Von Martin Künkler | 27. März 2024
Was ist aus den Plänen für eine Kindergrundsicherung (KiGruSi) geworden, dem ambitionierten, zentralen sozial- und familienpolitischen Fortschrittsprojekt der Ampelkoalition? Wie ist der aktuelle Stand des Gesetzgebungsverfahrens und welche realen Verbesserungen können Familien mit geringen Einkommen erwarten?
Am 6. November 2023 wurde der Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Kindergrundsicherung in den Bundestag eingebracht (BT-Drs. 20/9092)
Das Artikel-Gesetz enthält neben der Einführung eines Bundeskindergrundsicherungsgesetzes (BKG) damit zusammenhängende Änderungen bei zahlreichen anderen Gesetzen (u. a. SGB II, SGB III, SGB IV, SGB V, SGB XI, SGB XII, Wohngeld-, Unterhaltsvorschuss-, Regelbedarfsermittlungs- und Einkommensteuergesetz).
In den Gesetzentwurf hat es keiner der weitreichenden Vorhaben aus dem Eckpunktepapier des Bundesfamilienministeriums (siehe dazu hier) geschafft. Trotzdem enthält der Entwurf auch viel Licht (ausführlicher dazu: siehe DGB-Stellungnahme):
Für Teilgruppen kommt es zu spürbaren Leistungsverbesserungen, da die derzeitigen maximalen Leistungshöhen in den beiden Systemen „Bürgergeld“ und „Kinderzuschlag“ als Mindestansprüche festgeschrieben werden: So bekommen Jugendliche, die heute Kinderzuschlag beziehen, 65 Euro mehr. Für Vorschulkinder, die heute Bürgergeld beziehen, ergibt sich ein Plus von 37 Euro (Werte für 2023).
Zudem wird der sogenannte Kindergeldübertrag abgeschafft: Anders als beim Bürgergeld heute, wird der Teil des Garantiebetrags, der beim Kind nicht zur Existenzsicherung benötigt wird, nicht leistungsmindernd bei den Eltern angerechnet.
Richtige Meilensteine setzt der Gesetzentwurf meines Erachtens mit einem Bündel von Maßnahmen, die den Zugang zur KiGruSi deutlich erleichtern und die Inanspruchnahme spürbar erhöhen werden: Potenziell Leistungsberechtigte sollen proaktiv angesprochen werden („KiGruSi-Check“), die Zusammenlegung des Kinderzuschlags und der Bürgergeldleistungen für Kinder lichtet den Leistungsdschungel und beendet Verschiebebahnhöfe, auf denen heute viele Familien verlorengehen. Zudem werden Antragsverfahren stark vereinfacht und auch digital möglich sein. Automatisierte Übermittlungen bereits bekannter Daten („Once-Only-Prinzip“) erübrigen oftmals das individuelle Beibringen von Nachweisen, etwa zum Einkommen.
Die bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) angesiedelten Familienkassen sollen zum „Familienservice“ umgewandelt werden und künftig neben dem Kindergarantiebetrag (heutiges Kindergeld) auch den als Weiterentwicklung des Kinderzuschlages konzipierten, einkommensabhängigen Kinderzusatzbetrag sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepakets verwalten.
Detaillierte Informationen zur Ausgestaltung des Gesetzentwurfes sowie Fragen und Antworten dazu finden sich auf der Homepage des Bundesfamilienministeriums (siehe hier).
Offene (verfassungs)rechtliche Fragen
Als dieser Artikel Mitte März 2024 entstand, war zumindest wieder etwas Bewegung in die festgefahrenen koalitionsinternen Gespräche gekommen. Die seit Weihnachten ausgesetzten Verhandlungen auf Ebene der Berichterstatter:innen sollen Ende März fortgesetzt werden. Dann wollen die beteiligten Ministerien geeinte Lösungsvorschläge zu strittigen Aspekten präsentieren, insbesondere auch zu (verfassungs-)rechtlichen Fragen der Administration der KiGruSi. Hintergrund ist, dass zuletzt zwei Alternativen diskutiert wurden, die jeweils (verfassungs-)rechtliche Bedenken ausgelösten.
Modell der geteilten Zuständigkeiten: Diese Variante sieht vor, dass die Jobcenter mittels Inbezugnahme auf das Kindergrundsicherungsgesetz (Verweise im SGB II auf das Kindergrundsicherungsgesetz) die KiGruSi für alle Kinder administriert, deren Eltern Bürgergeld beziehen, und der Familienservice die KiGruSi für alle anderen Familien.
Laut der Rechtsauffassung von Innen- und Justizministerium ist diese Variante jedoch nicht verfassungskonform: Denn die Jobcenter sind eine besondere Verwaltungsform, bei der BA und Kommunen unter einem Dach zusammenwirken. Dies wurde erst durch eine Grundgesetzänderung (Einführung § 91e GG) möglich gemacht, aber eben explizit nur für die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Mit dem vorliegenden Gesetz wird die KiGruSi aber gerade nicht mehr der Grundsicherung zugordnet, so dass die Jobcenter sie nicht administrieren dürfen.
Modell: Familienservice als Anlaufstelle für alle und alles: Die neuen Familienservicestellen sind Anlaufstelle („Front-Office“) für alle Familien und alle Leistungskomponenten. Anträge auf Leistungen, für die der Familienservice nicht zuständig ist, werden entgegengenommen und an die zuständigen Stellen weitergeleitet („Back-Office“). Der § 16 SGB I, der die Entgegennahme und Weiterleitung von Anträgen regelt, soll in diesem Kontext ggf. noch modifiziert und erweitert werden.
Diese Variante, die wohl vom Bundesfamilienministerium präferiert wird, erfordert freilich eine erst noch zu schaffende Präsenz der Familienservicestellen in der Fläche. Die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit hat heute nur 115 lokale Standorte.
Im parlamentarischen Raum wird teils die Auffassung vertreten, die Konzeption der „Anlaufstelle für alles“ trage nicht, da der Familienservice nicht zu Leistungen beraten dürfe, für die er nicht zuständig ist. Diese Auffassung ist meines Erachtens unzutreffend. Sie beruht darauf, dass aus der in § 14 Satz 2 SGB I normierten Beratungspflicht des zuständigen Trägers im Umkehrschluss ein „Beratungsverbot“ des nicht zuständigen Trägers konstruiert wird. Dem steht jedoch entgegen, dass es gerade Intention und Gesetzeszweck der §§ 13ff SGB I ist, auf eine möglichst weitgehende Verwirklichung sozialer Rechte hinzuwirken. Zudem wurden in der Rechtsprechung viele Fallkonstellation definiert, in denen der nicht zuständige Träger über den Wortlaut des § 14 Satz 2 SGB I hinaus sogar eine Beratungspflicht hat. So ist beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet, auf leistungsrechtliche Auswirkungen auf Krankenversicherungsschutz und Rentenanwartschaften aufgrund des Endes des Arbeitslosengeldbezugs hinzuweisen (vgl. zur Beratungspflicht des nicht zuständigen Trägers: Beck Online-Kommentar – BeckOGK/Spellbrink SGB I § 14 Rn. 45, 46).
Schließlich ist auf den in der Sozialgerichtsbarkeit verankerten Grundsatz der Meistbegünstigung hinzuweisen. In der Gesamtschau überzeugt das „Beratungsverbot“ nicht, zumal ein umfassender Beratungsauftrag der Familienservicestellen klarstellend im Kindergrundsicherungsgesetz verankert werden könnte.
Politisch gesehen ist die Konzeption einer „Anlaufstelle für alles“ sicherlich eine tragfähige Auffanglösung, sofern sich keine bessere Lösung im Gesetzgebungsverfahren durchsetzen lässt. Denn schließlich ist es entscheidend, dass die Leistungsgewährung für die Leistungsberechtigten „wie aus einer Hand“ erfolgt. Zunächst sollte aber darauf hingewirkt werden, möglichst viele Leistungskomponenten direkt in die KiGruSi zu integrieren.
Dies betrifft die Mehrbedarfe nach § 21 SGB II bzw. § 30 SGB XII.
Vermutlich hat das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) den Leistungsumfang der KiGruSi zunächst bewusst schlank konzipiert und auf den laufenden, standardisierbaren Grundbedarf beschränkt, um die Bundesagentur als anvisierten Leistungsträger vor prüfintensiven Sonderfällen „zu schützen“. BA-Vorstandsmitglied Vanessa Ahuja hat jedoch in der Sachverständigenanhörung im Familienausschuss klargestellt, dass die BA bzw. deren zukünftiger Familienservice sehr wohl Mehrbedarfe administrieren kann. Sie wies zutreffend darauf hin, dass die Familienkassen schon heute Mehrbedarfe berechnen, um entscheiden zu können, ob die Anspruchsvoraussetzung für den Kinderzuschlag, nämlich dass SGB-II-Hilfebedürftigkeit (weitgehend) überwunden wird (§ 6a Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 1a Bundeskindergeldgesetz), gegeben ist. Somit ist kein überzeugender Sachgrund für die im Gesetzentwurf noch enthaltene, aufgesplittete Zuständigkeit ersichtlich, nach der die Jobcenter für die Mehrbedarfe zuständig bleiben sollen. Die Fallzahlen der Kinder mit Mehrbedarfen sind übrigens recht überschaubar: Nur 0,6 Prozent der Minderjährigen im Bürgergeldbezug haben einen Mehrbedarf (ohne Mehrbedarf „Warmwassererzeugung“). Das ergeben eigene Berechnungen nach Daten der Statistik der BA (Bestand an Regelleistungsberechtigten (RLB) mit Bedarf auf Mehrbedarf, Sonderauswertung im Auftrag des DGB vom 15.11.2023).
Meines Erachtens ist es akzeptabel, wenn – wie vorgesehen – Teile des Bildungs- und Teilhabepakets in der Zuständigkeit der Länder und Kommunen verbleiben, sofern der Aufwand für die Leistungsberechtigten auf anderem Weg minimiert wird: Statt der individuellen Geltendmachung von Ansprüchen (z. B. Kostenerstattung für Klassenfahrten) sollte so weit wie möglich auf Verfahren umgestellt werden, bei denen die Schulen bzw. die Leistungserbringer in Sammelverfahren direkt mit dem zuständigen Träger abrechnen – ohne zusätzlichen Aufwand für die Leistungsberechtigten.
Wie weiter? Zu Potte kommen!
Aus gewerkschaftlicher Sicht sind die Ampel-Koalitionäre jetzt gefordert, das Gesetzgebungsverfahren im Bundestag lösungsorientiert und zügig zu einem guten Abschluss zu bringen. Die noch offenen Fragen müssen jetzt sachorientiert und im Interesse der Familien gelöst werden.
Auch wenn in diesem und dem vorherigen Beitrag zum Thema des Monats eine überwiegend kritische Bewertung des koalitionsinternen Verhandlungsprozesses im Fokus steht, bleibt festzuhalten: Wesentlicher Maßstab zur Bewertung einer zukünftigen, realexistierenden KiGruSi wird nicht die Frage sein, inwiefern sie dem idealtypischen Konzept einer KiGruSi entspricht. Entscheidend ist, ob und in welchem Ausmaß sie materielle Verbesserungen gegenüber dem Status quo bringt. Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet trotz aller Kritik immer noch viele substanzielle Vorteile im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage: Mit den oben skizzierten Maßnahmen eines spürbar erleichterten Zugangs zur KiGruSi wird die benötigte Hilfe endlich bei mehr Familien ankommen. Davon profitiert die große Masse der Kinder, laut BMFSFJ sollen in der „Endausbaustufe“ 5,6 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit dem Kinderzusatzbeitrag erreicht werden – darunter 1,9 Millionen Kinder, die aktuell Bürgergeld beziehen (siehe hier).
Das Ärgernis, dass für Mehrbedarfe eine andere Stelle zuständig bleiben soll, belastet aufgrund der relativ niedrigen Fallzahlen hingegen nur wenige. Auch ohne die – weiterhin notwendige – Neuermittlung des Existenzminimums hat die KiGruSi armutsreduzierende Wirkung. Denn wenn die KiGruSi tatsächlich bei den Familien ankommt, erhöht sich deren verfügbares Haushaltseinkommen, die Armutslücke wird reduziert, die Armutsrisikogrenze je nach Höhe des sonstigen Einkommens sogar übersprungen.
Neben diesen materiellen Verbesserungen für Familien bringt die KiGruSi einen nicht zu unterschätzenden „Kollateralnutzen“ mit sich: Zukünftig erhalten alle Kinder – unabhängig davon, ob die Eltern erwerbslos oder erwerbstätig sind, die gleiche Leistung – zwar aufgrund der Einkommensanrechnung in unterschiedlicher Höhe, aber nach denselben Spielregeln und aus demselben Topf. Dies mindert Verhetzungspotenziale, erschwert es, Zwist zu säen und Gruppen gegeneinander auszuspielen, kann gemeinsame Interessen von Geringverdienenden und Erwerbslosen verdeutlichen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Die KiGruSi kann zu einem deutlich besseren Aufwachsen aller Kinder beitragen und das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik stärken. Dieses wichtige Zukunftsprojekt darf keinen Schaden nehmen oder ganz auf der Strecke bleiben!