Neuere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zum Sozialrecht

Von Antonia Seeland | 22. Mai 2024

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist das Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union. Er legt das EU-Recht aus und regelt, dass es in allen Mitgliedstaaten auf gleiche Weise eingehalten wird. Außerdem entscheidet er in Rechtsstreitigkeiten zwischen nationalen Regierungen und EU-Institutionen. Auch im Sozial- und Arbeitsrecht nimmt er eine wichtige Funktion wahr. Hier entscheidet er insbesondere bei Fragen, die die Freizügigkeit und soziale Sicherheit der Arbeitnehmer:innen und die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeitsleben betreffen. Im Folgenden werden vier neuere Entscheidungen des EuGH und die ihnen zu Grunde liegenden Grundsätze des EU-Sozialrechts vorgestellt.  

Eine ausführliche Übersicht zu aktuellen Verfahren vor dem EuGH sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) liefert quartalsweise der HSI-Report zum Europäischen Arbeits- und Sozialrecht. Dort werden zudem auch politische Entwicklungen in der EU und im Arbeitsvölkerrecht aufgezeigt.

 

1. Kollisionsrecht:
Sozialversicherungsrecht bei Unterbrechung des Leiharbeitsverhältnisses (EuGH vom 13.10.2022 – C-713/20)

Der Fall

Eine niederländische Staatsangehörige, die in Deutschland lebt, sowie ein polnischer Staatsangehöriger, der in Polen lebt, waren mit mehrfacher Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses bei jeweils einem Leiharbeitsunternehmen beschäftigt und wurden für Tätigkeiten in den Niederlanden entliehen. Das Leiharbeitsverhältnis endete u. a. mit dem Ende der Überlassung und wurde bei erneutem Einsatz neu geschlossen. Die Registrierung bei den Leiharbeitsunternehmen blieb aber teilweise bestehen. Die niederländischen Behörden erkannten zwar für die Zeit der Überlassung einen Einbezug in das niederländische System der sozialen Sicherheit und damit den Kindergeldanspruch bzw. die Berücksichtigung dieser Zeiten bei der Rentenberechnung für die Leiharbeitnehmer:innen an, nicht aber für die verleihfreie Zeiten ohne Arbeitsverhältnis zwischen den Überlassungen. Dagegen wandten sich beide Leiharbeiter:innen.

Einheitlichkeit des Sozialrechtsstatuts

Die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten werden nicht harmonisiert, sondern koordiniert. Damit kommt der Frage, welcher Mitgliedstaat zuständig ist, eine zentrale Bedeutung zu. Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts enthält die EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004 – „Grundverordnung“) in Titel II eine Reihe von Kollisionsnormen. Für einen bestimmten Sachverhalt kann grundsätzlich nur genau ein nationales Sozialrecht anwendbar sein, sog. „Sozialrechtsstatut“ (Art. 11 Abs. 1 VO 883/2004). Damit sollen sowohl Doppelleistungen als auch Sicherungslücken ausgeschlossen werden. Die Vorschriften des zuständigen Mitgliedstaates beziehen sich auf den gesamten Sachverhalt und umfassen Leistungen, Statusfragen oder auch Beiträge sowie die Sozialrechtsordnung im Gesamten. Für die Festlegung der inhaltlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit bleiben also die Mitgliedstaaten zuständig, gleichfalls können sich Änderungsnotwendigkeiten aus dem Koordinierungsrecht und der dazu ergehenden Rechtsprechung des EuGH ergeben.

Das Koordinierungsrecht differenziert nach Tatbestandsmerkmalen wie Beschäftigungsort, Wohnsitz oder Sitz der Arbeitgeber und nach Leistungszweigen, beispielsweise Leistungen bei Krankheit und Renten. Es gilt ein Regel-Ausnahme-Prinzip: Arbeitnehmer:innen und Selbstständige unterliegen grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Staates, in dem sie ihre Tätigkeit ausüben (lex loci laboris; Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO 883/2004), was damit nicht zwangsläufig der Staat sein muss, in dem das Unternehmen sitzt.

Da so bei Entsendungen von Beschäftigten in einen anderen Mitgliedstaat ein Wechsel des Sozialrechtstatuts folgen würde, was sowohl für Beschäftigte, als auch für Unternehmen und Sozialversicherungsträger Verwaltungsaufwand und administrative Schwierigkeiten bedeuten würde, gelten hier Sonderregelungen (Art. 12 VO 883/2004). Damit bleibt der Mitgliedstaat, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, in der Regel zuständig (dazu später mehr). Als Auffangregelung, die insbesondere bei wirtschaftlich inaktiven Personen greift, wird dem Wohnsitzmitgliedstaat die Zuständigkeit überantwortet (Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO 883/2004). Besonderheiten gelten dann für die einzelnen Leistungszweige.

Die Entscheidung des EuGH

Kann die Umrahmung der Zeit ohne Arbeitsverhältnis mit bestehenden Arbeitsverhältnissen bei denselben Leiharbeitsunternehmen eine Zuständigkeit der Niederlande begründen? Nach der Grundregel (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO 883/2004) können die beiden Leiharbeitnehmer:innen in den Zwischenzeiträumen nur dann in das niederländische System der sozialen Sicherung einbezogen werden, wenn sie zu dem jeweiligen Zeitpunkt dort eine Beschäftigung ausgeübt haben. Maßgeblich dabei ist, was das niederländische Recht als „Beschäftigung“ oder gleichgestellte Situation definiert (Art. 1 Buchst. a VO 883/2004). Der EuGH stellt klar, dass durch die Fortsetzungen des Arbeitsverhältnisses keine Ausnahme von der Grundregel begründet wird und die Vorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaates nicht anwendbar bleiben. Für die Anwendung der Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO 883/2004 ist folglich immer ein fortdauerndes Arbeitsverhältnis erforderlich, allein die Registrierung bei einem Leiharbeitsunternehmen genügt nicht.

Nicht relevant sind hingegen die konkreten Modalitäten der Tätigkeitsausübung, wie etwa die Arbeit in Teilzeit oder die Häufigkeit. Genauso ist es möglich, die Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung auszusetzen. Anders gewendet bedeutet es, dass der Wohnmitgliedstaat sowohl für Personen, die endgültig jede Berufstätigkeit aufgegeben haben, als auch für Personen, die ihre Tätigkeit nur vorübergehend beendet haben, zuständig ist. Der Fall zeigt die oftmals bestehende prekäre Absicherungen von grenzüberschreitend tätigen Leiharbeitsbeschäftigten (eine kurze Zusammenfassung der Entscheidung findet sich auch im HSI-Report 4/2022 auf S. 37 f.)

Exkurs „forum shopping“

Praktisch besonders relevant sind die Kollisionsvorschriften bei grenzüberschreitender Leiharbeit und Entsendungen. Entliehene oder entsendete Personen unterfallen in der Regel dem Sozialversicherungsrecht des Staates, in dem das Unternehmen gewöhnlich tätig ist (Art. 12 Abs. 1 VO 883/2004). Das schaffte in der Praxis für Leiharbeits- und Entsendeunternehmen erhebliche Anreize, sich gezielt in Mitgliedstaaten mit kostengünstigerem Sozialversicherungsrecht niederzulassen und die Beschäftigten an Entleiher in anderen Mitgliedstaaten mit weniger günstigem Sozialversicherungsrecht zu verleihen. Für diese Unternehmen ist das ein Wettbewerbsvorteil, für den Empfangsstaat hingegen eine Gefahr des „race to the bottom“ der Sozialstandards.

Der Missbrauchsgefahr von Art. 12 Abs. 1 VO 883/2004 über das „forum shopping“ versucht der EuGH zu entgegnen. So hat er in der Entscheidung Team Power Europe vom 3. Juni 2021 (C-784/19) strenge Voraussetzungen für die Anwendung der Sonderregelung festgelegt (eine ausführliche Erläuterung der Entscheidung und ihren Folgen von Diana Niksova findet sich im HSI-Report 2/2021, S. 4 ff.).

Wird später festgestellt, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig gewesen wäre, können auf die Unternehmen erhebliche finanzielle Lasten durch beispielsweise zusätzliche Sozialversicherungsbeiträge zukommen. Im Anschluss an die Entscheidung wurde zudem über mögliche Rückforderung von Sozialleistungen diskutiert. In der Praxis bedarf es zudem verstärkter Kontrollen durch nationale Behörden, um die Einhaltung sicherzustellen. Für die betroffenen Beschäftigten höchstproblematisch ist zudem, die ihnen zustehenden Leistungen auch tatsächlich noch zu erhalten. Dabei sind sie abhängig von der Zusammenarbeit der nationalen Behörden.

Unionsgesetzgeber und Rechtsprechung sind weiterhin gefordert die Freizügigkeit zum Wohle der Beschäftigten und eines hohen Sozialstandards innerhalb der EU zu fördern, denn auch weitere Kollisionsregelungen wie Art. 13 VO 883/2004 über Beschäftigungen in mehreren Mitgliedstaaten bieten Möglichkeiten für Umgehungsstrategien, indem Unternehmen einer ersten Entsendung bzw. Überlassung direkt eine weitere – dann aber in einen anderen Mitgliedstaat – folgen lassen.

 

2. Gleichbehandlung:
Anspruch auf Kindergeld in den ersten drei Monaten (EuGH vom 01.08.2022 – C-411/20)

Der Fall und sein Hintergrund

Die Entscheidung des EuGH beruht auf einem Vorabentscheidungsersuchen (s. dazu Kapitel III. im Beitrag von Nicola Behrend in diesem Thema des Monats) des Finanzgerichts (FG) Bremen. Es ging um eine nicht-deutsche Unionsbürgerin, die gemeinsam mit ihren Kindern ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegt hatte und hier einen Antrag auf Kindergeld stellte.

Unter Verweis auf § 62 Abs. 1a Einkommensteuergesetz (EStG) lehnte die zuständige Familienkasse die Leistung für die ersten drei Monate jedoch ab, da die Mutter keine inländischen Einkünfte bezog. Nach § 62 Abs. 1a EStG haben Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedstaates in den ersten drei Monaten des Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, sie können eine Erwerbstätigkeit in Deutschland nachweisen. Verlegen eigene Staatsangehörige dagegen ihren gewöhnlichen Wohnsitz (wieder) nach Deutschland, sieht das deutsche Recht keine solche Beschränkung vor, sodass sie von Beginn an Anspruch auf Kindergeld haben. Mit der Einführung des § 62 Abs. 1a EStG im Juli 2019 wollte der deutsche Gesetzgeber die unangemessene Inanspruchnahme des Systems der sozialen Sicherheit verhindern (BT-Drs. 19/8691, S. 63).

Die Betroffene klagte gegen die Entscheidung der Familienkasse.

Grundsatz der Gleichbehandlung

Die Vorlagefrage des FG Bremen betrifft einen zentralen Grundsatz des EU-Sozialrechts. Personen, die unter den jeweiligen Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, haben grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates bei der Inanspruchnahme von Leistungen der sozialen Sicherheit – hier: Art. 4 VO 883/2004 und Art. 24 Richtlinie 2004/38 (Freizügigkeitsrichtlinie); zudem Art. 18 und 45 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Dieser Grundsatz verbietet sowohl unmittelbarere Diskriminierungen als auch mittelbare, sog. „versteckte“ Diskriminierungen, in denen die Anwendung anderer Unterscheidungsgründe faktisch auch zur Ungleichbehandlung Gebietsfremder gegenüber Staatangehörigen führt.

Damit sich die Klägerin auf diesen Grundsatz berufen kann, muss sie sich zunächst rechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhalten. Ein Aufenthaltsrecht besteht für Unionsbürger:innen für die ersten drei Monate. Dazu ist nur der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses nötig, solange die Person das Sozialhilfesystem nicht unangemessen beansprucht (Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 Richtlinie 2004/38).

In seiner Entscheidung stellt der EuGH eine unmittelbare Diskriminierung durch die Anwendung des § 62 Abs. 1a EStG und den Ausschluss von Familienleistungen für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger:innen fest. Für die deutschen Behörden und Gerichte folgt daraus, dass sie § 62 Abs. 1a EStG unionsrechtskonform auslegen bzw. unangewendet lassen müssen, sodass die Klägerin einen sofortigen Anspruch auf Kindergeld auch ohne Einkünfte hat.

Der EuGH gibt dem FG Bremen zum Schluss noch einen Hinweis: Um sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zu berufen, muss die betroffene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben und darf sich nicht nur vorübergehend dort aufhalten. Für die Feststellung ist das FG Bremen verantwortlich (eine Zusammenfassung der Entscheidung findet sich im HSI-Report 3/2022, S. 33 f.).

Hinweis: Ausnahmen gelten nicht bei Familienleistungen

Eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot kann bei Sozialhilfeleistungen (z. B. Bürgergeld) in den ersten drei Monaten des Aufenthalts bestehen (Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38). Das Kindergeld ist jedoch keine Sozial-, sondern eine Familienleistung, da sie dem Ausgleich von Familienlasten und nicht der Sicherung eines ausreichenden Lebensunterhalts dient. Deshalb fällt es nicht unter die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38.

 

3. Gleichbehandlung:
Sozialleistungsanspruch für Familienangehörige (EuGH vom 21.12.2023 – C-488/21)

Der Fall

Der Fall betrifft eine rumänische Staatsangehörige. Sie zog zu ihrer Tochter, die seit einigen Jahren in Irland lebt und mittlerweile nicht nur die rumänische, sondern auch die irische Staatsbürgerschaft besitzt. Die Tochter ist in Irland erwerbstätig und gewährt der Mutter dort Unterhalt. Nach dem Unionsrecht können auch bestimme Familienangehörige ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben. Die irischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 („Freizügigkeitsrichtlinie“) legen dafür zwei Voraussetzungen fest:

Damit hat auch die Mutter ein (abgeleitetes) Daueraufenthaltsrecht in Irland.

Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, sodass sie einen Antrag auf Invaliditätsbeihilfe, eine beitragsunabhängige Sozialleistung, stellte. In diesem Zeitpunkt leistete die Tochter Unterhalt. Genau darin lag die Krux. Die Gewährung der Invaliditätsbeihilfe würde sie unabhängig vom Unterhalt der Tochter machen und nach Auffassung der irischen Behörden zur unangemessenen Inanspruchnahme des irischen Sozialhilfesystems führen, womit sie nach irischem Recht ihr Aufenthaltsrecht verliert. Die Invaliditätsbeihilfe wurde abgelehnt.

Die Entscheidung des EuGH

Nach Ansicht des EuGH ist die Situation von Unionsbürger:innen, die – wie die Tochter – von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und später die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates erworben haben, nicht mit rein innerstaatlichen Sachverhalten gleichzusetzen. Die Richtlinie 2004/38 kann hier nicht direkt angewendet werden, da sie Unionsbürger:innen in anderen Mitgliedstaaten betrifft – und nicht Unionsbürger:innen im Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Da aber die praktische Wirksamkeit des Freizügigkeitsrechts (Art. 21 und 45 AEUV) dann eingeschränkt würde, erstreckt der EuGH die Richtlinie 2004/38 mittelbar auch auf letztgenannte Fälle. Damit kommt der Mutter ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu.

Für den EuGH ist der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 – FreizügigkeitsVO) entscheidend: Die Voraussetzungen für die Gewährung sozialer Vergünstigungen für Wanderarbeitnehmer:innen dürfen nicht strenger sein als für inländische Arbeitnehmer:innen.

Verwandte in gerade aufsteigender Linie sind nach Auffassung des EuGH mittelbare Nutznießer:innen dieses Rechts auf Gleichbehandlung. Die Gewährung von Sozialhilfeleistungen wie der Invaliditätsbeihilfe darf also die Voraussetzung der Unterhaltsgewährung nicht berühren, da den Verwandten sonst die Leistungsbeantragung praktisch verboten würde. Damit können Familienangehörige in gerade aufsteigender Linie (wie die Mutter) eine Sozialhilfeleistung in Anspruch nehmen, wenn sie auch inländischen Verwandten in gerade aufsteigender Linie gewährt wird.

Das Argument einer übermäßigen finanziellen Belastung des Aufnahmemitgliedstaates kann nach dem EuGH eine Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmer:innen nicht rechtfertigen, da sie im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit Abgaben an den Aufnahmestaat entrichten und damit zur Finanzierung sozialpolitischer Maßnahmen dieses Mitgliedstaates beitragen.

Das Urteil könnte von erheblicher Relevanz für die Praxis sein, da sich der EuGH zum einen durch die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes letztlich teilweise von der aufenthaltsrechtlichen Voraussetzung der Unterhaltsgewährung (Art. 2 Nr. 2 Buchst d RL 2004/38) löst. Zum anderen, da er den Begriff „soziale Vergünstigung“ weit versteht und weitere Leistungen einbezogen werden könnten (Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011). Eine Zusammenfassung der Entscheidung findet sich im HSI-Report 4/2023, S. 39.

Die beiden hier vorgestellten Entscheidungen zur Gleichbehandlung zeigen, welche Bedeutung der EuGH dem Diskriminierungsverbot wie auch der damit eng verbundenen Freizügigkeit beimisst und so mitgliedstaatlichen Beschränkungen dieser zentralen Errungenschaften im System der sozialen Sicherheit entgegnet. Die soziale Absicherung bei Wanderbewegungen ist von wesentlicher Bedeutung und Entscheidungen wie diese fördern die Bedingungen für eine gute Integration.

 

4. Tatbestandsgleichstellung:
Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat (EuGH vom 22.02.2024 – C‑283/21)

Der Fall

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine deutsche Staatsangehörige, lebte in der Nähe von Aachen in den Niederlanden, absolvierte in Aachen eine Ausbildung zur Erzieherin sowie ein Praktikum. Beiträge zur deutschen Rentenversicherung zahlte sie während dieser Zeit nicht. Im Anschluss übte sie etwa sechs Jahre keine Erwerbstätigkeit aus und bekam zwei Kinder, die sie in den Niederlanden aufzog. 1999 zog sie nach Deutschland zurück. Von 1999 bis Oktober 2012 ging sie hier einer geringfügig entlohnten, ebenfalls nicht versicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Ab Oktober 2012 war sie in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Sie wurde allerdings dann erwerbsunfähig.

Bei der Berechnung ihrer Erwerbsminderungsrente wurden von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund die Kindererziehungszeiten in den Jahren 1986 bis 1999, während der sie in den Niederlanden lebte, nicht berücksichtigt, wogegen sie Klage erhob. Die DRV Bund lehnte die Berücksichtigung unter Verweis auf §§ 55 und 56 Abs. 1 und 3 SGB VI ab. Zur Anrechnung der ausländischen Kindererziehungszeiten bedarf es nach § 56 Abs. 3 SGB VI ausdrücklich Pflichtbeitragszeiten zur deutschen Rentenversicherung aus einer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit unmittelbar vor der Geburt des Kindes oder während der Kindererziehung.

Letztere Bedingung war bei der Klägerin nicht erfüllt. Das vorlegende deutsche Gericht bat den EuGH insbesondere um Auslegung der Fragen, ob ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Kindererziehungszeit bestehen und ob Beiträge entrichtet werden müssen.

Prinzip der Tatbestandsgleichstellung

Nach dem Prinzip der Tatbestandsgleichstellung sind Leistungen, Einkünfte, Sachverhalte oder Ereignisse, die in einem anderen Mitgliedstaat eingetreten sind, bei der Anwendung innerstaatlichen Rechts so zu behandeln, als wenn sie im eigenen Mitgliedstaat eingetreten wären (Art. 5 VO 883/2024).

Demnach ist irrelevant, wo sich ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht hat. Es geht um eine Lückenschließung. Die Identität der Sachverhalte oder Ereignisse darf nicht gefordert werden, sondern nur deren Gleichwertigkeit, die sich nach Ziel und Funktion bestimmt. Abzugrenzen davon ist die Zusammenrechnung von Zeiten nach Art. 5 VO 883/2024. Zudem darf die Tatbestandsgleichstellung nicht dazu führen, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates wechselt.

Für Zeiten der Kindererziehung in einem anderen Mitgliedstaat normiert Art. 44 Abs. 2 VO 987/2009 („Durchführungsverordnung“) einen Sonderfall. Wenn der zuständige Mitgliedstaat (hier: Niederlande) keine Kindererziehungszeiten berücksichtigt, bleibt der Träger des Mitgliedstaates zuständig für die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit, dessen Recht anwendbar ist, weil die betreffende Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat (hier Deutschland). Es wird also so geregelt, als hätte die Kindererziehung in seinem eigenen Mitgliedstaat stattgefunden.

Der EuGH hat in den Fällen, in denen die Voraussetzungen wegen fehlender Erwerbstätigkeit nicht gegeben waren (wie etwa auch hier bei der Mutter), entschieden, dass dies die Freizügigkeit der Arbeitnehmer:innen beschränke. Aus dem Grundsatz der Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) leitet er deshalb ab, dass eine „hinreichende Verbindung“ zwischen der ausländischen Kindererziehungszeit und dem Sozialversicherungssystem des für die Rentenzahlung zuständigen Mitgliedstaates ausreicht, sodass der zuständige Mitgliedstaat dann seine Rechtsvorschriften auf die Kindererziehungszeit in einem anderen Mitgliedstaat zu erweitern habe (EuGH vom 7.7.2022 – C-576/20 – Pensionversicherungsanstalt).

Die Entscheidung des EuGH

Versicherungszeiten können nach ihrer unionsrechtlichen Definition nicht nur beitragspflichtige Zeiten, sondern auch nach nationalem Recht gleichstellte, beitragsfreie Zeiten wie Kindererziehungszeiten sein (Art. 1 Buchst. t VO 883/2004). Entscheidend ist, welche Zeiten das nationale Recht als gleichwertig anerkennt.

Unter Berufung auf diese Definition kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass auch durch beitragsfreie Zeiten eine hinreichende Verbindung und somit die Verantwortung des zuständigen Staates ausgelöst werden kann. Der EuGH stellt somit klar, dass eine Begrenzung auf „Pflichtbeitragszeiten“ oder die Voraussetzung einer zeitlichen Unmittelbarkeit zwischen Versicherungs- und Kindererziehungszeiten nach §§ 56 Abs. 3 S. 2, 55 SGB VI vom Rentenversicherungsträger nicht gefordert werden dürfen. Dass Zeiten einer schulischen Ausbildung in Deutschland rentenwirksame Anrechnungszeiten auf die Wartezeit sein können (§ 54 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4, § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI) und geringfügig entlohnte Beschäftigungen mittlerweile grundsätzlich rentenversicherungspflichtig sind, spricht dafür, dass die DRV Bund die Kindererziehungszeiten der Klägerin zu berücksichtigen hat.

Mit dieser Entscheidung geht der EuGH erneut einen Schritt weiter und ermöglicht so Unionsbürger:innen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Verbesserungen ihrer sozialen Absicherung. Eine Zusammenfassung der Entscheidung findet sich im HSI-Report 1/2024 (S. 25 f.).

 

Antonia Seeland

wissenschaftliche Referentin für Europäisches Arbeits- und Sozialrecht am Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung