von Livia Hentschel | Okt. 2020
„Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, sollten Mindesteinkommensleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden.“
So heißt es im Grundsatz 14 der Europäischen Säule Sozialer Rechte (ESSR), auf die sich alle Staats- und Regierungschefs der EU, das Europäische Parlament und die EU-Kommission im Jahr 2017 geeinigt haben. Die Umsetzung der im Rahmen der ESSR festgelegten Grundsätze und Rechte ist eine gemeinsame Verpflichtung und Verantwortung der Organe der Europäischen Union, der Mitgliedstaaten, der Sozialpartner und anderer Interessenträger. Was aber genau ist mit Mindesteinkommensleistungen gemeint und wie könnte man diesen Grundsatz in Europa auch nachhaltig verwirklichen?
Die Grundsicherung in den EU-Mitgliedstaaten
Systeme für ein Mindesteinkommen gibt es mittlerweile in allen 27 europäischen Mitgliedstaaten. Damit ist keineswegs eine Art bedingungsloses Grundeinkommen gemeint und erst Recht nicht der Mindestlohn. Steuerfinanzierte Mindesteinkommensregelungen wirken dann, wenn Menschen in Notlagen geraten, die weder durch eigene oder familiäre Hilfe, noch durch vorgelagerte Sozialleistungen abgedeckt werden können. Sie sind also ein letztes soziales Auffangnetz. In Deutschland betrifft das die Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II bzw. »Hartz IV«), die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII, Viertes Kapitel) und für andere nicht erwerbsfähige Personen die Sozialhilfe (SGB XII, Drittes Kapitel) sowie für Asylbewerber die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).
Auch wenn mittlerweile alle EU-Mitgliedstaaten Elemente von Grundsicherungssystemen vorweisen, sind in der Ausgestaltung dieser Systeme europaweit starke Divergenzen zu beobachten. In Griechenland beispielsweise wurde erst im Jahr 2017 ein System der Grundsicherung eingeführt und Italien vollzog den Übergang von einem regionalen lückenhaften zu einem landesweiten System erst im Jahr 2019. Die Leistungen sind in den meisten Mitgliedstaaten zu niedrig und zudem schwer zugänglich, so dass kein effektiver Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung besteht. Die großen Unterschiede in der Ausgestaltung der Mindestsicherungs-Systeme kann man über die europäische MISSOC-Datenbank einsehen.
Diese Disparitäten sind in vielerlei Hinsicht problematisch. Noch immer leben in Europa viel zu viele Menschen in Armut. Die letzten veröffentlichten Zahlen von Eurostat bestätigen dies: Im Jahr 2018 waren mehr als 109,2 Millionen Personen in der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht 21,7 Prozent der europäischen Bevölkerung. Von den armutsgefährdeten 109,2 Millionen Menschen waren 65 Prozent arbeitslos. Damit ist die EU noch weit vom festgelegten Armutsbekämpfungs-Ziel der EU2020-Strategie entfernt. Bis 2020 sollten danach 20 Millionen Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung geholt werden (siehe auch hier).
Überdies werden Armut und soziale Ausgrenzung in Folge der Corona-Krise wieder ansteigen. Dabei sind benachteiligte Personengruppen besonders von der Krise und ihren Folgen betroffen und werden in existenzielle Notlagen gedrängt. Das führt nicht nur dazu, dass viele ärmere Menschen sich genötigt sehen, in andere EU-Länder aufzubrechen, in denen sie sich mehr Chancen versprechen, ein Leben in Würde führen zu können. Es fördert auch die wachsende Skepsis gegen Europa.
Die Unterausstattung der Grundsicherungssysteme hat auch negative Konsequenzen für die Krisenbekämpfung. Schließlich haben Grundsicherungssysteme die Funktion sog. „automatischen Stabilisatoren“: In einer Rezession stärken die staatlichen Mehrausgaben (Grundsicherungsleistungen) die Einkommen der privaten Haushalte und stabilisieren damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Solide Grundsicherungssysteme helfen also den Mitgliedstaaten, besser durch Wirtschaftskrisen zu kommen, wie es übrigens die Erfahrungen einiger Länder in der Krise von 2008/2009 bestätigen.
Mindeststandards statt Vereinheitlichung der Systeme
Wie also kann man auf EU-Ebene dafür sorgen, dass die Grundsicherungssysteme in jedem Land angemessen ausgestaltet sind? Das könnte man zum einen erreichen, indem die nationalen Systeme harmonisiert und einem neuen „europäischen“ System unterstellt werden. Da die nationalen Mindestsicherungs-Systeme allerdings historisch tief verwurzelt und unterschiedlich ausgestaltet sind, ist diese Lösung nicht besonders realistisch oder praktikabel.
Der DGB fordert stattdessen die Einführung europäischer sozialer Mindeststandards, die jeder Mitgliedstaat bei der Ausgestaltung seiner Systeme verbindlich einhalten muss. Die Funktion von Mindeststandards liegt darin, einen allgemeinen Standard innerhalb der Union sicherzustellen, der einerseits weniger leistungsfähige Staaten nicht überfordert, andererseits aber leistungsfähige Staaten nicht daran hindert, ein höheres Schutzniveau vorzusehen. Man setzt auf europäischer Ebene also gewisse „Qualitätskriterien“ für die sozialen Sicherungssysteme fest, die in keinem Land unterschritten werden dürfen.
Einheitliche Mindeststandards auf Grundlage von Art. 153 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erlauben es nicht nur, die historisch gewachsene unterschiedliche Ausgestaltung der Sozialsysteme zu bewahren, sondern auch, im Sinne einer sozialen Aufwärtskonvergenz ein einheitlich hohes Schutzniveau zu sichern.
Corona-Krise erhöht den Druck zur Vereinbarung angemessener Standards
Die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD hatten im März 2018 in ihrem Koalitionsvertrag unter der Hauptüberschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“ (auf Seite 7) vereinbart: „Wir wollen einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln. Wer konsequent gegen Lohndumping und soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren Ländern in Europa kämpft, sichert auch den Sozialstaat und die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland.“
Mit dem Antritt der deutschen Ratspräsidentschaft zum 1. Juli 2020 ist nun jedenfalls das politische Momentum gegeben, um wichtige Impulse zur Umsetzung der Forderung nach einem Europäischen Rahmen für die Grundsicherung zu setzen. Mitten in der Corona-Krise steigt auch der Druck aus Südeuropa: Im Mai legten die Regierungen Spaniens, Portugals und Italiens einen offenen Brief vor, in dem sie die Einführung angemessener Standards für die Grundsicherung fordern, um die durch Corona bedingten negativen Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger zu verringern und für zukünftige Krisen besser gewappnet zu sein.