Erweiterter Gewaltbegriff im SGB XIV:
Gewalttat ohne tätliche Gewalt

Von Sabine Knickrehm | 11. Januar 2024

Das SGB XIV hat den Gewaltbegriff im Sozialen Entschädigungsrecht erweitert:  Auch ein nichttätlicher Angriff auf eine Person („psychische Gewalttat“) kann unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Entschädigung auslösen. Welche Tatbestände betrifft das?

Nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) konnte nur eine Gewalttat als schädigendes Ereignis anerkannt werden, wenn die Tat mit einem tätlichen Angriff einherging. Die Vorschrift lautete: „Wer […] infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person […] eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes.“

Das Bundessozialgericht (BSG) sah sich nicht in der Lage, über diesen Wortlaut hinauszugehen. Zuletzt 2020 hat der 9. Senat des BSG zusammenfassend ausgeführt, ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG verlange ein körperliches Einwirken auf einen anderen. Auch wenn dieses nicht unbedingt ein aggressives Verhalten voraussetze, so müsse doch bei dem Angriff eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestanden haben (Urteil v. 24. September 2020 – Az.: B 9 V 3/18 R).

Dies galt nach Auffassung des Senats auch für den Fall einer Bedrohung mit einer ungeladenen, täuschend echt aussehenden Schreckschusspistole bei einem Banküberfall (Urteil v. 16. Dezember 2014 – Az.: B 9 V 1/13 R).

Allerdings hatte sich zunehmend mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine mit psychischen Mitteln begangene Tat eine Gewalttat sein und eine gesundheitliche Schädigung beim Opfer auslösen könne. Besonders deutlich wurde dies bei sexuellem Missbrauch ohne Tätlichkeit und dem Stalking. In anderen Rechtsgebieten war dieser Erkenntnis schon lange Rechnung getragen worden. In der Entwurfsbegründung zum Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts (BT-Drs. 19/13824, S. 176) wird insbesondere auf die Aufnahme der Nachstellung als Straftatbestand (§ 238 Strafgesetzbuch – StGB) hingewiesen. Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz definiere in seinem § 3 Abs. 3 die „Belästigung“ als Sonderform der Benachteiligung. Zudem – so die Gesetzesbegründung – verlange das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbul-Konvention v. 11. Mai 2011, BGBl. 2017 II S. 1027) umfassende Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt. Das Übereinkommen fände auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen Anwendung (Artikel 2 Abs. 1 des Übereinkommens), somit auch auf psychische Gewalt. Somit lag es nahe, mit der Neuordnung des Sozialen Entschädigungsrechts auch den Gewaltbegriff im SGB XIV auf den „nichttätlichen“ Angriff auf eine Person zu erweitern. Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XIV kann eine gesundheitliche Schädigung auch erlitten sein durch „ein sonstiges vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat).“

Eingrenzung der psychischen Gewalt

Allerdings erkannten die Entwurfsgeber sogleich die mit dieser gesetzlichen Definition einhergehende Problematik. Zwar sollte der „Uferlosigkeit“ des neuen Gewaltbegriffs schon im Wortlaut der Vorschrift durch die Reduzierung auf „schwerwiegendes Verhalten“ begegnet werden. Allerdings stellte sich hieran anschließend sogleich die weitere Frage, was darunter zu verstehen sein sollte. Die Entwurfsgeber haben sich entschieden, die Bestimmung dazu nicht von vornherein der Rechtsprechung zu überlassen – durch Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Sie haben in § 13 Abs. 2 SGB XIV den Versuch unternommen, das „schwerwiegende Verhalten“ durch Benennung von Beispielen einzuhegen. Es wird zur inhaltlichen Ausfüllung verwiesen auf die Tatbestände

Da aber damit nicht alle denkbaren Fallkonstellationen abgedeckt sein werden, folgt sodann eine „Öffnungsklausel“. Weitere Begehensformen kommen als schädigende Ereignisse in Betracht, wenn sie von mindestens vergleichbarer Schwere sind.

Wie hilfreich diese Aufzählung von Straftatbeständen in der Praxis sein wird, muss sich zeigen. Ein Maßstab für die Vergleichbarkeit zu finden, bleibt schwierig. Denn die benannten Straftatbestände sind im Hinblick auf die Höhe der Strafandrohung und die Begehungsform sehr unterschiedlich ausgestaltet. Für das Auffinden eines Vergleichsmaßstabs ist es mithin erforderlich, die benannten Tatbestände und ihre Strafbarkeitsvoraussetzungen genau zu untersuchen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Zumindest wird durch den ausdrücklichen Hinweis auf Abs. 2 des § 238 StGB ersichtlich, dass das Stalking nur dann als psychische Gewalttat zu werten ist, wenn der Täter das Opfer, einen Angehörigen des Opfers oder eine andere dem Opfer nahestehende Person durch die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.

Tatbestände, die einer Gewalttat gleichstehen

Die auf die vorbeschriebene Art allgemein gefassten „schädigenden Ereignisse“ sind jedoch nicht die einzige „Neuerung“ im Hinblick auf dieses erste Tatbestandsmerkmal des Entschädigungsanspruchs (vgl. zu den Tatbestandsmerkmalen den Beitrag: „Schnelle Hilfen und erleichterte Verfahren bei psychischen Schäden“) geblieben. Das SGB XIV normiert in § 14 zahlreiche Gleichstellungstatbestände.

Altbekannt aus dem Opferentschädigungsgesetz sind insoweit die vorsätzliche Beibringung von Gift, das Fehlgehen der Gewalttat, so dass sie eine andere Person trifft als die Person, gegen die sie gerichtet war, ein Angriff in der irrtümlichen Annahme des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes und die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.

Erhebliche Vernachlässigung von Kindern

Neu als schädigendes Ereignis aufgenommen worden ist die erhebliche Vernachlässigung von Kindern (§ 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV). Dieser Tatbestand geht über den bisherigen der tätlichen Gewalt gegen Kinder, etwa durch Körperverletzung, und die einzige von der Rechtsprechung anerkannte Ausnahme von der Tätlichkeit beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger hinaus (vgl. BSG Urteil v. 18. Oktober 1995 – Az.: 9 RVg 7/93 und zuletzt BSG Urteil v. 17. April 2013 – Az.: B 9 V 1/12 R, Rn. 28: „Auch der ‚gewaltlose‘ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs. 1 OEG sein).

Mit der „erheblichen Vernachlässigung“ sind nach der Entwurfsbegründung des SGB XIV Fälle gemeint, in denen die Sorgeberechtigten einem Kind keine unmittelbare körperliche Gewalt antun, sie jedoch nicht für sein körperliches und psychisches Wohl sorgen, es sich selbst überlassen, so dass das Kind erheblichen körperlichen oder psychischen Schaden nimmt. Erfasst seien hier laut der Entwurfsbegründung sowohl körperliche Vernachlässigungen – wie unzureichende Ernährung und Verhinderung medizinisch notwendiger Hilfe – ebenso wie psychische Vernachlässigungen, sofern sie als dauerhaftes, ausgeprägtes Fehlverhalten der Sorgeberechtigten in Erscheinung treten. Die Vernachlässigung müsse erheblich und als eindeutig falsches Erziehungsverhalten zu werten sein. So genüge etwa das „Alleinelassen“ des Kindes für kurze Zeit nicht, um eine erhebliche Vernachlässigung zu begründen.

Dieser Tatbestand birgt vielfältige Rechtsprobleme und solche tatsächlicher Art, die hier aus Platzgründen nur „angetippt“ werden können (ausführlich dazu Olaf Rademacker, in Lehr- und Praxiskommentar XIV, § 14 Rn. 25 ff.)

So verlangt die Vernachlässigung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit. Es handelt sich um eine Schädigung durch Unterlassen. Auch wirft der Tatbestand Abgrenzungsfragen zur Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) auf. Ebenso dürfte die Beweisführung zur Feststellung der Vernachlässigung mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, bei denen zumindest in Frage zu stellen ist, ob die Beweiserleichterungsregelungen des SGB XIV (s. Beitrag „Schnelle Hilfen und erleichterte Verfahren bei psychischen Schäden“) im familiären Kontext wirklich hilfreich sind. Zudem muss das Wohl der Kinder mitbedacht werden, gerade wenn es darum geht, Ansprüche aufgrund eines Fehlverhaltens etwa der Eltern geltend zu machen und durchzusetzen.

Herstellung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung von Kinderpornografie

Ebenfalls neu als schädigendes Ereignis hat unter § 14 Abs. 1 Nr. 6 SGB XIV die Herstellung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung von Kinderpornografie nach § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 und 4 StGB.

Eingang in das Soziale Entschädigungsrecht gefunden. Nach der Idee der Entwurfsgeber soll mit dieser Regelung eine Lücke im Bereich der Kinderpornografie geschlossen werden. Es gehe darum, über die Folgen der strafbaren Vornahme sexueller Handlungen hinaus, die von § 13 Abs. 1 Nr. 1 SGB XIV erfasst würden, weitere Schädigungen durch Handlungen im Zusammenhang mit Kinderpornografie zu entschädigen. Denn Kinder und Jugendliche könnten durch die Herstellung, öffentliche Zugänglichmachung etc. von Kinderpornografie schwerste Schäden erleiden, auch wenn diese Handlungen nicht den Tatbestand der Gewalttat i. S. d. § 13 SGB XIV erfüllten.

Schockschaden

Die letzte Gleichstellung des § 14 Abs. 2 SGB XIV ist normativ neu, jedoch längst Rechtspraxis. Sie geht zurück auf eine Rechtsprechung des BSG, das erkannt hatte, dass auch ein Schock eine entschädigungsfähige Gesundheitsstörung bzw. Schädigungsfolge auslösen könne. Wörtlich heißt es in der Entscheidung vom 12. Juni 2003 (Az.: B 9 VG 1/02 R): „Eine zu einem Schockschaden führende Schädigung iS des OEG liegt vor, wenn das belastende Ereignis eine – uU zunächst weitgehend symptomlose seelische Reaktion des Sekundäropfers (also der Person, die von der Gewalttat Kenntnis erhält, S. K.) von einigem Gewicht bewirkt.“

Allerdings hat schon der 9. Senat des BSG versucht, den Personenkreis der potenziellen Sekundäropfer einzugrenzen. Er hat zum maßgeblichen Kriterium einen engen Zusammenhang zwischen der das Primäropfer betreffenden Gewalttat und den psychischen Auswirkungen beim Sekundäropfer gemacht. Bestimmt werde dieser Zusammenhang durch eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Ereignis und/oder die personale Nähe zum Primäropfer.

Dies haben die Entwurfsgeber aufgegriffen und in § 14 Abs. 2 SGB XIV formuliert: „Den Opfern von Gewalttaten stehen Personen gleich, die in Folge des Miterlebens der Tat oder des Auffindens des Opfers eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben. Den Opfern von Gewalttaten stehen weiterhin Personen gleich, die durch die Überbringung der Nachricht vom Tode oder der schwerwiegenden Verletzung des Opfers eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, wenn zwischen diesen Personen und dem Opfer im Sinne des § 13 oder des (Anm. § 14) Abs. 1 (SGB XIV) eine enge emotionale Beziehung besteht. Eine solche Beziehung besteht in der Regel mit Angehörigen und Nahestehenden.“

Erfasst werden damit Personen, die die Tat unmittelbar miterlebt oder das Opfer aufgefunden haben. Hinzu kommen die Fälle, in denen die gesundheitliche Schädigung dadurch eintritt, dass die geschädigte Person eine Gewalttat oder ihr gleichgestellte Tat miterlebt, ein Opfer im Sinne des § 13 oder § 14 Abs. 1 SGB XIV (Primäropfer) aufgefunden hat oder ihr die Nachricht vom Tode oder der Verletzung eines Primäropfers überbracht wurde. Diese sogenannten Sekundäropfer haben die gesundheitliche Schädigung also nicht durch eine unmittelbar gegen sie gerichtete Gewalttat erlitten und werden folglich nicht von § 13 oder von § 14 Abs. 1 SGB XIV erfasst.

Sabine Knickrehm

Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht