Von Martin Künkler | 27. März 2024
Etwa jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm. Das soll sich ändern: Die geplante Kindergrundsicherung soll Kinder und Jugendliche vor Armut schützen und ihnen bessere Chancen zum Start ins Leben ermöglichen. Was steckt hinter der Idee der Kindergrundsicherung (KiGruSI) und wie lange wird schon darüber diskutiert? Was steht dazu im Koalitionsvertrag und was blieb nach zähen Verhandlungen davon übrig?
In ihrem Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 „Mehr Fortschritt wagen“ versprach die Ampel auf Seite 79 nicht weniger als einen „Neustart der Familienförderung“. Und tatsächlich: Die im Koalitionsvertrag skizzierten Eckpunkte einer KiGruSi eröffneten die Chance eines weitreichenden, progressiven Reformprojekts. Die Realisierung eines sozialpolitischen Meilensteins zur Überwindung der Kinderarmut schien möglich:
Denn vereinbart wurde u. a. die Bündelung der weit zersplitterten monetären, kindbezogenen Leistungen in einer einfachen, unbürokratischen, automatisiert berechnet und ausgezahlten Förderleistung. Zudem wurde verabredet, das Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen neu zu ermitteln. Wörtlich heißt es im Koalitionsvertrag: „Diese Leistung soll ohne bürokratische Hürden direkt bei den Kindern ankommen und ihr neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum sichern.“ Außerdem wurde verabredet, zumindest perspektivisch die Privilegierung von Eltern mit hohen Einkommen zu beenden, die heute über den steuerlichen Kinderfreibetrag deutlich mehr profitieren als Eltern mit mittleren und kleinen Einkommen, die das Kindergeld erhalten (was allerdings bei den Bezieher:innen von Bürgergeld oder Sozialhilfe angerechnet wird).
Blick zurück in die Geschichte
Die Kindergrundsicherung hat eine sehr lange Vorgeschichte: Vor nunmehr über 20 Jahren kam die Idee einer KiGruSi auf, konzipiert als Globalalternative zur dysfunktionalen, ungerechten, nicht bedarfsdeckenden, ineffektiven und teuren Vielzahl an monetären Leistungen für Kinder und Jugendliche. Wurde die KiGruSi zuerst nur von einzelnen Kinder- und Familienverbänden sowie einzelnen Wissenschaftler:innen propagiert, überzeugten die Vorteile der Konzeption mit der Zeit immer mehr und immer mehr relevante gesellschaftliche Akteure unterstützten die Grundidee einer KiGruSi. Das Bündnis Kindergrundsicherung hat heute 20 namhafte Mitglieder und die Konzeption einer KiGruSi stellt m. E. spätestens seit Ende des letzten Jahrzehnts den „state oft he art“ in der Fachdebatte dar.
Der DGB und viele seiner Mitgliedsgewerkschaften setzten hingegen relativ lange darauf, dass reale Verbesserungen für einkommensschwache Familien eher durch Reformen innerhalb der bestehenden Systeme (Hartz IV, Kinderzuschlag und Wohngeld) realisiert werden könnten. Doch ab 2018 erarbeitete auch der DGB sein Konzept einer „arbeitnehmerfreundlichen Kindergrundsicherung“ (siehe hier).
Spezifisch daran ist, dass Geringverdienende mit Kindern in einem besonderen Fokus stehen. Neben der „Armutsbekämpfung ganz unten“ sollen auch Haushalte, deren Einkommen oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegen, materiell bessergestellt werden.
Charakteristika einer KiGruSi
Anfangs wurden in der „KiGruSi-Szene“ noch unterschiedliche Ausgestaltungs-Varianten diskutiert, darunter auch einige „Kinderkrankheiten“, wie beispielsweise die Idee einer einheitlichen Pauschale für alle Kinder unabhängig vom Elterneinkommen. Mittlerweile hat sich jedoch ein sehr breiter Konsens herausgebildet, welche Anforderungen wesentlich für eine KiGruSi sind (siehe hier):
- „Die Kindergrundsicherung ist eine eigenständige Leistung für jedes Kind.
- Die Kindergrundsicherung ersetzt das Kindergeld und den steuerlichen Kinderfreibetrag, den Kinderzuschlag, die Hartz-IV-Leistungen für Kinder und Jugendliche und die pauschalen Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets.
- Das Existenzminimum muss für alle Kinder neu und realistisch berechnet werden, um Kinderarmut wirksam zu vermeiden. (…) Notwendig ist eine Leistungshöhe, die deutlich über den Hartz-IV-Sätzen für Kinder und Jugendliche liegt.
- (…) Die am stärksten von Armut betroffenen Familien müssen deutlich bessergestellt werden, mit steigendem Einkommen sinkt die Leistung langsam ab. (…)
- Die Kindergrundsicherung muss einfach, unbürokratisch und möglichst automatisch ausgezahlt werden, damit sie auch tatsächlich bei allen Kindern ankommt. Familien brauchen eine einzige Anlaufstelle vor Ort.
- Die Kindergrundsicherung als monetäre Leistung muss durch eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche und ihre Familien ergänzt werden.“
Doch zurück auf Los und zur Frage, wie die Vereinbarungen zur KiGruSi aus dem Koalitionsvertrag in den nachfolgenden koalitionsinternen Verhandlungen sowie im Gesetzgebungsverfahren verändert wurden.
Guter Aufschlag: Eckpunktepapier verspricht viel Fortschritt
Im Januar 2023 legte das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) ein – noch nicht in der Koalition abgestimmtes – Eckpunktepapier zur Ausgestaltung der KiGruSi vor. Darin wurden die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag weitgehend umgesetzt und konkretisiert. Es soll einen einkommensunabhängigen Garantiebetrag in gleicher Höhe für alle Kinder und einen vom Einkommen des Kindes und der Eltern abhängigen, altersgestaffelten Zusatzbetrag geben.
Das Eckpunktepapier enthielt noch große Schnittmengen zu den Vorstellungen von Verbänden und DGB: So sollten beispielsweise auch Kinder, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, einbezogen werden (siehe unten). Zumindest perspektivisch sollte der Vorteil aus dem steuerrechtlichen Kinderfreibetrag und die Höhe des Garantiebetrags der KiGruSi vereinheitlicht werden. Zudem sollten Kinder, deren Eltern Bürgergeld beziehen, automatisch und ohne Antrag den Höchstbetrag der KiGruSi erhalten.
Aber schon in diesem Papier wurde die im Koalitionsvertrag verabredete Neuermittlung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen in die fernere Zukunft verschoben. Stattdessen soll nun nur die Aufteilung der statistisch gemessenen Ausgaben einer Familie in den Bereichen Haushaltseinrichtung, Möbel und Elektrogeräte sowie Strom anders und zu Gunsten der Kinder zwischen Eltern und Kinder aufgeteilt werden. Im Ergebnis steigt der Zusatzbetrag dadurch je nach Altersgruppe schätzungsweise um 20 bis 28 Euro im Monat.
Zähe und holprige Verhandlungen
Die Zeit zwischen dem Eckpunktepapier und dem Kabinettsbeschluss am 27. September 2023 (mehr dazu siehe im Beitrag „Licht und Schatten“ in diesem Thema des Monats) war durch zähe, holprige und sehr konfliktbeladene Verhandlungen und öffentlich ausgetragenem Streit geprägt, insbesondere zwischen dem Bundesfamilien- und dem Bundesfinanzministerium. Ein zentraler Streitpunkt war, wie viel Geld die Bundesregierung bereit ist, für die KiGruSi zur Verfügung zu stellen:
Laut FDP sollte die KiGruSi überhaupt keine nennenswerten Mehrkosten verursachen – was schon im Hinblick auf das Ziel, über eine bürgerfreundliche Verwaltungsreform dafür zu sorgen, dass die Unterstützung bei mehr Familien ankommt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Zudem schoss die FDP schnell gegen weitere strukturelle Verbesserungen: Das Geld sei besser in Schulen und Kitas investiert. Das ist eine unsinnige Gegenüberstellung, bei der auch immer der Generalverdacht mitschwingt, die Eltern würden höhere Geldleistungen für ihre Kinder für sich zweckentfremden. Dabei zeigt eine aktuelle empirischen Studie der Bertelsmann-Stiftung erneut, dass das Geld sehr wohl den Kindern zugutekommt. Ähnlich gelagert ist die Argumentation, man solle lieber in die Arbeits- und Sprachförderung der (arbeitslosen) Eltern (mit Migrationsgeschichte) investieren. Auch hier gilt, dass man das eine tun muss ohne das andere zu lassen. Hinzu kommt: Die große Mehrheit der Armen in Deutschland ist weder arbeitslos noch handelt es sich bei ihnen um Migrant:innen (siehe Paritätischer Armutsbericht 2022).
Ein zentraler Grund für dieses massive Störfeuer ist neben dem selbstauferlegten Sparzwang (Schuldenbremse, keine Steuererhöhungen) das Bestreben der FDP, unter dem euphemistischen Etikett, „Arbeitsanreize erhalten zu wollen“, den ökonomischen Zwang zur Annahme auch unattraktiver, prekärer und schlecht bezahlter Arbeit hochzuhalten.
Noch weniger Geld für Flüchtlingskinder
Was bei den Verhandlungen auf Initiative der FDP auch auf der Strecke blieb: Für Kinder von Geflüchteten, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten, sind nunmehr keinerlei Verbesserungen im Rahmen der KiGruSi vorgesehen. Im Gegenteil, ihre Leistungen werden sogar gekürzt.
Es ist fachlich noch nachvollziehbar, dass Kinder im AsylbLG aufgrund ihrer besonderen Lebenslage (z. B. Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften) nicht 1:1 in die KiGruSi mit ihren standardisierten und pauschalen Leistungskomponenten integriert werden können. Es ist jedoch kein sachlicher Grund ersichtlich, warum die Bezieher:innen von Leistungen nach dem AsylbLG nicht endlich in das Regelsystem des SGB XII aufgenommen werden. Denn das SGB XII ermöglicht eine abweichende Leistungserbringung entsprechend dem individuellen Bedarf (Mehr- und Minderbedarfe).
Das Festhalten am Sondersystem AsylbLG lässt sich nur durch – laut Verfassungsgericht nicht zulässigen – migrationspolitischen Zielsetzungen erklären.
Völlig skandalös wird es, wenn jetzt anlässlich der KiGruSi die ohnehin hohe Armutsbetroffenheit von Flüchtlingskindern abermals verschärft wird. Es geht um den Sofortzuschlag von monatlich 20 Euro. Seit dem 1. Juli 2022 erhalten von Armut betroffene Kinder diesen Zuschlag (siehe hier).
Der Sofortzuschlag ist gedacht als ein erster Schritt auf dem Weg zur Einführung einer Kindergrundsicherung. Den Zuschlag erhalten alle Kinder, die in Familien leben, die mit der Grundsicherung auskommen müssen, einen Anspruch auf Kinderzuschlag haben oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen.
Mit der Einführung der KiGruSi soll zwar – konsequenterweise – in allen Leistungssystemen der Sofortzuschlag entfallen. In der KiGruSi wird allerdings dies durch Leistungserhöhungen an anderer Stelle kompensiert, beim AsylbLG schlägt die Kürzung dagegen voll durch.