Durchsetzung des Gleichstellungsrechts

von Antonia Seeland | 12.03.2023

Haben Menschen mit Behinderungen eine Diskriminierung erfahren, ist entscheidend, welche Möglichkeiten sie haben, um ihre Rechte auch durchzusetzen, sodass ihnen z. B. Bescheide in einer wahrnehmbaren Form zugehen. Deshalb ist danach zu fragen, wie effektiv die Rechtsschutzmöglichkeiten tatsächlich sind und wo weiterhin Schwierigkeiten bestehen.

1. Empirische Erkenntnisse

Abbildung 1: Zustimmung zu vorformulierten zum Behindertengleichstellungsrecht (BGR) von Menschen mit Behinderungen (MmB), Schwerbehindertenvertretungen (SVB), Behörden-Mitarbeitenden und Rechtsschutzvertreter:innen (RSV)

Abbildung 1: Zustimmung zu vorformulierten Aussagen zum Behindertengleichstellungsrecht (BGR) von Menschen mit Behinderungen (MmB), behördlichen Schwerbehindertenvertretungen (SVB), Behörden-Mitarbeitenden und Rechtsschutzvertreter:innen (RSV)
Quelle: Befragung von Menschen mit Behinderungen (MmB), Schwerbehindertenvertretungen (SBV), Mitarbeitenden in Behörden und Rechtsschutzvertretungen (RSV) zur Evaluation des BGG (ISG 2022)

Laut der Befragung im Rahmen der Evaluation des novellierten Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG) wurde das BGG in wesentlich geringerem Umfang (13 %) in Rechtsschutzverfahren als Argumentationsgrundlage genutzt als z. B. das SGB IX (97 %) oder Art. 3 Grundgesetz (41 %).

Dass dem BGG in Gerichtsverfahren noch nicht die Bedeutung zukommt, die es grundsätzlich für das Gleichstellungsrecht hat, zeigt auch die seltene Bezugnahme in der Rechtsprechung. Eigene Rechte geltend zu machen bedarf nicht nur gewisser Rechtskenntnisse, sondern auch sozialer und finanzieller Ressourcen. Von Benachteiligungen betroffene Menschen verfügen hierüber oft nicht. Menschen mit Behinderungen rufen so nur sehr selten Gerichte an. Probleme in der Rechtsdurchsetzung des BGG wurden von 80 % der Betroffenen, 70 % der Rechtsschutzvertreter:innen und 52 % der Behördenmitarbeitenden in der Befragung bestätigt (s. Abbildung 1). Um diese Probleme vor allem in der individuellen Rechtsdurchsetzung aufzugreifen, kennt das BGG kollektive Instrumente, die nachfolgend im Fokus stehen.

2. Die Rolle der Schwerbehindertenvertretungen

Bereits die 2014 veröffentlichte erste Evaluation des BGG identifizierte die behördlichen Schwerbehindertenvertretungen (SBV) als zentrale Akteure, um Gleichstellungsrecht durchzusetzen. Dieses Ergebnis kann auch durch die nun erfolgte Evaluation bestätigt werden: Die SBV verfügen einerseits über die besten Kenntnisse zum novellierten BGG, da ihnen die Reformen zu 78 % bekannt sind (im Vergleich zu 58 % der Vertreter:innen des Rechtsschutzes und 20 % der Menschen mit Behinderungen). Andererseits stimmt ihr Verständnis von „Behinderung“ stärker mit der neuen Definition (s. dazu hier) überein als bei anderen Befragtengruppen und sie nehmen Barrieren wesentlich häufiger wahr als Behördenmitarbeitende. Des Weiteren reichen die ihnen zugeschriebenen Aufgaben über das hinaus, was originär nach § 178 SGB IX als ihre Aufgabe definiert ist (Förderung der Eingliederung, Interessenvertretung, Beratung), da sie extern und intern zumeist als zuständig für die Umsetzung der Barrierefreiheit angesehen werden (s. Abbildung 2).

Abbildung 2: Wer ist aus Sicht der Behörden-Mitarbeitenden und der behördlichen Schwerbehindertenvertretungen (SBV) in der Behörde für die Herstellung der Barrierefreiheit zuständig?

Abbildung 2: Wer ist aus Sicht der Behörden-Mitarbeitenden und der behördlichen Schwerbehindertenvertretungen (SBV) in der Behörde für die Herstellung der Barrierefreiheit zuständig?
Quelle: Befragung von behördlichen Schwerbehindertenvertretungen und Mitarbeitenden von Behörden zur Evaluation des BGG (ISG 2022)

Diese zentrale Rolle, um Teilhabe voranzutreiben, sollte verstärkt im Gesetz aufgegriffen werden. Deshalb sollten Tätigkeiten, mit denen sie bereits jetzt zum Teil betraut werden, auch in ihrem gesetzlich festgelegten Aufgabenkatalog Niederschlag finden, indem die Überwachung der Einhaltung der Vorschriften des BGG durch daran gebundene Arbeitgeber in § 178 Abs. 1 SGB IX normiert wird. Sie sollten zudem die Möglichkeit erhalten, sich aktiv an der Konfliktlösung und Rechtsdurchsetzung zu beteiligen – über ein eigenes Antragsrecht im Schlichtungsverfahren (§ 16 BGG) und einem Verbandsklagerecht gegen ihre Dienststelle in Anlehnung an § 17 Abs. 2 AGG.

3. Kollektive Rechtsdurchsetzung – Verbandsklage

Betroffene sollten nicht auf sich allein gestellt sein, um ihre Rechte einzufordern. Deshalb wurde von Beginn an die Möglichkeit der Verbandsklage (§ 15 BGG) in das BGG aufgenommen. Damit können Rechtsverletzungen durch anerkannte Verbände (z. B. Sozialverband VdK Deutschland, Sozialverband Deutschland oder Deutscher Gewerkschaftsbund) gerichtlich geltend gemacht werden. Das Instrument ist gleichfalls bedeutsam, da Verstöße gegen Barrierefreiheit viele Menschen betreffen können. Die Verbandsklage kann so zum einen präventiv gegen Benachteiligungen wirken und zum anderen zur Effektivierung des Benachteiligungsverbotes und mehr Barrierefreiheit beitragen.

Die Befragung zur BGG-Evaluation zeigt allerdings, dass kaum Verbandsklagen geführt werden, da Verbände insbesondere wegen finanzieller und personeller Ressourcen davon absehen. Die Autor:innen der Evaluations-Studie schlagen deshalb vor, über eine Form der Prozesskostenhilfe (§ 183 Sozialgerichtsgesetz) finanzielle Erleichterungen zu schaffen.

Im Weiteren identifizieren sie die derzeitige rechtliche Ausgestaltung der Norm als Problem. Es sind nur bestimmte, in § 15 Abs. 1 Satz 1 BGG aufgelistete Vorschriften verbandsklagefähig – neu eingeführte Regelungen wie die zur Leichten Sprache (§ 11 BGG, § 17 Abs. 2a SGB I) fehlen. Es sollte deshalb eine Generalklausel eingeführt werden, die alle bundesrechtlichen Vorschriften zur Barrierefreiheit und das Benachteiligungsverbot nach § 7 BGG umfasst. Außerdem dürfe die Verbandsklage nicht nur auf die Feststellung eines Verstoßes gerichtet sein, sondern müsse auch die Beseitigung dieses Verstoßes bewirken können.

4. Schlichtungsverfahren

Um die dargestellten Defizite in der Rechtsdurchsetzung aufzugreifen und den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, nicht direkt den Weg zu den Gerichten beschreiten zu müssen, wurde mit der Novellierung des BGG das niedrigschwellige Schlichtungsverfahren eingeführt (§ 16 BGG). Damit sollen Betroffene auch vor einer starken Belastung durch lange Gerichtsverfahren geschützt werden (s. BT-Drs. 18/7824, S. 43).

Betroffene können sich bei diesem außergerichtlichen Konfliktlösungsverfahren an die neu eingerichtete Schlichtungsstelle wenden, wenn sie in ihren Rechten verletzt wurden. Das Verfahren steht auch anerkannten Verbänden offen und soll zu einer zügigeren Einigung führen. Praktisch hat sich das Verfahren bewehrt.

Die derzeitige rechtliche Ausgestaltung, speziell die schwierige Abgrenzung zwischen Bundes- und Landesrecht (s. dazu auch hier) in Verbindung mit der Tatsache, dass ein Schlichtungsverfahren nach dem BGG nicht gegen eine Landesbehörde geführt werden kann, schränkt die erstrebte positive Wirkung auf die Durchsetzung des Gleichstellungsrechts jedoch deutlich ein. Die Länder halten Schlichtungsverfahren aber bisher nur vereinzelt vor (z. B. Bremen oder Berlin). Wichtig ist deshalb zu regeln, wie mit einem Antrag, der bei einer unzuständigen Stelle eingeht, zu verfahren ist. Denkbar wäre beispielsweise, dass die unzuständige Stelle eine Weiterleitungspflicht – ähnlich wie in § 16 Abs. 2 SGB I – trifft.

Das BGG hält normativ wichtige Möglichkeiten der kollektiven Rechtsdurchsetzung bereit. Diese werden allerdings kaum z. B. zur strategischen Prozessführung genutzt. Der bisherige Weg der Rechtsdurchsetzung ist für Betroffene oft viel zu steinig. Recht haben und Recht bekommen liegen häufig noch zu weit auseinander. Die Regelungen des BGG bieten hingegen einige Ansatzpunkte für grundlegende Veränderungen und mehr Gleichberechtigung und Teilhabe – z. B. im Kontakt mit Behörden oder im Gesundheitswesen. Entscheidend wird daher sein, dass künftige Reformen zur Effektivierung des BGG und Rechtsmobilisierung beitragen, indem einzelne Normen geschärft werden, die Sensibilisierung gefördert wird und systematische Abstimmungen erfolgen.

Antonia Seeland

wissenschaftliche Referentin für Europäisches Arbeits- und Sozialrecht am Hugo Sinsheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung