Soziale Sicherheit und das Gerichtssystem in der EU

Von Nicola Behrend | 22. Mai 2024

Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union (EU) ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Unionsbürgerschaft, die sozialrechtlich flankiert werden. Wie dies umgesetzt ist und welche Bedeutung dabei dem Europäischen Rechtsschutz zukommt, wird im Folgenden erläutert.

I. Ausgangslage

Eine berufliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union soll nicht mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden sein. Mobile Unionsbürger:innen, die von ihrer in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen, sollen im  „Krisenfall“, etwa bei Arbeitslosigkeit, abgesichert sein. Aber: Welches Land ist für Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständig, wenn sie in Deutschland leben und als „Grenzgänger“ in den Niederlanden beschäftigt sind? Ändert sich die Zuständigkeit, wenn sie ihren Wohnsitz wechseln? Wie wirken sich Beschäftigungszeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten auf zukünftige Rentenleistungen aus? Welches Land ist für Familienleistungen (vorrangig) zuständig, wenn Mutter und Vater mit ihren Kindern in verschiedenen Mitgliedstaaten wohnen und arbeiten?

II. Koordinierung der nationalen Systeme

Wichtig ist zunächst, dass im Bereich des Sozialrechts der Grundsatz gilt: Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind für die Ausgestaltung ihrer Sozialsysteme zuständig. Jeder Mitgliedstaat bestimmt für sich, welche Sozialleistungen es für welche Risiken bzw. Gruppen gibt und welche Voraussetzungen für die Begründung von Ansprüchen erfüllt sein müssen. Insofern besteht keine Harmonisierung der verschiedenen nationalen Sozialrechtsordnungen auf Ebene der Europäischen Union. Es fehlt ein einheitliches gemeinschaftsweit gültiges Sozialversicherungssystem aller Mitgliedstaaten.

Da dies zwangsläufig zu Verwerfungen bzw. rechtlichen Unklarheiten im sozialen Schutz mobiler Unionsbürger:innen führen kann, enthält Art. 48 AEUV den Auftrag sowie inhaltliche Vorgaben zur Schaffung eines Rechts der Koordinierung der unterschiedlichen nationalen Systeme. Als Grundprinzipien verankert sind die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen (Prinzip der Zusammenrechnung oder Totalisierung) und die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen (Prinzip des Leistungsexports).

Detaillierte Einzelfallregelungen zur Koordinierung der Zweige der sozialen Sicherheit (u. a. Leistungen bei Krankheit, bei Invalidität, bei Alter, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Arbeitslosigkeit und Familienleistungen) finden sich in der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit („Grundverordnung“) und der dazu gehörigen Durchführungsverordnung (EG) 987/2009.

Diese Verordnungen lassen die selbständigen Systeme der sozialen Sicherheit bestehen, aus denen sich selbständige Leistungsansprüche gegen selbständige Versicherungsträger ergeben, gegen die Unionsbürger:innen unmittelbare Leistungsansprüche aufgrund der innstaatlichen Rechtsvorschriften – allein oder erforderlichenfalls in Verbindung mit Gemeinschaftsrecht – haben.

III. Vorabentscheidungsersuchen als wesentliches Element sozialrechtlichen Rechtsschutzes

Mit dieser Ausgestaltung des europäischen Sozialrechts geht einher, dass die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten, an die sich die Betroffenen in sozialgerichtlichen Angelegenheiten zunächst wenden müssen, in das unionsrechtliche Rechtsschutzsystem eingebunden sind. Da die seit längerem auf EU-Ebene diskutierte Reform des Rechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bisher nicht umgesetzt werden konnte (s. dazu den Beitrag von Eberhard Eichenhofer in diesem Thema des Monats), kommt der Zusammenarbeit der nationalen Gerichte mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und dessen Rechtsprechung eine große Bedeutung für die Umsetzung, Stärkung und Fortentwicklung des sozialen Schutzes der Unionsbürger:innen zu.

Zwar ist – in Ermangelung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene –Erwerbstätigen und ihren Familienangehörigen nicht garantiert, dass die Ausweitung von Tätigkeiten auf mehr als einen Mitgliedstaat oder die Verlagerung des (Familien-) Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit stets „neutral“ ist. Wegen der unterschiedlichen Sozialsysteme können sich – je nach Einzelfall – auch Vorteile oder Nachteile für den sozialen Schutz ergeben. Die nationalen Gerichte sind jedoch im Rahmen ihrer Rechtsschutzverpflichtung zu der Prüfung verpflichtet und berechtigt, ob dies mit EU-Recht vereinbar ist.

Naturgemäß können sich bei der Auslegung von EU-Recht, das für alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise gilt, abweichende oder sich widersprechende Auslegungsmöglichkeiten ergeben. Dem wird durch das Verfahren der Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV begegnet. Wird dem Gericht eines Mitgliedstaats eine Frage zur Auslegung der Verträge gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es die Frage dem Gerichtshof zur Vorabbeantwortung vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV).

Eine Vorlagepflicht besteht für ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Hierzu hat der EuGH jüngst erneut bekräftigt, dass eine Pflicht des letztinstanzlich zuständigen Gerichts zur Vorlage einer aufgeworfenen Frage betreffend die Auslegung von Unionsrecht nur dann nicht besteht, wenn diese Frage nicht entscheidungserheblich ist, die betreffende Vorschrift bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder die richtige Auslegung von Unionsrecht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum besteht. Das Gericht darf einen solchen Sonderfall nur annehmen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bei der eindeutigen Auslegung des Unionsrechts besteht.

Dabei muss das nationale Gericht alle Sprachfassungen des Unionsrechts, die möglicherweise zu einem unterschiedlichen Verständnis führen können, als gleichwertig einbeziehen (vgl. EuGH vom 6.10.2021 – C-561/19 – Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi).

Eine Verletzung der Vorlagepflicht nach Art 267 AEUV kann zugleich das Recht der Prozessparteien auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) verletzen und damit zu einem Verstoß gegen die deutsche Verfassung führen (vgl. BVerfG vom 8.11.2023 – 2 BvR 1079/20).

Die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem EuGH ist durch einen relativ „unkomplizierten“ Zugang zum EuGH sowie eine Kooperation der europäischen Gerichtsbarkeiten geprägt. Der EuGH betrachtet es als seine Aufgabe, den nationalen Gerichten eine zweckdienliche Antwort für die Entscheidung der bei diesen anhängigen Verfahren zu geben. Hierzu – so der EuGH – habe er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es obliege ihm, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die nationale Gerichte benötigten würden, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt seien (vgl. etwa EuGH vom 12.3.2020 – C- 769/18 – Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle ./. SJ, Ministre chargé de la Sécurité sociale).

Einwände der Europäischen Kommission, dass die von einem nationalen Gericht formulierten Fragen nicht maßgeblich seien, hat der EuGH jüngst in einem Vorlageverfahren zum österreichischen Pflegekarenzgeld zurückgewiesen.  Ausreichend sei, dass das nationale Gericht die Beantwortung dieser Frage durch den Gerichtshof als für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich erachte (vgl. EuGH vom 11.4.2024 – C-116/23 – Sozialministeriumservice).

Die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem EuGH in Verfahren der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV ist der Herrschaft der Prozessparteien entzogen. Sie können ein Vorabentscheidungsersuchen beantragen, bei dem einzelstaatlichen Gericht aber nicht ein solches erzwingen oder den Inhalt der vorgelegten Fragen vorschreiben (vgl. EuGH vom 22.12.2022 – C-83/21 – Airbnb Ireland UC und Airbnb Payments UK).

IV. Gleichbehandlung bei sozialen Vergünstigungen und Nichtdiskriminierung

Die aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgeleitete Rechtsprechung des EuGH zur Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Vergünstigungen (Art. 45 Abs. 2 AEUV, Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 – „FreizügigkeitsVO) ist von zentraler Bedeutung für den Umfang des sozialen Schutzes mobiler Arbeitnehmer:innen und ihrer Angehörigen. Die aktuelle Entscheidung des EuGH zur Familienbeihilfe nach irischem Recht an eine Verwandte aufsteigender Linie einer mobilen Arbeitnehmerin (s. dazu Kapitel 3. im Beitrag von Antonia Seeeland in diesem Thema des Monats) verdeutlicht, dass eine weite Definition des Begriffs der sozialen Vergünstigungen zugrunde liegt. Bereits in seinem Urteil vom 6.10.2020 (C-181/19 – Jobcenter Krefeld) hatte der EuGH die (früheren) Wanderarbeitnehmer:innen mit unterhaltsberechtigten Kindern zustehenden Rechte dahin präzisiert, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II als soziale Vergünstigungen i. S. der VO (EU) 492/2011 anzusehen seien. Gleichfalls hatte er betont, dass Art. 10 FreizügigkeitsVO „autonom“ gegenüber unionsrechtlichen Bestimmungen sei, die – wie die RL 2004/38 („Unionsbürgerrichtlinie) – das Recht auf Aufenthalt regelten.

Auch das Pflegekarenzgeld nach österreichischem Recht, das pflegende Angehörige u. a. dann erhalten, wenn sie mit ihrem Arbeitgeber eine Freistellung von der Arbeit zu Pflege eines nahen Angehörigen vereinbaren, ordnete der EuGH als soziale Vergünstigung ein. Ein in Österreich lebender und arbeitender italienischer Staatsangehöriger beanspruchte dies für die Pflegezeit seines pflegebedürftigen Vaters in Italien. Auf eine Vorlage des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts hatte der EuGH zu prüfen, ob die Voraussetzung des Pflegekarenzgeldes, dass die pflegebedürftige Person Pflegegeld nach österreichischen Recht beziehen muss, gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstößt. Der EuGH sah hierin eine mittelbare Diskriminierung, die nur zulässig sei, wenn sie objektiv gerechtfertigt werden könne. Die nähere Prüfung dessen wurde dem nationalen Gericht überantwortet (vgl. EuGH vom 11.4.2024 – C-116/23 – Sozialministeriumservice).

Welche Konsequenzen ein europarechtswidriges Verhalten der Mitgliedstaaten haben kann, zeigt eine weitere Entscheidung, in der um eine Rentenzulage nach spanischem Recht gestritten wurde (vgl. EuGH vom 14.9.2023 – C-113/22 DX./. Instituto Nacional de la Seguridad Social).

Diese war zunächst nur für Mütter vorgesehen, was der EuGH bereits 2019 wegen der damit verbundenen direkten Diskriminierung der Väter als europarechtswidrig eingestuft hatte (vgl. EuGH vom 12.12.2019 – C- 450/18 – Rentenzulage für Mütter).

Nachfolgend wurden die spanischen Sozialversicherungsträger durch nationale Verwaltungsanweisung verpflichtet, nur rechtskräftige Urteile anzuerkennen, mit denen Vätern die Rentenzulage zuerkannt worden war. Das Vorlageverfahren des Obergerichts von Galizien betraf u. a. die Frage, ob wegen des weiteren (administrativen) Verstoßes gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie 79/7/EWG neben dem Anspruch auf die beantragte Rentenzulage auch ein Entschädigungsanspruch bestünde. Dies hat der EuGH bejaht: Die von der Notwendigkeit einer gerichtlichen Geltendmachung der Ansprüche betroffenen Väter müssten eine angemessene finanzielle Wiedergutmachung erhalten, welche jedenfalls die durch diese (weitere) Diskriminierung tatsächlich entstandenen Schäden (u. a. Anwalts- und Gerichtskosten) in vollem Umfang nach den nationalen Regeln ausgleichen müssten.

Bei der Wahl, die Europa hat (s. hierzu auch den Beitrag von Eberhard Eichenhofer), geht es auch darum, ob eine europäisch gedachte Sozialpolitik weiterhin durch ein ausdifferenziertes Rechtsschutzsystem zwischen den Mitgliedstaaten und dem EuGH flankiert werden kann.

Nicola Behrend

Richterin am Bundessozialgericht, Ansprechpartnerin des BSG für das Judicial Network of the European Union