Von Sabine Knickrehm | 11. Januar 2024
Kann eine psychische Erkrankung durch ein schädigendes Ereignis hervorgerufen werden und als Schädigungsfolge anerkannt werden? Mit dieser Frage haben sich Rechtsprechung und Literatur in den vergangenen Jahrzehnten eher schwergetan. Das neue SGB XIV schafft nun mehr Klarheit und bessere Hilfen für Betroffene.
Psychische Erkrankungen wurden lange weitgehend als anlagebedingt und damit nicht entschädigungsfähig bewertet. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden bei psychisch traumatisierten Soldaten überwiegend somatoforme und psychosomatische Krankheitsbilder angenommen. Erst mit Aufnahme der „seelischen Gesundheitsstörungen“ durch die Änderung des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Jahr 2007 wurden diese entschädigungsfähig.
Im Zuge der Änderung der Diagnose-Klassifikationssysteme DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und des ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) im Hinblick auf die Folgen psychischer Traumen in Gestalt lang anhaltender psychischer Belastungen fanden sie auch Aufnahme in die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz – heute „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ als Anlage zu § 2 Versorgungs-Medizin-Verordnung auf Grundlage von § 5 Abs. 2 SGB XIV.
Abgesehen von den damit einhergehenden versorgungsmedizinischen Fragen mangelte es aber auch im Normgefüge des BVG an Rechtsgrundlagen, die den Besonderheiten der Beweisführung (s. unten unter 1.) und dem Verwaltungsverfahren in diesen Fällen gerecht werden konnten (siehe unten unter 3.). Auch der zur Verfügung stehende Leistungskatalog zur Behandlung psychischer Gesundheitsfolgen wurde als nicht hinreichend erachtet (s. unter 2.). Hier hat das SGB XIV angesetzt. Es sieht Regelungen für alle drei benannten Bereiche vor.
1. Regeln zur Beweisführung
Zwar hat das SGB XIV nicht von den Kausalitätsvoraussetzungen Abschied genommen. Auch nach dem SGB XIV ist der Entschädigungsanspruch und damit ein Rechtsanspruch auf Leistungen nach dem SGB XIV immer davon abhängig, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen der Gesundheitsstörung (Primärschädigung) und dem schädigenden Ereignis vorhanden ist sowie die anerkannte Schädigungsfolge ursächlich auf diese Gesundheitsstörung zurückgeht. Diese Voraussetzung einer doppelten Kausalität (haftungsbegründende und haftungsausfüllende) gehört zu den Grundsätzen des Sozialen Entschädigungsrechts, ähnlich dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung.
Nachweis des schädigenden Ereignisses, der Gesundheitsstörung und Schädigungsfolge
Der damit fünfgliedrige Tatbestand verlangt im Hinblick auf das schädigende Ereignis, die Gesundheitsstörung und die Schädigungsfolge einen Nachweis (Vollbeweis). Es muss für ihr Vorliegen eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit bestehen. Alle Umstände des Falles müssen nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sein, die volle richterliche Überzeugung zu begründen.
Eine absolute Gewissheit wird allerdings nicht verlangt. Auch dem Vollbeweis können mithin gewisse Zweifel innewohnen. Die beiden diese drei Glieder verbindenden Kausalbögen müssen mit Wahrscheinlichkeit gegeben sein. § 4 Abs. 4 SGB XIV definiert insoweit, dass sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben muss, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches“ Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt. Die versorgungsrechtliche Kausalitätstheorie spricht hier von dem Erfordernis der wesentlichen Bedingung für den Eintritt des Erfolgs. Als wesentliche Bedingung wird auch angesehen, eine für den Erfolg mindestens annähernd gleichwertige Mitursache neben anderen Umständen.
Vermutungstatbestand der „bestärkten Wahrscheinlichkeit“
Nun ist unschwer erkennbar, dass insbesondere bei Krankheiten, die auf seelischen Einwirkungen beruhen – anders als bei (körperlichen) Verletzungsfolgen – regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten bestehen, den rechtlich nach den jeweiligen Entschädigungsgesetzen entscheidenden Vorgang – also das die Entschädigungspflicht auslösende Ereignis – als die wesentliche medizinische Ursache festzustellen. Um die Erbringung von Entschädigungsleistungen auf Grundlage von psychischen Gesundheitsstörungen und Schädigungsfolgen in dem Kausalitätsgefüge des Sozialen Entschädigungsrechts zu erleichtern, ist mit § 4 Abs. 5 SGB XIV ein widerleglicher Vermutungstatbestand im Sinne einer „bestärkten Wahrscheinlichkeit“ geschaffen worden. Die Regelung geht auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 2003 (vom 12. Juni 2003 – Az.: B 9 VG 1/02 R) zurück, aus der der Gesetzgeber die Formulierung übernommen hat. Denn er nimmt an, dass insoweit meistens die Unsicherheit verbliebe, ob nicht andere wesentlich mitwirkende Bedingungen, etwa eine bereits vorbestehende Anlage von Krankheitswert, für die Ausbildung einer seelischen Dauererkrankung (des seelischen Dauerschadens) vorhanden sind – es im Regelfall also zahlreiche Möglichkeiten des Ursachenzusammenhanges geben könne. Wenn jedoch ein Vorgang nach den medizinischen Erkenntnissen – etwa fußend auf dem Erfahrungswissen der Ärzte – in signifikant erhöhtem Maße, so die Entwurfsbegründung zum SGB XIV, geeignet sei, eine bestimmte Erkrankung hervorzurufen, liege die Wahrscheinlichkeit nahe, dass sich bei einem hiervon Betroffenen im Einzelfall die Gefahr einer Schädigung auch tatsächlich verwirklicht habe. Die Möglichkeit verdichte sich dann zur Wahrscheinlichkeit.
Beweiserleichterung – glaubhafte Angaben
Nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs, sondern auch der – hier erforderliche – Nachweis des schädigenden Ereignisses (s. oben) kann jedoch mit Beweisführungsproblemen behaftet sein. Hier ist nur daran zu denken, dass es möglicherweise keinen Zeugen für die Gewalttat gibt oder Beweismittel durch Zeitablauf untergegangen sind. Auch hierfür sieht das SGB XIV eine Beweiserleichterungsregel vor. Diese ist zwar nicht ganz neu. Bereits das BVG kannte in Verbindung mit dem (inzwischen aufgehobenen) Kriegsopferwaltungsverfahrensgesetz (KOVVfG – § 15) eine solche Regel. Diese war auch notwendig. Denn häufig waren Beweismittel in den Kriegswirren untergegangen und/oder Zeugen nicht mehr aufzufinden. Auch ist diese Regelung des § 15 KOVVfG auf die zu beweisenden Ereignisse im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes durch die höchstrichterliche Rechtsprechung übertragen worden.
Gleichwohl blieben Rechtsfragen offen und es wollten nicht alle Versorgungsverwaltungen und Gerichte den dafür vorgesehenen Weg immer bis zum Ende mitgehen. § 117 SGB XIV schafft hier nun Klarheit. Abgestellt wird in diesen Fällen auf die Angaben der betroffenen Person, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Glaubhaft erscheint eine Tatsache, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (§ 117 Abs. 2 SGB XIV).
2. Leistungen bei psychischen Traumen
Neben der Schwierigkeit der Beweisführung bei psychischen Folgen eines schädigenden Ereignisses gilt es immer auch danach zu fragen, wie den hiervon betroffenen Menschen geholfen werden kann. § 1 Abs. 1 SGB XIV verspricht die Verpflichtung zur Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen eines schädigenden Ereignisses. Schon lange gibt es die Erkenntnis, dass gerade bei psychischen Traumen eine schnelle Hilfe und Bearbeitung notwendig ist, um eine Verfestigung und/oder Chronifizierung des Leidens zu verhindern oder zumindest die Bedingungen für ein Leben mit diesen Traumen zu erleichtern. Vor der Formulierung derartiger und auch so im Gesetz benannter „Schneller Hilfen“ hatte das Bundessozialministerium (BMAS) eine Studie in Auftrag gegeben, um die obige Erkenntnis aus der Alltagstheorie herauszuheben und medizinisch-wissenschaftlich zu untermauern (TRAVESI – Verbesserter Zugang zu Traumaambulanzen durch aktiven Einbezug der Versorgungsbehörden sowie primärer Anlaufstellen und Evaluation der Effektivität von Sofortinterventionen).
Auf deren Ergebnisse bauen die §§ 31 ff. SGB XIV auf. Danach werden u.a. Leistungen in Traumaambulanzen erbracht, in Gestalt psychotherapeutischer Frühintervention. Voraussetzung für die Frühintervention ist, dass die erste Sitzung in der Traumaambulanz innerhalb von zwölf Monaten nach dem schädigenden Ereignis oder nach deren Kenntnisnahme erfolgt. Dies gilt für die Geschädigten selbst, aber auch für Angehörige, Hinterbliebene und Nahestehende, wenn die erste Sitzung innerhalb von zwölf Monaten durchgeführt wird, nachdem sie von dem schädigenden Ereignis Kenntnis erlangt haben (§ 32 SGB XIV).
Im Grundsatz umfasst dieser Anspruch bis zu 15 Sitzungen, bei Kindern und Jugendlichen 18. Die ersten fünf bzw. acht Sitzungen dienen der Abklärung der psychotherapeutischen Behandlungsbedürftigkeit, der Durchführung der Diagnostik und der Bestimmung der erforderlichen Akutmaßnahmen. Eine Verlängerung der Behandlung um bis zu zehn weiteren Stunden ist möglich (§ 34 SGB XIV).
Keine Frühintervention, aber psychotherapeutische Intervention wird als Leistung für Geschädigte, Angehörige, Hinterbliebene und Nahestehende vorgehalten, wenn ein mehr als zwölf Monate zurückliegendes schädigendes Ereignis zu einer akuten psychischen Belastung geführt hat und die erste Sitzung innerhalb von zwölf Monaten nach Auftreten der akuten Belastung erfolgt. Wenn nach einer dieser beiden Formen der Intervention weiterer Bedarf nach psychotherapeutischer Behandlung besteht, verweist der Träger der Sozialen Entschädigung allerdings auf weitere psychotherapeutische Angebote (§ 35 SGB XIV).
Hier müssen sich Betroffene dann einreihen in die Schlange der auf geeignete Therapieplätze wartenden Menschen. Nur am Rande sei erwähnt, dass zu den Leistungen der „Schnelle Hilfe“ in der Traumaambulanz auch die Übernahme der Fahr- (§ 36 SGB XIV) und Dolmetscher-/Übersetzer-Kosten (§ 12 SGB XIV) gehören.
3. Verwaltungsverfahren
Im Grundsatz hat sich an dem eingeübten Verwaltungsverfahren des bisherigen Sozialen Entschädigungsrechts nichts geändert. Aber die Kritik am langwierigen und schwergängigen Weg bis zur Verwaltungsentscheidung (s. Beitrag „Aus alt mach‘ neu“) ist zumindest zum Teil aufgenommen worden. Die soeben beschriebenen „Schnellen Hilfen“ wären keine, wenn sie kein Pendant auf Verfahrensebene fänden. Für Beschleunigung sollen die Regeln zum „Erleichterten Verfahren“ nach §§ 115, 116 SGB XIV sorgen. Dieses ist das Regelverfahren bei den Leistungen nach den §§ 31 ff. SGB XIV.
Die „Erleichterung“ besteht darin – hier sei an die Ausführungen unter 1.) erinnert –, dass der Leistungsanspruch bejaht wird, wenn eine summarische Prüfung ergibt, dass die antragstellende Person nach dem Recht der Sozialen Entschädigung anspruchsberechtigt sein kann. Dabei ist der im Antrag dargelegte Sachverhalt als wahr zu unterstellen, wenn nicht dessen Unrichtigkeit offensichtlich ist. Hier bewegt sich die Verwaltung also jenseits von Nachweis, Wahrscheinlichkeit oder Glaubhaftmachung.
Allerdings wird dieses erleichterte Verfahren in die eingangs dargelegten Grundsätze sozusagen eingepasst. Denn im Erleichterten Verfahren wird weder eine Feststellung über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des von der antragstellenden Person vorgetragenen Sachverhaltes noch über das Bestehen oder Nichtbestehen weiterer, über die „Schnellen Hilfen“ hinausgehender Ansprüche getroffen (§ 115 Abs. 3 SGB XIV).
Diese Prüfung schließt sich erst danach an. Ergibt diese, dass keine Leistungsansprüche der Sozialen Entschädigung bestehen, wird der Antrag abgelehnt, ohne dass Leistungen für die Vergangenheit zu erstatten wären.
Hinzuweisen bleibt bei diesem Kurzüberblick noch, dass Kosten für die ersten beiden Sitzungen in der Traumaambulanz auch dann von der Verwaltung getragen werden, wenn Ansprüche nach SGB XIV nicht bestehen, auch nicht im Erleichterten Verfahren nach § 115 SGB XIV.