von Stephan Rixen | 11.10.2023
Die Tafeln sind mittlerweile als Einrichtungen zur Versorgung mit Lebensmitteln für finanziell bedürftige Menschen kaum noch wegzudenken. Über 960 Tafeln in Deutschland sammeln überschüssige Lebensmittel im Handel und bei herstellenden Unternehmen und verteilen sie – meist gegen einen symbolischen Betrag – an arme Menschen. Ihre Arbeit ist freiwillig. Sie ergänzt die staatliche Hilfe. Einen Anspruch auf die ergänzenden Hilfen der Tafeln gibt es nicht. Im Folgenden wird dafür plädiert, die Kooperation zwischen den Tafeln und dem Sozialstaat auszubauen.
Wer sich wie der Autor dieser Zeilen noch an Kinofilme der frühen 1990er Jahren erinnern kann, wird den Filmtitel „Und täglich grüßt das Murmeltier“ kennen. Thema des Films (der im US-amerikanischen Original ganz anders heißt) ist, sehr vereinfacht, das Problem, wie aus Stillstand Veränderung wird. Der Film hat eine wenig überraschende Antwort parat: Es ist, wie könnte es anders sein, die Liebe, die zu Bewegung, Aufbruch und neuen Perspektiven führt.
Für die regelmäßig wiederkehrenden Themen der Sozialpolitik fällt die Antwort nicht ganz so einfach aus. Es ist wohl nicht die Liebe, eher, je nach weltanschaulichem Standpunkt, die „Nächstenliebe“, die als Antrieb für bestimmte sozialpolitische Forderungen wirkt. Aber leider ist Nächstenliebe, wenn es konkret wird, nur ein Schlagwort ohne operativ greifbaren Gehalt. Solidarität ist in einem pluralen Gemeinwesen ohnehin die passendere Vokabel. Aber was Solidarität genau meint, liegt ebenfalls sehr im Auge der Person, die das Wort mit einem bestimmten, meist stillschweigend eingebrachten Vorverständnis verwendet.
Ich muss gestehen, dass ich beim Thema „Tafeln“ spontan dachte: „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Soll heißen: Ein neues Thema ist das nicht, auch für mich nicht. Ich habe mich bereits 2008 mit den einschlägigen Rechtsproblemen in einem Beitrag für die Zeitschrift „Die Sozialgerichtsbarkeit“ („Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern: Niederschwellige existenzsichernde Hilfen im Fokus des SGB II“) erstmals befasst. Tobias Mushoffs Beitrag in diesem Thema des Monats (siehe hier) verdeutlicht, dass das geltende Recht, auch aufgrund klärender Hinweise des Bundesozialgerichts, vor einer Vereinnahmung der von Tafeln gewährten Lebensmittelzuwendungen in aller Regel schützen dürfte. Letztlich hängt aber, wie so häufig im Sozialrecht, einiges vom Einzelfall ab, was einen Rest Unbehagen zurücklässt. Die rechtlichen und praktischen Probleme sind eigentlich bekannt. Warum sollte es sich lohnen, erneut über Tafeln nachzudenken?
Bedenkliche Entwicklungen
Die tatsächlichen Entwicklungen stimmen nachdenklich, wie auch ein Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zu den Tafel-Nutzer:innen im ersten Halbjahr 2020 auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) deutlich macht. Er konstatiert:
- steigende Zahlen von Personen, die die Tafeln in Anspruch nehmen, wobei die Inflation eine erhebliche Rolle spielt;
- einen Zugangsstopp, mit dem zahlreiche Tafeln auf die verstärkte Nachfrage bei einem Rückgang der Lebensmittelspenden reagieren;
- 25 Prozent der Personen, die die Tafeln in Anspruch nehmen, sind Kinder;
- unter den Hilfesuchenden sind auffällig viele Alleinerziehende und Getrenntlebende;
- Menschen, die die Hilfe der Tafel in Anspruch nehmen, sind eher ernsthaft krank, der schlechte Gesundheitszustand geht oft mit einer Erwerbsminderung beziehungsweise Schwerbehinderung einher.
Hier versammeln sich also Menschen, die ohne die Tafeln nicht auf einem halbwegs erträglichen Niveau überleben könnten.
Anhebung des Existenzminimums notwendig
Nun scheint die naheliegende Antwort eine Anhebung des Niveaus des Existenzminimums zu sein. In der Tat: Sie ist ersichtlich nötig. Die Erhöhung des Bürgergelds zum 1. Januar 2024 um rund 12 Prozent ist darauf eine erste Antwort. Diese Antwort greift aber zu kurz. Tafeln sind vergleichsweise unbürokratische Anlaufstellen, die relativ zügig Unterstützung gewähren, insbesondere dann, wenn Betroffene ganz akut aktuell werdende Lebensmittelbedarfe decken müssen. Wer in einer Situation radikaler Geldknappheit lebt und redlich bemüht ist, mit dieser Knappheit vorausschauend umzugehen, kann realistisch betrachtet, immer wieder neu mit Bedarfen konfrontiert werden, deren Entstehung nur in Maßen planbar ist. Das gilt auch und gerade mit Blick auf die Kostensteigerungen im Lebensmittelbereich.
Für den Juli 2023 hat das Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung vom 8. August mitgeteilt: „Fast alle Nahrungsmittelgruppen waren weiterhin teurer als ein Jahr zuvor. Vor allem mussten die Verbraucherinnen und Verbraucher spürbar mehr für Zucker, Marmelade, Honig und andere Süßwaren (+ 18,9 %) bezahlen. Merklich teurer binnen Jahresfrist wurden auch Brot und Getreideerzeugnisse (+ 16,6 %), Gemüse (+ 15,7 %), sowie Fisch, Fischwaren und Meeresfrüchte (+ 14,1 %).“ Wer mit solchen relativ plötzlich relevant werdenden Kostensteigerungen bei gleichzeitig knappstem Budget fertig werden muss, dem ist mit dem Hinweis, er oder sie möge doch einen Antrag beim Jobcenter stellen, jedenfalls in der Akutsituation wenig geholfen.
Es sei denn, es gäbe einen unkomplizierten Mechanismus, der akut werdende Bedarfe zügig decken hilft, ohne dass aufwändige – für nicht wenige Menschen, die die Tafeln besuchen, faktisch mit enormen Hürden verbundene – Verwaltungsverfahren durchgeführt werden müssen. Ich sehe nicht, dass das realistisch ist.
Vorläufige Entscheidungen über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen nach § 41a SGB II oder § 44a SGB XII in allen Ehren, aber unter dem Aspekt der spezifischen Dringlichkeit, die mit sehr schnell zu stillendendem Hunger und Durst verbunden ist, kommt jedes Verwaltungsverfahren zu spät. Natürlich ist, wie erwähnt, eine zeitnahe Erhöhung der Regelbedarfe nötig, und was „zeitnah“ meint, kann bestimmt noch verbessert werden. Aber selbst das wird nicht für alle Menschen, die die Tafeln aufsuchen, eine Option sein, zumal sie auch von Ängsten (etwa der Sorge, Kinder oder andere Angehörige müssten finanziell für sie einstehen) davon abgehalten werden könnten, die nötigen Anträge zu stellen. Aufklärung (§ 13 SGB I) und Beratung (§ 14 SGB I) werden gegen Ängste wenig ausrichten, ganz abgesehen davon, dass die betroffenen Menschen überhaupt von den zuständigen Behörden erst einmal faktisch erreicht werden müssten. Was folgt daraus?
Tafeln in die Existenzsicherung einbinden
Es braucht eine Mischung aus ständig überprüften und zügiger angepassten (= erhöhten) Regelbedarfen (Geldleistungen) einerseits und ergänzenden bedarfssichernden Vorhalteleistungen (Sachleistungen) andererseits. Die Tafeln bzw. ihre Träger sollten daher, sofern sie dies wollen, dauerhaft in das Existenzsicherungsrecht eingebunden werden (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 SGB II; § 5 Abs. 3 bis Abs. 5 SGB XII). Das würde auch verdeutlichen, dass es um die staatlich zu gewährleistende Existenzsicherung geht, nicht um Mildtätigkeit, die nicht eingefordert werden kann. Die bisherige Konstruktion, dass nämlich die Tafeln eine Art Ausfallbürge des Staates sind, wenn der bei der effektiven Sicherung des Existenzminimums schwächelt, würde dann fortfallen. Die Tafeln wären der verlängerte Arm des Staates bei der Erfüllung seiner Aufgabe, das Existenzminimum zu gewährleisten.
Die Finanzierung der Tafeln müsste natürlich nach nachvollziehbaren Parametern erfolgen. Das heißt, es müsste zumindest näherungsweise nachvollziehbar werden, wie viele Personen aus welchen Rechtskreisen – SGB II (Bürgergeld), SGB XII (Sozialhilfe), SGB VI (Rente), Asylbewerberleistungsgesetz usw. – Leistungen der Tafeln voraussichtlich in Anspruch nehmen. Hier wäre – etwa auch im Austausch mit dem Dachverband „Tafel Deutschland“ – eine Verständigung über realistische, aus Vereinfachungsgründen pauschalierte Summen nötig. Sie müssten an die bisherigen (etwa nach Stadt und Land, Region und Bundesland differierenden) Erfahrungen der Tafeln anknüpfen, die Höhe der Geldleistungen insbesondere in SGB II und SGB XII beachten, absehbare Preissteigerungen sowie die wahrscheinliche Zunahme der Nachfrage berücksichtigen, aber auch, ob es allein mit Lebensmittelspenden getan oder ob der partielle Zukauf von Lebensmitteln geboten ist. Der freien Wohlfahrtspflege wäre es unbenommen, über das Niveau der Existenzgewährleistung hinaus eigene Mittel einzusetzen. Das wäre keine „Verstaatlichung“ der Tafeln, sondern eine Kooperation, wie sie im Sozialstaat nicht unüblich ist (siehe beispielhaft nur § 5 Abs. 2 SGB XII), wo die freie Wohlfahrtspflege als „Träger eigener sozialer Aufgaben“ (§ 5 Abs. 1 SGB XII) respektiert wird.
Zu bestimmen, wie das Ergänzungsverhältnis von erhöhten Regelbedarfen, flankierenden Sachleistungen bei den Tafeln und Eigenmitteln der Tafeln der Größenordnung nach aussieht, könnte eine Aufgabe des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge sein. Als Dachverband der Dachverbände, der die öffentliche Hand und die freie Wohlfahrtspflege zusammenbringt, verfügt er seit 1880 über herausragende Erfahrung, Sozialpolitik und ihre Finanzierung als zwei Seiten einer Medaille zu begreifen, also das Sozialpolitische nie ohne das Fiskalische zu denken, sondern so aufeinander zu beziehen, dass Aufgaben des Sozialstaats, die vor Ort erfüllt werden müssen, durch die Bezifferung des Aufwands (gegebenenfalls abgestützt auch durch Modellrechnungen) operativ handhabbar werden.
Tafeln sind ein Zeichen praktisch gelebter Humanität. Sie sichern das Humanitätsniveau unserer Gesellschaft. Tafeln sind zugleich Krisenzeichen des Sozialstaats, der seinem Auftrag, das Existenzminimum zu gewährleisten, nicht immer gerecht wird, vor allem nicht immer so, dass rasch genug alle Menschen erreicht werden, die Hilfe benötigen. Tafeln, die ihre Erfahrung und ihre Expertise förmlich – also durch ausdrückliche Kooperations- und Finanzierungsbeziehungen – in den Sozialstaat einbringen, helfen dem Sozialstaat auf die Sprünge. Er kann dadurch seine Aufgabe besser erfüllen, nämlich für Solidarität zu sorgen, die Menschen in schwierigen Lebenslagen nicht allein lässt. Stärker in den Sozialstaat integrierte Tafeln wären eine markante Veränderung im Sinne der Betroffenen. Mit dem Stillstand der ständig grüßenden Murmeltiere, von denen es auch in der Sozialpolitik zu viele gibt, wäre es erst einmal vorbei.