Soziale Selbstverwaltung: Ein Eckpfeiler demokratischer Mitbestimmung in der Sozialversicherung

von Daniel Hlava | März 2021

Die soziale Selbstverwaltung prägt seit jeher als bedeutendes Strukturelement die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung. Mit einem neuen Gesetz, das am 18. Februar 2021 in Kraft getreten ist, wurden jetzt die Rahmenbedingungen für die Ausübung des Ehrenamtes in der sozialen Selbstverwaltung verbessert (siehe hier) und Verfahrensregelungen zu den künftigen Sozialversicherungswahlen geändert (siehe hier). Hier werden zunächst die Grundzüge der sozialen Selbstverwaltung erläutert.

Diejenigen, die die Sozialversicherung mit ihren Beiträgen wesentlich finanzieren und/oder von ihren Leistungen profitieren – nämlich die Versicherten und ihre Arbeitgeber – erhalten hierdurch die Möglichkeit, in einigen, sie betreffenden Fragen mitzubestimmen bzw. ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung selbst zu regeln. In der Selbstverwaltung der als öffentlich-rechtliche Körperschaften organisierten Sozialversicherungsträger werden grundlegende Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaats verwirklicht. Näheres zur Rolle und Herleitung der Selbstverwaltung findet sich zum Beispiel in der Untersuchung „Soziale Selbstverwaltung und Rehabilitation“ von Karl-Heinz Köpke und Prof. Felix Welti (S. 28 ff.).

Versicherte und Arbeitgeber wählen ihre Interessenvertreter*innen in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherungsträger bei den alle sechs Jahre stattfindenden Sozialwahlen. Die letzte Sozialwahl fand 2017 statt. Damals wurden 3.423 Mandate an ehrenamtlich tätige Selbstverwalter*innen vergeben, wie aus dem Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2017  der Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen (S. 10) hervorgeht. Davon entfielen 1.883 auf die Vertreter*innen der Versicherten und 1.520 auf diejenigen der Arbeitgeber. Bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) wurden außerdem auch noch 20 Mandate für Selbstständige ohne fremde Arbeitskräfte vergeben.

Die nächste Sozialwahl findet 2023 statt. Bei dieser wird es gegenüber der letzten Wahl im Jahr 2017 mehrere gewichtige Änderungen geben, die hier näher beschrieben werden.

Die besondere Rolle der sozialen Selbstverwaltung erfährt in der Bevölkerung jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Dies spiegelt sich auch in der geringen Wahlbeteiligung bei den Trägern wider, wo die Selbstverwalter*innen direkt von den Versicherten in sogenannten Urwahlen gewählt werden. Sie lag bei den vergangenen drei Sozialwahlen nur knapp über 30 Prozent der Wahlberechtigten. Eine Übersicht über die Entwicklung der Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahrzehnten findet sich auf Seite 18 des Schlussberichts der Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen zu den Sozialwahlen 2017.

Ein Grund hierfür ist auch, dass der Großteil der Organisation, der Leistungskatalog und weitere Aufgaben der Sozialversicherung bekanntermaßen vollständig oder weitgehend einheitlich und trägerunabhängig in den Büchern des Sozialgesetzbuchs geregelt sind. Ob ein Versicherter zum Beispiel einen Anspruch auf eine bestimmte Heilbehandlung hat oder nicht, richtet sich nicht danach, ob er bei der Krankenkasse A oder bei der Krankenkasse B versichert ist.

Doch welche Aufgaben werden dann in der Sozialversicherung selbstverwaltend wahrgenommen?

Aufgaben der sozialen Selbstverwaltung

Die Aufgaben und Kompetenzen der ehrenamtlich tätigen Selbstverwalter*innen in der gesetzlichen Renten-, Unfall- und Krankenversicherung (und der der Krankenversicherung angegliederten Pflegeversicherung) sind im Wesentlichen im SGB IV geregelt. Für die Selbstverwalter*innen in der Arbeitslosenversicherung (hier finden keine Wahlen statt, sondern die Mitglieder werden durch ein Berufungssystem bestellt und sind drittelparitätisch mit Vertreter*innen der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften besetzt) ist das SGB III maßgebend.

Mitbestimmungs- und Gestaltungsspielräume für die Selbstverwaltung bestehen zum einen in den Bereichen der Entwicklung und Gestaltung der Verwaltungsorganisation. Dazu gehören unter anderem die Geschäftsstellen, das Qualitätsmanagement, aber auch die Eigeneinrichtungen der Träger (z.B. berufsgenossenschaftliche Unfallkliniken, Rehabilitationseinrichtungen der Deutschen Rentenversicherung etc.).

Ferner wählen und kontrollieren die Selbstverwalter*innen den hauptamtlichen Vorstand bei den Krankenkassen bzw. die hauptamtliche Geschäftsführung und den ehrenamtlichen Vorstand bei den Renten- und Unfallversicherungsträgern und sie beschließen den Haushalt.

Auch bei den Leistungen bzw. deren Konkretisierung können Selbstverwalter*innen zum Teil mitbestimmen. Letzteres geschieht etwa bei zusätzlichen Satzungsleistungen (z.B. für homöopathische Arzneimittel oder professionelle Zahnreinigung), in den vertraglichen Vereinbarungen mit den Leistungserbringern (Arztpraxen, Kliniken, etc.) und im Gemeinsamen Bundesausschuss, der über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (§ 135 SGB V) entscheidet und verbindliche Richtlinien über die ärztliche Versorgung der Krankenversicherten verabschiedet. Weitere Beispiele finden sich in dem Band „Perspektiven zur rechtlichen Stärkung des Ehrenamtes“ von Prof. Holger Brecht-Heitzmann und Judith Reuter (S. 24).

Die Aufgaben werden grundsätzlich in Selbstverwaltungsorganen ausgeübt, wozu nach § 31 Abs. 1 SGB IV die Vertreterversammlung und der Vorstand zählen. Bei den (meisten) Krankenkassen existiert statt einer Vertreterversammlung ein Verwaltungsrat (§ 31 Abs. 3a SGB IV) und auch bei der Deutschen Rentenversicherung Bund gibt es Abweichungen. Die Selbstverwaltungsorgane sind grundsätzlich paritätisch mit Vertreter*innen der Versicherten- und der Arbeitgeberseite besetzt (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IV). Bei der Bundesagentur für Arbeit sind zusätzlich die öffentlichen Körperschaften in einer Drittel-Parität (§ 371 Abs. 5 SGB III) und bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau Selbstständige ohne fremde Arbeitskräfte (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV) vertreten.

Es können Fachausschüsse gebildet werden. Jenseits der Selbstverwaltungsorgane gibt es weitere Aufgaben, die in der sozialen Selbstverwaltung wahrgenommen werden, wie die unterstützende Funktion der Versichertenältesten bzw. Vertrauenspersonen. Hervorzuheben ist auch die Beteiligung von Ehrenamtlichen in den zahlreichen Widerspruchsausschüssen der Sozialversicherungsträger, wo sie über die Gewährung von Sozialleistungen mitentscheiden. Näheres dazu findet sich in der Untersuchung „Recht und Praxis der Widerspruchsausschüsse in der Sozialversicherung“ von Prof. Armin Höland und Prof. Felix Welti (S. 14).

Dr. Daniel Hlava, LL.M.

ist Referent für Sozialrecht und Europäisches Arbeitsrecht am Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung, Frankfurt/M.