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) sowie der Sozialhilfe (SGB XII) neu ermittelt. Auch die Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz werden neu festgesetzt. Direkt betroffen davon sind derzeit etwa 7,2 Mio. ärmere Menschen. Die Regelbedarfssätze sind darüber hinaus aber auch ausschlaggebend für die Ermittlung der Grundfreibeträge bei der Einkommensteuer oder bei der Festlegung der Pfändungsfreigrenzen.
Bei Vorliegen der Ergebnisse einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die im Abstand von fünf Jahren durchgeführt wird, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Höhe der Regelbedarfe neu zu ermitteln. In den anderen Jahren erfolgt eine Fortschreibung anhand eines Mischindex, der zu 70 Prozent die Preisentwicklung für regelbedarfsrelevante Güter und Dienste und zu 30 Prozent die Nettolohnentwicklung berücksichtigt.
Das beschlossene Gesetz bezieht sich nun auf die neuen Befragungsdaten der EVS aus dem Jahr 2018 und schreibt die ermittelten Daten aus diesem Jahr entsprechend der Entwicklung der Preise und Nettolöhne fort. Erstmals sind jetzt bei der Berechnung der Regelbedarfe auch die Gebühren für Mobilfunknutzung und damit auch die Kosten des mobilen Internetzugangs als regelbedarfsrelevant berücksichtigt worden. Bisher wurden nur die Kosten einer Flatrate für Festnetzanschlüsse (bestehend aus Telefon und Internet) anerkannt.
Dies ist aber die einzige bedeutende Neuerung bei der Regelsatzbedarfsermittlung. Ansonsten ist das nach dem neuen Gesetz durchgeführte Berechnungsverfahren fast vollständig identisch mit den bisherigen Bedarfsermittlungsverfahren, die von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und etlichen Wissenschaftlern wegen methodischer Probleme und der Herausrechnung einer Vielzahl von Ausgabepositionen (z. B. für Alkohol, Tabak, Gaststättendienstleistungen, Pflanzen, Haustiere), die angeblich nicht regelsatzrelevant seien, wiederholt kritisiert worden waren (siehe z. B. hier).
Auch jetzt wiederholte sich diese Kritik (siehe z. B. hier).
- Nach der im Gesetz vorgesehenen Neuberechnung erhöhen sich die monatlichen Regelbedarfe 2021 gegenüber den bisherigen Sätzen zwischen 1 Euro (für Kinder von 6–13 Jahre) und 45 Euro (für Jugendliche von 14–17 Jahre) (siehe Tabelle).
- Neu für Schulkinder ist ein Härtefall-Mehrbedarf für den Kauf von Schulbüchern. Dieser tritt dann ein, wenn die Schulbücher nicht kostenlos ausleihbar sind.
- Die Neuberechnung der Regelbedarfe wirkt sich auch auf die Bedarfssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aus. Das betrifft sowohl die Grundleistungen (in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts in Deutschland) als auch die Analogleistungen (nach mehr als 18 Monaten), die weitgehend der normalen Sozialhilfe entsprechen. Nach dem Gesetz bekommt z. B. ein alleinstehender erwachsener Asylbewerber 2021 insgesamt 13 Euro mehr im Monat für seinen notwendigen Bedarf (physisches Existenzminimum) und seinen notwendigen persönlichen Bedarf (soziales Existenzminimum): Statt 351 Euro in 2020 sind das dann 364 Euro im Jahr 2021. Lebt er in einer Sammelunterkunft, dann stehen ihm 2021 nur 12 Euro mehr zu: Statt einer Grundleistung von 316 Euro bekommt er dann 328 Euro im Monat.
- Neu sind auch Übergangsregelung zum Freibetrag für Grundrentenzeiten: Für diejenigen, die ab 2021 mindestens 33 Jahre an Grundrentenzeiten zusammenbekommen, gilt nach dem Grundrentengesetz mit dem neuen § 82a SGB XII ein neuer Freibetrag bei der Grundsicherung in Höhe von maximal 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (2021: maximal 223 Euro). So soll vermieden werden, dass die Grundrente bei der Grundsicherung voll als Einkommen angerechnet wird und die Grundsicherung entsprechend mindert oder überhaupt erst ein Anspruch auf die ergänzende Grundsicherung entsteht. Das Problem ist aber: Zunächst wird wegen des komplizierten Berechnungsverfahrens gar nicht feststehen, ob Betroffene die erforderlichen Zeiten zusammenbekommen und einen Anspruch auf den Freibetrag haben. Die Übergangsregelung besagt deshalb jetzt: Die Grundsicherungsträger haben über Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zunächst „ohne Berücksichtigung eines eventuellen Freibetrages nach § 82a SGB XII zu entscheiden“, solange ihnen nicht durch eine Mitteilung des Rentenversicherungsträgers nachgewiesen ist, dass die Voraussetzungen für die Einräumung des Freibetrages vorliegen. Sobald dies der Fall ist, muss rückwirkend neu über die Grundsicherungsansprüche entschieden werden.
- Die Regelungen zum vereinfachten Zugang zu Grundsicherungsleistungen, die bereits mit Verordnungen bis Ende 2020 verlängert wurden (siehe hier), wurden nun wegen der fortbestehenden Pandemie mit diesem Gesetz noch einmal verlängert: bis zum 31. März 2021. Damit gelten insbesondere die Erleichterungen bei der Vermögensprüfung und der Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung weiterhin. Auch die Erleichterungen bei der Vermögensprüfung beim Kinderzuschlag wurden bis Ende März 2021 verlängert.
- Für den Fall, dass es zu Schulschließungen kommt, wurde auch die Sonderregelung für die Mittagsverpflegung von Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Bildungspakets bis Ende März 2021 verlängert. Hier wird auch dann geleistet, wenn das Mittagessen nicht gemeinschaftlich eingenommen werden kann; zudem können auch die Lieferkosten erstattet werden.
- Das Gesetz sieht auch eine Verlängerung und Änderungen beim Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) vor. Soziale Dienstleister erhalten mit dem SodEG finanzielle Zuschüsse, wenn sie ihre Arbeit aufgrund der aktuellen Situation vor Ort nicht erbringen können. Dafür unterstützen sie bei der Bewältigung der Pandemieauswirkungen vor Ort, wenn es nötig ist. Sie stellen in geeignetem und zumutbarem Umfang Arbeitskräfte, Räumlichkeiten und Sachmittel zur Verfügung. Dieses Gesetz bezieht sich auf alle sozialen Einrichtungen, die ihre Dienstleistungen auf Basis der Sozialgesetzbücher – mit Ausnahme des SGB V und des SGB XI – erbringen. Dazu zählen z. B. Reha-Kliniken, Reha-Zentren, Frühförderungsstellen oder Träger der Behindertenhilfe oder arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Die Regelungen des SodEG werden jetzt so lange verlängert, wie soziale Dienstleister durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beeinträchtigt sind. Neben dieser Verlängerung wurden noch weitere Änderungen ins Gesetz aufgenommen:
- Der Anwendungsbereich wurde konkretisiert. Zuschussberechtigt ist danach nur, wer von Maßnahmen nach dem Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes tatsächlich beeinträchtigt ist.
- Die Berechnung des Zuschusses wird jetzt so ausgestaltet, dass in der Regel Monate mit pandemiebedingten Mindereinnahmen nicht berücksichtigt werden.
- Die bisherigen Zuschüsse werden in einem separaten Erstattungsverfahren abgerechnet.
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