Von Franz Josef Düwell und Hans Nakielski | August 2022
Noch bevor die Regelungen zur Tarifbindung in der Pflege (siehe dazu auch hier) in Kraft traten, wurde deutlich, dass etliche Pflegeeinrichtungen nicht oder nicht richtig oder vollständig darüber informierten, welche Tarife für sie maßgebend sind. Der Gesetzgeber schärfte die Regelungen zur Tarifbindung daher mit dem Pflegebonusgesetz nach.
Mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) vom 11. Juli 2021 wurde im SGB XI geregelt, dass ab dem 1. September 2022 Versorgungsverträge nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden dürfen, die ihren Arbeitnehmer:innen, die Leistungen der Pflege oder Betreuung erbringen, eine Entlohnung zahlen, die in Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen vereinbart ist (§ 72 Abs. 3a SGB XI) oder die mindestens eine Entlohnung in Tarifhöhe oder in Höhe der Entlohnung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen gewähren (§ 72 Abs. 3b SGB XI). Damit besteht – wie die pflegepolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion Nicole Westig am 19. Mai 2022 im Bundestag (siehe hier, S. 3606) feststellte – anstelle einer „Tariftreueregelung mit komplettem Tarifzwang“, den der Koalitionspartner FDP „immer sehr kritisch gesehen“ hat, „die Möglichkeit, tarifliche Durchschnittslöhne zu zahlen.“ Auch so würden die Löhne in der Pflege gesteigert.
Im GVWG war in § 72 Abs. 3d SGB XI festgelegt worden, dass die Pflegeeinrichtungen den Landesverbänden der Pflegekassen spätestens bis Ende Februar 2022 mitzuteilen haben, an welchen Tarifvertrag oder welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sie gebunden sind oder welche Tarife für sie maßgebend sind, falls sie nicht tarifgebunden sind. Auch war nach dem GVWG geregelt: Pflegeeinrichtungen, die an Tarifverträge oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind, müssen jeweils bis Ende September des Jahres die „maßgeblichen Informationen […] für die Feststellung der Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ in der Pflege und Betreuung übermitteln (§ 72 Abs. 3e SGB XI).
Weniger als ein Drittel aller Pflegeeinrichtungen zahlte nach Tarif
Nach dem Inkrafttreten des GVWG war für die Bundesregierung und die sie tragende Koalition anhand der erfolgten Mitteilungen der Pflegeeinrichtungen und der Datenauswertungen bald deutlich geworden, dass ein Teil der Pflegeeinrichtungen entgegen der gesetzlichen Verpflichtung nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig alle angeforderten maßgeblichen Informationen gemeldet haben. Schon am 7. Februar stellte der AOK-Bundesverband nach ersten Erhebungen in einer Pressemitteilung fest, dass „aktuell deutlich weniger als ein Drittel aller Pflegeeinrichtungen in Deutschland der Tarifbindung unterliegen […]. 70 Prozent der Einrichtungen, die aktuell bereits tariflich zahlen, unterliegen kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, die restlichen 30 Prozent sind an Haus- oder Flächentarifverträge gebunden.“
Laut der Erhebung bei den Einrichtungen, die dazu Daten geliefert hatten, lag der durchschnittliche Stundenlohn Ende Januar 2022 über alle Beschäftigtengruppen bundesweit bei 18,95 Euro. Dabei zeigten sich jedoch deutliche Lohnunterschiede zwischen Ost und West: Während die durchschnittliche Entlohnung im Osten bei 17,98 Euro pro Stunde lag, waren es im Westen 20,19 Euro (siehe hier).
Bis Ende April 2022 mussten alle Pflegeeinrichtungen melden, wie sie die neuen gesetzlichen Regelungen zur Tariftreue umsetzen wollen. Nach den Rückmeldungen vom 30. April entlohnte zu diesem Zeitpunkt ein Viertel der rund 34.000 ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland sein Pflegepersonal nach Tarif oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen (siehe hier).
Über die Hälfte der Einrichtungen (53 %) hatte die Absicht bekundet, ab dem 1. September ebenfalls in Tarifhöhe zahlen zu wollen. Allerdings: Über ein Fünftel (22 %) aller Einrichtungen hatte Ende April 2022 noch keine Rückmeldungen an die Landesverbände der Pflegekassen abgegeben.
Es bestand also offensichtlich immer noch politischer Handlungsbedarf. Mit dem Gesetz zur Zahlung eines Bonus für Pflegekräfte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen (Pflegebonusgesetz) wurde schließlich bei den Regelungen zur Tarifbindung nachgeschärft. Die erste Beratung im Bundestag hatte am 7. April 2022 stattgefunden (siehe hier, S. 2467 ff.).
In seiner 27. Sitzung am 18. Mai 2022 hat der Ausschuss die Beratungen fortgesetzt und abgeschlossen. Er hat die Annahme des Koalitionsantrags mit zahlreichen Änderungsvorschlägen (siehe hier) empfohlen. Die zweite und dritte Beratung des Bundestags fand am 19. Mai 2022 statt. In der Schlussabstimmung wurde der Entwurf (nach Zustimmung der Änderungsempfehlungen in der zweiten Beratung) ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen (siehe hier, S. 3615). Der Bundesrat hat das Gesetz am 10. Juni 2022 gebilligt.
Neuregelungen durch Pflegebonusgesetz
Das Pflegebonusgesetz regelt unter anderem:
- Nicht tarifgebundene Pflegeeinrichtungen können die Voraussetzungen zur Zulassung zur Versorgung ab September 2022 nach § 72 SGB XI auch dadurch erfüllen, dass sie eine Entlohnung mindestens in Höhe der durchschnittlichen Entlohnung tarifgebundener Einrichtungen in der Region (regional übliches Entlohnungsniveau) sowie das regional übliche Niveau bei den pflegerischen Zuschlägen zahlen.
- Es wird im Einzelnen festgelegt, welche Bestandteile zur Entlohnung zählen. Neben dem Grundlohn sind es die regelmäßigen Jahressonderzahlungen, vermögenswirksame Leistungen des Arbeitgebers, pflegetypische Zulagen, Löhne für Bereitschaftsdienste und Rufbereitschaften sowie pflegetypische Zuschläge (z. B. für Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge).
- In Richtlinien müssen die Pflegekassen auch festlegen, welche Folgen eintreten, wenn Pflegeeinrichtungen nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder rechtzeitig ihrer Mitteilungspflicht zur Tarifbindung nachkommen.
- Künftig besteht nach § 72 Abs. 3e SGB XI die gesetzliche Verpflichtung aller Pflegeeinrichtungen, Änderungen der Angaben, an welchen Tarifvertrag oder an welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sie gebunden sind oder welcher Tarifvertrag oder welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen für sie maßgebend sind, unverzüglich mitzuteilen. Dazu wird in § 72 Abs. 3e SGB XI auch bestimmt, welche Informationen von den Pflegeeinrichtungen, die an Tarifverträge oder an kirchliche Arbeitsrechtsregelungen nach § 72 Abs. 3a SGB XI gebunden sind, den Landesverbänden der Pflegekassen jährlich bis zum Ablauf des 30. September des Jahres mitzuteilen sind:
„1. an welchen Tarifvertrag oder an welche kirchliche Arbeitsrechtsregelungen sie gebunden sind,
2. Angaben über die sich aus diesen Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsregelungen ergebende am 1. September des Jahres gezahlte Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von Pflegebedürftigen erbringen, soweit diese Informationen zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen nach den Absätzen 3a und 3b oder zur Ermittlung des regional üblichen Entgeltniveaus nach § 82c Absatz 2 erforderlich sind.“
Dazu gehören auch die für die Einhaltung der Zulassungsvoraussetzungen nach § 72 Abs. 3a und Abs. 3b SGB XI sowie zur Ermittlung des regional üblichen Entgeltniveaus nach § 82c Abs. 2 SGB XI fachlich erforderlichen Informationen aus den jeweils angewendeten Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen für die Feststellung der Entlohnung der Arbeitnehme:rinnen, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von Pflegebedürftigen erbringen. Der Spitzenverband Bund der Pflegekassen konkretisiert die fachlich erforderlichen Informationen in den Richtlinien nach § 72 Abs. 3c und § 82c Abs. 4 SGB XI.
- In § 82c Abs. 2 SGB XI wird klargestellt, dass bei nichttarifgebundenen Pflegeeinrichtungen ab September 2022 die Entlohnung für Pflege- und Betreuungskräfte nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann, soweit diese insgesamt das regional übliche Entlohnungsniveau in der Region um nicht mehr als 10 Prozent übersteigt.
- Beim Spitzenverband Bund der Pflegekassen wird eine Geschäftsstelle zur Erhebung und Auswertung der für die Umsetzung erforderlichen Daten zur Tariftreue ab dem Jahr 2023 geschaffen. Sie wird finanziert durch den Ausgleichsfonds.