von Bertold Brücher | 01.08.2023
Mit dem geplanten „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“ möchte Bundesjustizminister Marco Buschmann den Einsatz dieser Techniken fördern. Er wendet sich damit an die Zivil-, Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit.
Schon lange Zeit sind einzelne vom Primat der Präsenzgerichtsverhandlung abweichende Gestaltungen möglich. Bereits seit 2002 können Gerichte in zivilrechtlichen Verfahren mündliche Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung dergestalt durchführen, dass den Beteiligten gestattet werden kann, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten( § 128a Zivilprozessordnung – ZPO). Seit 2013 gilt dies auch für die Finanzgerichtsbarkeit (§ 91a Finanzgerichtsordnung – FGO), die Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 102a Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) und – hier von besonderem Interesse – für die Sozialgerichtsbarkeit (§ 110a Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die „Pandemie-Zeit“
Während der COVID-19-Pandemie rückten aus Infektionsschutzgründen diese Vorschriften stärker in den Fokus der (Fach-)Öffentlichkeit. Die Sozialgerichte konnten, wenn auch nur in der Zeit vom 29. Mai 2020 bis zum 31. Dezember 2020, „einem ehrenamtlichen Richter bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an der mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilzunehmen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen“ (Näheres dazu siehe hier).
Allerdings kollidierten mögliche Wünsche mit den technischen Ausstattungen der Gerichte, da natürlich die notwendige Technik „nicht auf Knopfdruck“ erhältlich und installierbar war. Zudem behalfen sich die Gerichte oftmals mit anderen Mitteln, um weitestgehenden Schutz vor Infektionen in dann weiterhin in Präsenz abgehaltenen Verhandlungen zu gewährleisten (etwa durch größere Sitzungs- und Beratungsräume, Trennscheiben etc.).
Ampelkoalition möchte Digitalisierungsschub – auch in der Gerichtsverhandlung
Die amtierende Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag („Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“) die Digitalisierung zu einem Schwerpunkt ihres Regierungshandelns gemacht. Bezeichnend hierfür ist, dass das Substantiv „Digitalisierung“ im Koalitionsvertrag 63 Mal vorkommt und der Begriff „digital“ in Form des Adjektivs oder Verbs weitere 164 Mal genannt wird. So ist dieses Vorhaben auch für die Digitalisierung im gerichtlichen Verfahren vorgesehen. Im Koalitionsvertrag heißt es auf Seite 84:
„Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können.“
Um dieses Vorhaben umzusetzen, wurde das laufende Gesetzgebungsverfahren eingeleitet.
Die Gesetzesinitiative
Das Grundanliegen im Referentenentwurf vom Dezember 2022, den Einsatz von Videokonferenztechnik in Zivilverfahren sowie in den Fachgerichtsbarkeiten zu fördern, wird von Fachverbänden dem Grunde nach anerkannt und befürwortet. Gleichwohl wurde an vielfältiger Kritik nicht gespart: die Vielfalt der Einwände und Anregungen in den Stellungnahmen (siehe hier) zeigt die breite Palette unterschiedlicher Ansätze und damit Forderungen, die der jeweiligen Verbands-Perspektive geschuldet sind.
Ende Mai 2023 hat die Bundesregierung ihren Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vorgelegt, in dem Aspekte aus den Stellungnahmen aufgenommen worden und somit durchaus Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf zu verzeichnen sind.
Regelungen zur Sozialgerichtsbarkeit
Bezogen auf die Sozialgerichtsbarkeit ist festzuhalten: Anders als in den allgemeinen Prozessregelungen im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), der ZPO sowie fachgerichtlich im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) sind schon durch die Regelung des § 110a SGG ausdifferenzierte Vorgaben für die Durchführung „einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort“, die „zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen“ wird, vorhanden.
Gleichwohl gibt es Veränderungsvorschläge: So soll es nach dem Regierungsentwurf wie schon dem Referentenentwurf so sein, dass auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten (allerdings: dessen) Teilnahme per Bild und Ton gestattet werden kann und nicht nur aufgrund eines übereinstimmenden Antrags aller Beteiligten. Dagegen ist einzuwenden, dass grundsätzlich gelten sollte, dass Videoverhandlungen die Ausnahme bleiben müssen – nicht nur in der Sozialgerichtsbarkeit. Der Grundsatz des fairen Verfahrens kann nicht eingehalten werden, wenn die Parteien über qualitativ sehr unterschiedliche technische Mittel und Kompetenzen verfügen und daher keine „Waffengleichheit“ für die Teilnahme an der Verhandlung besteht. Zudem ist für die Verhandlung und insbesondere die Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung der Grundsatz der Unmittelbarkeit in der mündlichen Verhandlung in Präsenz von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung der Aussagen und des Sachverhaltes.
Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass anders als in der Zivilprozessordnung hinsichtlich der Videoverhandlungen in der Sozialgerichtsbarkeit weiterhin das Gericht und nicht allein die oder der Vorsitzende über diese Angelegenheiten entscheiden. Dass die Entscheidung im Regelfall vor der mündlichen Verhandlung und damit ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 2, § 33 Abs. 1 Satz 2, § 40 Satz 1 SGG) – als prozessvorbereitende Handlung – erfolgt, ist sach- und verfahrenslogischen Abläufen geschuldet und von daher hinzunehmen.
Abändernd gegenüber dem Referentenentwurf schlägt der Gesetzesentwurf vor, dass – um einen Gleichklang zwischen ArbGG und SGG durch wortidentische Formulierungen zu finden (§ 61 Abs. 2 Satz 2 SGG-E und § 9 Abs. 2 ArbGG-E) – im SGG-E nur noch der Ausschluss der Beratung und Abstimmung aller zur Entscheidung berufener Richter*innen per Bild- und Tonübertragung (§ 193 Abs. 1 GVG-E) „für die erstmalige gemeinsame Beratung und Abstimmung mit den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung“, also nicht mehr generell für alle Verhandlungen gelten soll.
Dies ist unbefriedigend und verhindert die Beratung mit „allen Sinnen“, wenn auch einzuräumen ist, dass die Wahrnehmung feiner Nuancen und Zwischentöne gerade in der mündlichen Verhandlung jenen Erkenntnismehrwert bringen kann, der in Terminen ohne mündliche Verhandlung – wegen Ausbleibens der Parteien und Vertretungen – nicht generiert werden kann. Insofern mag für diese Verhandlungen ohne mündliche Verhandlung, in denen es in der Regel nicht um Sachverhaltsfeststellungen, sondern um Austausch von Rechtsansichten geht, noch hinnehmbar sein. Zu verstehen ist aber nicht, aus welchen Gründen diese Einschränkung gegenüber dem Referentenentwurf vorgenommen werden soll.