Kein Sozialstaat ohne Sozialgerichte

von Alice Dillbahner | Januar 2022

Die Sozialgerichte entscheiden jedes Jahr über etwa 400.000 Fälle. Nach der Zivil- ist die Sozialgerichtsbarkeit damit die zweitgrößte Gerichtsbarkeit in Deutschland. Dennoch bleibt sie als relevante Institution in vielen Diskursen rund um den Sozialstaat außen vor. Welche Bedeutung hat also die Sozialgerichtsbarkeit für unseren sozialen Rechtsstaat und welche Funktionen erfüllt sie dabei?

Bedeutung der Sozialgerichtsbarkeit

Ob es um die Erbringung von Leistungen zur medizinischen Behandlung, um Hilfsmittel, Teilhabe in allen Formen, Arbeitslosigkeit – bis hin zur Existenzsicherung – oder Rentenleistungen im Alter, bei Erwerbsminderung oder nach einem Arbeitsunfall geht: regelmäßig entscheiden sozialstaatliche Leistungsträger über elementare Lebensbedingungen. Dass diese Entscheidungen korrekt und rechtmäßig sind, spielt für die betroffenen Menschen eine entscheidende Rolle. Dies ist jedoch nicht immer der Fall.

Die Möglichkeit, Entscheidungen der Verwaltung auf ihre rechtliche Korrektheit hin überprüfen zu lassen, ist daher ein wichtiges Instrument, um individuelle Rechtsansprüche sicherzustellen. Doch auch über die individuelle Konfliktlösung hinaus ist die Sozialgerichtsbarkeit als Kontrollinstanz gegenüber der Verwaltung, als Mitgestalterin von Sozialrecht und Sozialpolitik und nicht zuletzt als Garantin von Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie Rechtssicherheit von zentraler Bedeutung für das politische System der Bundesrepublik.

Besonderheit des deutschen Systems

Die Sozialgerichte in ihrer heutigen Gestalt bestehen seit nunmehr fast 70 Jahren. Eine eigenständige und als Institution über Jahrzehnte gewachsene Spezialgerichtsbarkeit für (nahezu) alle Angelegenheiten des Sozialrechts ist jedoch nicht selbstverständlich. Schaut man in andere Länder, zeigt sich, dass Rechtsschutz in der sozialen Sicherung ganz unterschiedliche Strukturen aufweisen kann. Dies betrifft sowohl die Eingliederung innerhalb der Gerichtsorganisation (z. B. in die Verwaltungs- oder Arbeitsgerichtsbarkeit) als auch die Gestaltung des Rechtsweges und der Verfahren.

Dass die Gestaltung von Rechtsschutz dabei auch das Ergebnis politischer Prozesse ist, zeigt sich besonders deutlich in Großbritannien. Hier gibt es kein mit der deutschen Sozialgerichtsbarkeit vergleichbares System. Für Angelegenheiten des Sozialrechts sind heute überwiegend die gerichtsähnlichen „tribunals“ zuständig. Diese wurden erst nach der Jahrtausendwende durch umfassende Reformen in ein einheitliches System überführt und ihre Unabhängigkeit von der Verwaltung und Zugehörigkeit zur Justiz wurde verfassungsrechtlich verankert. Bis heute unterliegt das britische Rechtsschutzsystem Reformen hinsichtlich der Gestaltung von Instrumenten und Zugängen.

Dass in Deutschland eine mittlerweile fest etablierte Sozialgerichtsbarkeit besteht, kann daher durchaus als Errungenschaft des Rechtsstaats und für die Konflikt- und Kompromissfähigkeit des politischen Systems betrachtet werden. So können die Sozialgerichte auch als Orte der Aushandlung gesellschaftlicher Interessen gesehen werden und Rechtsschutzverfahren als Mittel der Umverteilung von (Gestaltungs-)Macht und Anerkennung (mehr zu Konflikten vor den Sozialgerichten aus politikwissenschaftlicher Perspektive hier im Beitrag von Britta Rehder ab S. 130).

Die Rechtsschutzverfahren im Sozialstaat übernehmen damit eine wichtige Funktion im fortwährenden Konflikt um die Ausgestaltung sozialer Sicherung und wirken zugleich gesellschaftsstabilisierend (siehe dazu den Beitrag von Peter Masuch und Wolfgang Spellbrink in der „Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht“ ab S. 437). Die Bedeutung der Verfahren vor den Sozialgerichten geht damit weit über einen rein individuellen Rechtsschutz hinaus.

Kontrolle der Verwaltung

Eine zentrale Funktion der Sozialgerichtsbarkeit ist die Möglichkeit, Verwaltungshandeln – konkret die Rechtsanwendung durch die Verwaltung – zu kontrollieren und bei Bedarf zu korrigieren. Das bedeutet nicht, dass es immer und ausschließlich um die Reparatur mehr oder minder offensichtlich falscher Entscheidungen geht. Vielmehr kann gerichtliche Kontrolle auch als Chance begriffen werden, dem Sozialrecht zu seiner rechten Geltung und Zweckbestimmung zu verhelfen. Die hohe Komplexität und Vielfalt sich stets wandelnder sozialrechtlicher Regelungen, durchdrungen von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensspielräumen, trifft in der Rechtsanwendung auf wiederum komplexe individuelle Lebenssachverhalte. Passgenaue Lösungen für Rechtsprobleme liegen hier nicht immer auf der Hand.

Es bedarf daher der adäquaten Auslegung relevanter Normen und einer Subsumtion des jeweiligen Einzelfalls unter diese rechtlichen Vorgaben. Dabei sollen u.a. nicht nur der Wille des Gesetzgebers, sondern auch die Interessen der Bürger:innen und nicht zuletzt der Verwaltungsorgane selbst, wie effiziente Abläufe und Wirtschaftlichkeit, im Blick behalten werden. Dieser Aufgabe buchstäblich gerecht zu werden ist eine große Herausforderung und die Umsetzung zwangsläufig fehleranfällig.

Gesetz vs. Lebenswelt

Die Herausforderung liegt bereits darin begründet, dass die im Rahmen der Sozialgesetzgebung entstehenden sozialrechtlichen Regelungen immer das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses sind und damit regelmäßig ein Kompromiss divergierender Interessen. Dass dabei eine Einigung bis ins Detail nicht immer leichtfällt, zeigt sich u. a. in Vorschriften, die teilweise absichtlich vage gehalten sind und deren konkrete Ausformungen Verwaltung und Leistungsträgern sowie den Gerichten als Kontrollinstanzen überlassen werden (siehe dazu den Beitrag von Hans-Jürgen Kretschmer in dem Band „Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa“ ab S. 395).

Die Sozialgerichtsbarkeit spielt daher eine wichtige Rolle bei der Gesetzesauslegung und damit Rechtsfortbildung und Ausgestaltung von Sozialrecht und Sozialpolitik. Dies betrifft auch den Umgang mit Lebenssachverhalten, deren Komplexität über die gesetzlichen Regelungsinhalte hinausgeht. In solchen Fällen bedarf es umfassender Sachverhaltsermittlungen, einer großen Fülle juristischer und spezifisch sozialrechtlicher Expertise, ggf. empirischer Evidenzen und nicht zuletzt zeitlicher und personeller Ressourcen, um dies umzusetzen. Dem kann die Leistungsverwaltung allein schon angesichts des immensen Umfangs an Entscheidungen kaum gewachsen sein. So werden allein von den Jobcentern jährlich über 20 Millionen Bescheide erstellt (siehe BT-Drs. 19/18329).

Kontrolle der Legislative

Das Sozialrecht kann also ohne die Sozialgerichtsbarkeit in der praktischen Umsetzung gar nicht vollends den Zweck erfüllen, der ihm bestimmt ist, nämlich soziale Rechte zu verwirklichen und damit zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit beizutragen (§§ 1, 2 SGB I). Nicht umsonst ist die Existenz einer Sozialgerichtsbarkeit verfassungsrechtlich garantiert (Art. 95 Abs. 1 Grundgesetz).

Zugleich hilft die gerichtliche Kontrolle, nicht nur das Agieren der Exekutive, sondern auch das der Legislative im Blick zu behalten und notwendigen Reformbedarf aufzuzeigen. So sind die Sozialgerichte auch ein wichtiges Instrument, wenn es um das Erkennen strukturellen Reformbedarfs geht, sowohl in der Rechtsanwendung durch die Verwaltung als auch hinsichtlich des Nachbesserungsbedarfs durch die Sozialgesetzgebung. Diese Bedarfe können bereits aus Einzelfällen (Präzedenzfällen) hervorgehen, aber auch durch die Häufung ähnlicher Klagen, die strukturelle Probleme deutlich machen.

Und nicht zuletzt besteht mit einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz die Möglichkeit, aus einem Verfahren vor den Sozialgerichten heraus Rechtsvorschriften durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auf ihre Vereinbarkeit mit geltendem Recht überprüfen zu lassen. Dass dies durchaus weitreichende politische Folgen nach sich ziehen kann, zeigen z. B. die Urteile des BVerfG zur Regelsatzhöhe (Az.: 1 BvL 1/09 u. a. vom 9. Februar 2010) oder der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im SGB II (Az.: 1 BvL 7/16 vom 5. November 2019, siehe dazu auch unser Thema des Monats vom Mai 2021)

Auch wenn die Ergebnisse dieser Kontrolle von Seiten der zum Handeln bzw. Nachbessern „Verurteilten“ – Gesetzgeber oder Verwaltung – nicht immer gerne gesehen sein mögen, so haben sie doch einen gewichtigen Anteil an der verfassungsmäßigen Gestaltung der sozialen Sicherung im Rechtsstaat. Dass das Zusammenspiel von Politik und Rechtsprechung dabei nicht immer reibungslos verläuft, veranschaulicht der zweite Beitrag dieses Thema des Monats von Armin Knospe.

Individuum vs. Verwaltung

Nichtsdestotrotz sind es zunächst immer individuelle Begehren, die vor Gericht verhandelt werden und den Anstoß für eine gerichtliche Kontrolle geben. Treffen Kläger:innen und Beklagte vor Gericht aufeinander, ist dies jedoch regelmäßig keine Begegnung auf Augenhöhe. Als Teilgebiet des öffentlichen Rechts ist das Sozialrecht nämlich gerade geprägt durch das hierarchische Verhältnis zwischen Bürger:innen und Staat.

Der oder die Einzelne stehen der Verwaltung als Organ des Staates oder einer Sozialversicherung gegenüber, die über individuelle Ansprüche entscheidet und dabei zumeist sowohl über eine routinierte fachliche Expertise verfügt als auch über Erfahrung mit Rechtskonflikten. Während es sich für die Verwaltung als „repeat player“ in einem Rechtsstreit also nur um einen Fall von vielen handelt, geht es für die ihr gegenübertretenden Individuen um zentrale Lebensbedingungen und nicht selten um die materielle Lebensgrundlage. Als in der Regel Rechtsunkundige verfügen sie meist weder über umfassende Kenntnisse in einem zudem hoch komplexen Rechtsgebiet noch über Erfahrung mit (gerichtlichen) Rechtsstreitigkeiten. Bereits daraus ergibt sich ein großes Informations-, Erfahrungs- und damit auch Machtgefälle zwischen den Beteiligten.

Notwendige Zugänglichkeit

Grundvoraussetzung für die Inanspruchnahme von Rechtsschutz ist dabei zunächst das Erkennen eines Rechtsproblems, also ein Mindestmaß an Rechtsbewusstsein. Man muss um seine Rechte wissen und darüber hinaus über die persönlichen sowie materiellen Ressourcen verfügen, diese auch durchzusetzen. Doch viele Menschen, die potenzielle Klägerinnen und Kläger vor den Sozialgerichten sind, verfügen nicht oder nicht ausreichend über diese Ressourcen. Das beschriebene Gefälle zwischen Bürger:in und Verwaltung wird damit umso größer. Aus diesen Gründen, und da es gerade um den Schutz sozialer Rechte geht, sind Rechtsuchende vor den Sozialgerichten besonders schutzwürdig.

Daher ist es notwendig, dass die Inanspruchnahme von Rechtsschutzmechanismen zur Sicherstellung sozialer Rechte nicht bereits aufgrund der Verfahrensgestaltung Barrieren aufweist, die einem effektiven Rechtsschutz von vornherein entgegenstehen. Vielmehr braucht es Mechanismen, die den Einzelnen unterstützen und fehlende Ressourcen zumindest teilweise kompensieren. Dem trägt das Verfahrensrecht der Sozialgerichtsbarkeit Rechnung.

So ist das Verfahren vor den Sozialgerichten für Leistungsberechtigte und Versicherte grundsätzlich kostenfrei. Weiterhin gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, die Sozialgerichte sind also nicht an den Vortrag der Beteiligten gebunden, sondern ermitteln den Sachverhalt von sich aus. Es besteht das Recht, sich in den ersten beiden Instanzen selbst zu vertreten oder z. B. durch Angehörige oder verbandlich vertreten zu lassen. Bei finanzieller Hilfebedürftigkeit und kursorisch festgestellter Erfolgsaussicht besteht zudem ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe, verbunden mit der Möglichkeit der Beiordnung einer Rechtsanwält:in. Neben diesen Rahmenbedingungen des Verfahrens gibt es weitere Besonderheiten wie das Recht von Kläger:innen auf gutachterliche Anhörung eines bestimmten Arztes.

Mobilisierung von Recht(en)

Doch Rechtsschutz setzt nicht erst vor Gericht ein. Er erfordert auch die dafür notwendige Mobilisierung von Recht(en) und eine Unterstützung beim Erkennen und Angehen von Rechtsproblemen (mit Rechtsmobilisierung im SGB II befasst sich eine aktuelle Studie von Ulrike A. C. Müller). Oftmals wissen Betroffene nicht, ob und wie sie gegen eine Verwaltungsentscheidung weiter vorgehen können, oder scheuen aus verschiedenen Gründen davor zurück.

Und nicht jede, die bereits ein erfolgloses Widerspruchsverfahren bestritten hat, verfügt über die notwendigen Ressourcen, auch den nächsten (zeitlich wesentlich längeren) Schritt vor Gericht zu gehen. 2020 dauerten 85 % aller durch ein Urteil erledigten Sozialgerichtsverfahren über 12 Monate (siehe hier, S. 24).

Dass das Verfahren kostenfrei ist und welche weiteren „klägerfreundlichen“ Vorkehrungen das Verfahren aufweist, ist vielen nicht einmal bekannt. Das zeigte auch das bisher einzige Gutachten zum Gebührenrecht im sozialgerichtlichen Verfahren von Bernard Braun, Petra Buhr, Armin Höland und Felix Welti (siehe hier).

Ein förmlicher Rechtsbehelf am Ende eines verwaltungssprachlich verfassten Bescheides ist insofern zwar ein wichtiger Schritt, reicht als Grundlage für zugänglichen Rechtsschutz jedoch nicht immer aus. Hier braucht es niedrigschwellige Beratungsangebote, die den Menschen dabei helfen, ihre Bedarfe in Rechtsansprüche zu übersetzen und auf ablehnende oder fehlerhafte Bescheide angemessen zu reagieren. Denn auch wenn nach wie vor viele Menschen vor den Sozialgerichten klagen, ist die Dunkelziffer derer, die dies trotz verwehrter Ansprüche nicht tun, wahrscheinlich sehr hoch.

Bewusstseinsbildung und Forschungsbedarf

So gibt es an der ein oder anderen Stelle noch Raum für Verbesserung. Dennoch ist und bleibt die Sozialgerichtsbarkeit eine wesentliche Institution unseres Sozialstaats und als solche wesentliche Grundlage des Rechtsstaats. Denn nur eine funktionierende und mit den notwendigen Ressourcen ausgestattete Sozialgerichtsbarkeit kann ihrer Rolle gerecht werden und zur Verwirklichung sozialer Rechte und sozialer Gerechtigkeit beitragen. Dafür braucht es auch ein verstärktes Bewusstsein darüber, welche Rolle die Sozialgerichtsbarkeit im Sozialstaatsgefüge innehat. Vertiefte Kenntnisse über ihre genauen Funktions- und Wirkungsweisen sind dabei ein wichtiges Fundament für Bewusstseinsbildung. Ein stärkerer Einbezug der Sozialgerichtsbarkeit in Wissenschaft und Forschung, insbesondere mit interdisziplinärem Blickwinkel, sollte daher vermehrt in den Fokus rücken. Einen  Beitrag dazu leistet der kürzlich erschienene Band „Sozialgerichtsbarkeit im Blick – interdisziplinäre Forschung in Bewegung“.

Alice Dillbahner, LL.M.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsgruppe Sozialgerichtsforschung an der Universität Kassel

Foto: Sonja Rode/Lichtfang.net