Sozialrecht trifft auf Arbeitsrecht:

Die lange Auseinandersetzung um attraktivere Löhne für Pflegende

Von Helga Nielebock und Hans Nakielski | August 2022

Ab dem 1. September 2022 ist es so weit: Dann sollen nur noch Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen werden, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif oder kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen bezahlen oder mindestens in Höhe eines Tarifvertrags oder einer kirchenarbeitsrechtlichen Regelung entlohnen. Das wurde im SGB XI festgeschrieben. Damit regelt ein Sozialgesetz Grundzüge der Entlohnung und dringt damit in den arbeitsrechtlichen (Kompetenz-)Bereich ein. Wie kam es dazu?        

Das Thema Pflege wird bei einer alternden Gesellschaft auch in den kommenden Jahren in der politischen Debatte bleiben. Die Zahl der Menschen, die auf Pflegeleistungen angewiesen sind, wächst seit Jahren. Sie lag Ende 2021 bei etwa 4,9 Millionen (siehe hier). Das war ein neuer Rekordwert.

Zwar ist ein Teil des Anstiegs auch auf den seit 2017 geltenden neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff zurückzuführen, mit dem insbesondere Demenzkranke leichter als pflegebedürftig anerkannt werden. Es ist aber davon auszugehen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen auch in Zukunft weiter steigen wird. Das zieht eine höhere Zahl an Beschäftigten im Pflegebereich nach sich. Bereits jetzt herrscht hier aber ein Mangel und die Attraktivität des Berufes ist nicht besonders hoch. Ein Aspekt, die erforderliche Attraktivität der Pflegeberufe zu verbessern, besteht in einer besseren Entlohnung.

Bisher gibt es in der Alten- bzw. Langzeitpflege keine allgemeinverbindlichen flächendeckende Tarife. Lange Zeit hatten die meisten Pflegeeinrichtungen – insbesondere im privaten Sektor – überhaupt keine Tarifverträge. Dazu kommt: Die kirchlichen Einrichtungen beharren auf ihren Sonderrechten im Arbeitsrecht.

Pflege-Mindestlöhne

Seit dem 1. August 2010 existiert in der Pflege zumindest ein Mindestlohn, der zunächst im Wesentlichen für Pflegehelfer:innen Relevanz besaß. Der Gesetzgeber hatte 2009 die Aufnahme der Pflegebranche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz beschlossen und als neues Gremium die Pflegekommission eingeführt. Sie besteht aus acht Mitgliedern (derzeit: je zwei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter:innen von Caritas und Diakonie, zwei Vertreter:innen von ver.di, ein Vertreter des Arbeitgeberverbandes Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste [bpa] sowie ein Mitglied der Bundestarifgemeinschaft des Deutschen Roten Kreuzes).

Die Empfehlungen der Pflegekommission zu den Lohnuntergrenzen und Mindestarbeitsbedingungen wurden bisher stets durch Rechtsverordnungen, die der Bundesarbeitsminister erlässt, verbindlich. Der erste Mindestlohn in der Pflegebranche, der von August 2010 bis Dezember 2011 galt, lag bei 8,50 Euro je Stunde im Westen und 7,50 Euro im Osten.

Das durch die Pflegekommission vorgeschlagene Mindestentgelt wurde zwar regelmäßig angehoben (siehe hier), erschien jedoch nicht geeignet, die Attraktivität des Pflegeberufs signifikant zu steigern.

Die (vierte) Pflegekommission 2020 hatte Empfehlungen insbesondere über Erhöhungen der Mindestlöhne in der Altenpflege in mehreren Stufen für die Zeit ab dem 1. Mai bzw. 1. Juli 2020 beschlossen. Diese wurden dann mit der Vierten Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche umgesetzt. Danach fanden ab dem 1. Juli 2020 folgende Erhöhungen statt:

Mit der Vierten Pflegearbeitsbedingungsverordnung wurden erstmals auch ab April bzw. Juli 2021 die Pflegemindestentgelte nach der jeweiligen Qualifikation gestaffelt und es wurde ein Mindesturlaub bestimmt:

Neuregelungen durch Pflegelöhneverbesserungsgesetz

Mit dem am 29. November 2019 in Kraft getretenen Pflegelöhneverbesserungsgesetz wurde die gesetzliche Grundlage zur Festsetzung verbindlicher Lohnuntergrenzen im Pflegebereich überarbeitet. Es erfolgten Änderungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes mit dem Ziel der Einführung eines flächendeckenden Tarifvertrages in der Pflege oder höherer Lohnuntergrenzen, die durch Rechtsverordnungen festgelegt werden, die auf Empfehlungen der Pflegekommission (mit novellierten Rechten) basieren. Die Regierungskoalition legte sich dabei fest, welchen Weg sie favorisierte: „Für spürbare Verbesserungen wäre die Erstreckung tarifbasierter Arbeitsbedingungen auf Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (§ 7a AEnTG), also eine Tarifvertragslösung, die beste Variante“, heißt es in der Regierungsvorlage.

Tarifvertragliche Lösung?

Nach den Regelungen des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes kann nun auch ein Tarifvertrag für die Pflege im Verordnungswege erstreckt werden. Das bedeutet, dass nicht nur Mindestlöhne für Pflegehelfertätigkeiten und ausgebildete Pfleger:innen festgelegt werden können, sondern auch bei höherwertigen Tätigkeiten oder nach Berufsjahren gestaffelt höhere Entgelte, Zuschläge für Überstunden und weitere Urlaubstage.

Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung des kirchlichen Bereichs in der Pflege müssen aber arbeitsrechtliche Kommissionen des Dritten Weges vor Abschluss eines Tarifvertrags angehört werden. Die Zustimmung dieser kirchlichen Kommissionen ist auch zu einem Antrag der Tarifvertragsparteien auf Erlass einer Rechtsverordnung mit den entsprechenden Inhalten des Tarifvertrages erforderlich.

Die Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BAVP) und die Gewerkschaft ver.di starteten schließlich Verhandlungen über einen Tarifvertrag. Im Februar 2021 standen die endgültigen Inhalte eines solchen Vertrages über Mindestarbeitsbedingungen in der Altenpflege fest (siehe hier und hier)

Die Löhne sollten in mehreren Stufen angehoben werden:

Gegenüber den damaligen Pflegemindestlöhnen entsprach das einer Anhebung von insgesamt 25 Prozent. Bei einer 39-Stunden-Woche würden Pflegehilfskräfte so im Juni 2023 mindestens 2.140 Euro im Monat bekommen. Für Pflegekräfte mit mindestens einjähriger Ausbildung wären es 2.585 Euro und für Pflegefachkräfte 3.180 Euro.

Der Tarifvertrag sollte von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auf die gesamte Pflegebranche erstreckt werden und zum 1. Juli 2021 in Kraft treten.

Allerdings wetterte der Arbeitgeberverband bpa, der größte deutsche Arbeitgeberverband für die private Sozialwirtschaft, massiv gegen einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Pflege. Dieser sei „überflüssig, unwirksam und verfassungswidrig“ (siehe hier)

Und für die Durchführung des Verordnungsverfahrens zur allgemeinen Anerkennung des Tarifvertrages fehlte auch noch die notwendige Zustimmung des kirchlichen Bereichs. Die Caritas-Dienstgeberseite lehnte schließlich den Antrag, den ausgehandelten Tarif für allgemeinverbindlich zu erklären, ab. Eine Begründung dafür: „Die allermeisten Pflegekräfte verdienen bei der Caritas um einiges mehr, als der Tarifvertrag festgelegt hätte […] Wir wollen aber weiterhin gute Löhne zahlen (siehe hier).“

Das sei „billigste Polemik“, konterte Mario Gembus, der bei ver.di für kirchliche Betriebe zuständig ist (siehe hier): „Der Tarifvertrag sollte nur eine untere Haltelinie bei den Arbeitsbedingungen in der Altenpflege einziehen. Tarifverträge oder kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien wären – wo sie für die Beschäftigten besser sind – selbstverständlich erhalten geblieben und weiterhin refinanziert worden.“

Nach der Ablehnung der Caritas beschäftigte sich die Diakonie gar nicht erst mit dem Antrag zum Tarifvertrag. So konnte der Weg eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages schlussendlich nicht beschritten werden.

Neue Pflege-Mindestlöhne

Stattdessen wurde weiterhin die bisher bereits bestehende Möglichkeit genutzt, über die Pflegekommission die Lohnuntergrenze festzusetzen. Entsprechend der Neuregelung im Pflegelöhneverbesserungsgesetz wurde die fünfte Pflegekommission für fünf Jahre eingesetzt. Sie trat erstmals am 17. Dezember 2021 zusammen. Die fünfte Pflegekommission hat im Februar 2022 spürbar höhere Mindestlöhne in der Altenpflege für die Zeit ab dem 1. September 2022 empfohlen. Ab dem 1. September 2022 sollen die Mindestlöhne für Pflegekräfte in Deutschland in drei Schritten steigen:

Der Beschluss sieht zudem eine Ausweitung des Mehrurlaubs vor (siehe hier).

„Trotz Verbesserungen bleibt die Pflegekommission hinter den Regelungen des zwischen ver.di und dem Arbeitgeberverband BVAP ausgehandelten Tarifvertrages zurück“, beklagte ver.di (siehe hier). Was jetzt auf dem Tisch liege zeige, „dass der Weg über den Tarifvertrag der bessere ist“.

Mit der Fünften Pflegearbeitsbedingungsverordnung, die am 1. Mai 2022 in Kraft trat, wurden die neuen Pflege-Mindestlöhne schließlich verbindlich.

Doch die Auseinandersetzung um eine angemessene Bezahlung in der Alten- und Langzeitpflege war damit längst nicht beendet. Am 1. September 2022 tritt eine weitere gesetzliche Regelung in Kraft, die für bessere Entgelte in der Pflege sorgen soll.

Bezahlung mindestens in Tarifhöhe

Die Regelungen wurden von der Bundesregierung mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, das am 19. Juli 2021 verkündet wurde (siehe hier), verabschiedet. Danach wurden Regelungen zur Vergütung von Pflegekräften im SGB XI festgeschrieben (siehe dazu auch den zweiten Beitrag zu diesem Thema des Monats).

Nach § 72 Abs. 3a bis f dürfen ab dem 1. September 2022 Versorgungsverträge nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihren Pflege- und Betreuungskräften eine Entlohnung mindestens in Tarifhöhe zahlen, an die die Pflegeeinrichtung gebunden ist. Kirchliche Vereinbarungen zur Entlohnung werden in diesem Zusammenhang mit Tarifverträgen gleichgestellt, was problematisch ist, da sie wegen des Letztentscheidungsrechtes des Kirchenträgers nicht auf gleicher Augenhöhe ausgehandelt werden können.

Ist die Einrichtung nicht tarifgebunden, muss sie nach § 72 Abs. 3b SGB XI eine von den anderen dort genannten Alternativen erfüllen:

Statt einer echten Tarifbindung muss gemäß § 72 Abs. 3b Nr. 1,2 oder 3 SGB XI eine Anwendung eines Tarifniveaus erfolgen, wobei darüber gestritten wird, was ein regionales Niveau in diesem Zusammenhang sein kann.

Problematisch ist es laut der Stellungnahme von ver.di zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (S. 12) auch, dass es für den Abschluss eines Versorgungsvertrages genügt, „irgendwie tarifgebunden zu sein“. Jeder noch so schlechte Tarifvertrag genüge und jeder noch so schlechte Haustarifvertrag sei ausreichend. „Das bietet keinerlei ausreichenden Lohnschutz und stellt keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und auch nicht der Entlohnungsbedingungen dar“, kritisiert ver.di. Es sei vielmehr eine Einladung für Dumpingtarifverträge.

Es ist daher zu erwarten, dass die neue Regelung reichlich Konfliktstoff bietet. Nach einer jüngst vom Bundesarbeitsgericht ergangenen Entscheidung (1. März 2022, 9 AZB 25/21) ist für die Frage von Rechtsstreitigkeiten zwischen zugelassenen Pflegeeinrichtungen und deren Arbeitnehmern über die Berechnung und Höhe des Bundesanteils der Corona-Prämie nach § 150a Abs. 1 Satz 1 SGB XI der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet. Das könnte für die Fragen, die das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz betreffen, auch der Fall sein.

Helga Nielebock

ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht

Hans Nakielski

Fachjournalist für Arbeit und Soziales in Köln