Blackbox Sozialrecht

Rückblick auf eine Veranstaltung des Netzwerkes Sozialrecht

von Hans Nakielski | November 2021

Das Sozialrecht wird an den rechtswissenschaftlichen Fachbereichen der Universitäten zu wenig gelehrt. Sozialrecht spielt in der Ausbildung eine zu geringe Rolle (siehe auch hier). Vieles rund um das Sozialrecht bleibt so selbst für Jura-Studierende und Rechtsreferendar*innen im Dunkeln: Was beinhaltet eigentlich das Sozialrecht? Wie wird es gestaltet? Und was fange ich damit an?  Eine Veranstaltung des Netzwerkes Sozialrecht brachte mehr Licht ins Dunkel.

Um mehr Licht in die Gestaltung des Sozialrechts, seine Akteure und deren Berufsfelder sowie die Zukunft des Sozialrechts zu bringen, veranstaltete das Netzwerk Sozialrecht am 16. Oktober eine Tagung mit dem Titel „Blackbox Sozialrecht“ – Gestaltung, Akteure, Zukunft“. Die Veranstaltung sollte ursprünglich im Bundessozialgericht in Kassel stattfinden. Sie stieß auf großes Interesse. Mehr als 80 Interessent*innen hatten sich dazu angemeldet. Die maximale Teilnehmer*innenzahl einer Präsenzveranstaltung war damit erreicht. Wegen der aktuellen Coronalage wurde die Veranstaltung dann aber schließlich als Online-Tagung durchgeführt.

Jura-Studierende und Rechtsreferendar*innen, die sich noch nicht so viel mit dem Sozialrecht befasst hatten (das aber immer schon mal wollten) und diejenigen, die ihr Wissen vertiefen wollten, erhielten dabei einen Einblick in unterschiedliche sozialrechtliche Berufsfelder, Zukunftsthemen des Sozialrechts und die praktische Arbeit von langjährig tätigen Sozialrechtler*innen.

Den Auftakt der Veranstaltung, die von Dr. Christan Mecke (Richter am Bundessozialgericht) moderiert wurde, machten am Vormittag drei im Sozialrecht sehr erfahrene Referent*innen. Sie referierten über den Entstehungsprozess eines Sozialgesetzes, die Umsetzung in der Sozialverwaltung und die Entscheidung zu ungeklärten Streitfragen vor dem höchsten bundesdeutschen Sozialgericht.

Ludwig Flecken, Ministerialdirektor a. D. im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, berichtete aus der Sicht eines langjährigen „Gesetzesmachers“, wie Politik in Gesetze umgewandelt wird. Er schilderte, wie in der Legislaturperiode 2009–2013 die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) u. a. versucht hat, eine so genannte Kombirente – also eine Neuregelung zum Hinzuverdienst bei Bezug der vorzeitigen Altersrente – einzuführen. Letztlich war ihr Versuch zwar gescheitert – insbesondere auch, weil man sich nicht auf die von ihr ebenfalls vorgeschlagene Lebensleistungsanerkennungsrente (ein Vorläufer der heutigen Grundrente) einigen konnte, die gleichzeitig eingeführt werden sollte; doch eine Legislaturperiode später – Anfang 2017 – trat dann das Flexirentengesetz in Kraft. Damit wurden schließlich doch die Hinzuverdienstregelungen bei vorgezogenem Rentenbeginn geändert – wenn auch etwas anders, als bei der zuvor geplanten Kombirente.

Prof. Dr. Ralf Kreikebohm, Geschäftsführer a. D. der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover und Honorarprofessor am Institut für Rechtswissenschaften der TU Braunschweig, berichtete „aus dem Maschinenraum eines Leistungsträgers“. Insbesondere stellte er dar, wie bei Gesetzgebungsverfahren das Zusammenspiel von Politik und Sozialversicherungsträgern verläuft und wie aufwendig in vielen Fällen die Umsetzung von Sozialgesetzen in Verwaltungshandeln ist.

Kreikebohm verdeutlichte dies unter anderem am RV-Leistungsverbesserungsgesetz, mit dem im Juli 2014 die neue abschlagfreie Rente ab 63 Jahren eingeführt wurde. Schon im Februar 2014 – also bereits mehrere Monate vor der Verabschiedung des Gesetzes – hatten die Rentenversicherungsträger sich mit Auslegungsfragen zu der neuen Rentenart befasst. Es ging dabei um rund 200 ungeklärte und strittige Fragen. Insbesondere fragte man sich bei der Rentenversicherung zum Beispiel, wie eigentlich weit zurückliegende Zeiten mit „Entgeltersatzleitungen der Arbeitsförderung“ erfasst werden sollten, die nach dem Gesetz bei der für die abschlagfreie Rente erforderlichen Wartezeit von 45 Jahren mitzählen. Die Arbeitslosenversicherung speichere solche Zeiten nur für einen begrenzten Zeitraum, so Kreikebohm. Bis 1973 könne überhaupt nicht festgestellt werden, ob solche Zeiten bei Versicherten vorliegen. Dazu kam noch, dass in der Vergangenheit die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes – und damit der wichtigsten Entgeltersatzleistung der Arbeitsförderung – mehrfach geändert wurde.

Schließlich einigte man sich auf eine Plausibilitätsklausel: Wenn es in der Gesamtschau eines Versichertenverlaufs plausibel und glaubhaft ist, dass „Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung“ vorliegen, dann würden diese anerkannt. Außerdem wurde eine 10-seitige Anlage erstellt, in der die unterschiedlichen Entgeltersatzleistungen und ihre Anspruchsdauern seit 1957 zusammengefasst wurden.

Die Aufgabe von Juristen bei der Rentenversicherung besteht nach der Verabschiedung eines neuen Gesetzes auch darin, Bescheid-Texte und Vordrucke sowie – „als juristische Krönung“ – Arbeitsanweisungen für die Rentenversicherungsträger zu den neuen Gesetzesbestimmungen zu entwickeln. Denn es könne ja nicht sein, dass die 16 Träger der gesetzlichen Rentenversicherung die neuen Bestimmungen unterschiedlich auslegen. Die Arbeitsanweisung zum RV-Leistungsverbesserungsgesetz kam im September 2015 heraus. „Damit war die Umsetzung des Gesetzes gesichert“, so Kreikebohm. Zuvor hatte sich die Deutsche Rentenversicherung mit dem DGB auf insgesamt 18 Musterstreitverfahren zu verschiedenen strittigen Punkten zu dem neuen Gesetz geeinigt. Auch dabei war natürlich die Fachkenntnis der Jurist*innen besonders gefragt.

Kreikebohm bezeichnete die Tätigkeit für Jurist*innen bei der Deutschen Rentenversicherung als „hochgradig gesellschaftlich und rechtlich interessant“. Man brauche hier „tolle junge Nachwuchskräfte“. Denn auch bei den Rentenversicherungsträgern sei das Personal „überaltert“.

Sabine Knickrehm, Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht, machte – ebenfalls am RV-Leistungsverbesserungsgesetz  – deutlich, was auf Jurist*innen bei den Sozialgerichten zukommt, wenn der Gesetzgeber komplizierte Gesetzestexte verfasst, bei denen einiges im Unklaren bleibt. Sie erläuterte dies am Beispiel des § 51 Abs. 3a SGB VI, wo es um die Anrechnung der Zeiten für die 45-jährige Wartezeit für die abschlagsfreie Rente ab 63 geht. Dort heißt es:

„Auf die Wartezeit von 45 Jahren werden Kalendermonate angerechnet mit […] Zeiten des Bezugs von a) Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung […]; dabei werden Zeiten […] in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht berücksichtigt, es sei denn, der Bezug von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung ist durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt.“

Es gibt hier also zunächst den Grundsatz, dass Zeiten mit Arbeitslosengeld (oder anderen Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung) bei der 45-jährigen Wartezeit berücksichtigt werden.  Dann folgt die Ausnahme, dass Zeiten in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht mitzählen. Sodann folgt die Rückausnahme, dass dies wiederum nicht gilt, wenn „eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers“ vorlag.

Doch wann ist die Arbeitslosigkeit bzw. der Arbeitslosengeldbezug durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt? Dazu erreichten mehrere Klagefälle das Bundessozialgericht (BSG). Unter anderem musste das BSG klären:

  1. Gilt die Rückausnahme auch bei einer drohenden Insolvenz? In dem konkreten Fall erfolgte die Kündigung des Klägers, um eine „drohende Insolvenz“ abzuwenden. Letztlich wurde die Insolvenz dann aber doch nicht verhindert (Az.: B 5 RE 8/16 R vom 17.08.2017).
  2. Gilt die Rückausnahme auch für Fälle, in denen Versicherte zur Insolvenzabwendung in eine Transfergesellschaft wechselten und das „Transferarbeitsverhältnis“ durch Fristablauf endete? In dem konkreten Fall konnte eine Insolvenz abgewendet werden, es gab also keine vollständige Geschäftsaufgabe. Es erfolgte aber ein Aufhebungsvertrag und ein Wechsel in eine Transfergesellschaft. Das Transferarbeitsverhältnis endete mit der vertraglich vereinbarten Befristung (Az.: B 13 R 19/17 R vom 12.03.2019).
  3. Wirkt die Verursachung des Arbeitslosengeldbezugs durch die Geschäftsaufgabe des vorletzten Arbeitgebers fort und führt damit zu einer Rückausnahme, wenn das Anschlussarbeitsverhältnis noch in der Probezeit gekündigt wird? Im konkreten Fall bezog die Klägerin nach der vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers zunächst Arbeitslosengeld. Sie fand dann zwar eine neue sozialversicherte Beschäftigung. Diese wurde jedoch noch in der Probezeit gekündigt. Darauf bezog sie wieder Arbeitslosengeld (Az.: 13 R 7/20 R vom 22.03.2021).

Knickrehm erläuterte, wie die Richter*innen versuchen, durch Auslegungsmethodik – nach dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes sowie nach den Gesetzesmaterialen und einem Abgleich mit ähnlichen Regelungen in anderen Gesetzen – den Sinn und Zweck der Bestimmungen zu erfassen.

Letztlich war nur im 3. Fall – dem Fall mit der Zwischenbeschäftigung – die Revision der Versicherten erfolgreich. Die anderen beiden Versicherten in den Fällen 1. und 2. hatten keinen Erfolg.

Das Fazit von Bundessozialrichterin Sabine Knickrehm: „Die Verfolgung des Weges vom Werden eines Gesetzes bis zur praktischen Anwendung ist im Sozialrecht häufiger als in anderen Rechtsgebieten. Die Arbeit an und mit dem Gesetz erfordert Kreativität und methodische Sicherheit.“

 

Infos zu sieben Berufsfeldern

Nach einer Mittagspause wurde die Tagung mit „World of Sozialrecht“ fortgesetzt. Es gab hier jeweils 20-minütige Austauschmöglichkeiten mit sieben Vertreter*innen aus unterschiedlichen Bereichen des Sozialrechts. Es bestand so die Gelegenheit, mehr über die Tätigkeiten eines Sozialrichters, Jungrichters, Fachanwalts für Sozialrecht, Prozessvertreters beim DGB-Rechtsschutz, Justiziars beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung sowie einer Justiziarin bei der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland und eines Wissenschaftlers zu erfahren (siehe hier).

Deutlich wurde dabei: Nahezu in allen Bereichen werden dringend Nachwuchskräfte gesucht. Auch Praktika und Referendariate können in vielen Bereichen absolviert werden. Die Chancen für angehende Sozialrechtler*innen sind gut!

Zum Abschluss der „Blackbox“-Veranstaltung wurde ein Blick in die Zukunft geworfen. Dabei ging es aus unterschiedlicher Sicht um die Digitalisierung bei der Arbeit im Sozialrecht und um Legal Technologies (siehe auch hier).

 

Vernetzung junger Nachwuchskräfte

Das Netzwerk Sozialrecht möchte es nicht bei einer einmaligen Veranstaltung für Jura-Studierende und Rechtsreferendar*innen belassen. Es regt an, dass sich interessierte Nachwuchskräfte austauschen und vernetzen. Dabei wollen die „alten Hasen“ des Netzwerkes im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten auch Hilfestellungen anbieten.

Für diejenigen, die Interesse haben, sich untereinander und mit dem Netzwerk Sozialrecht auszutauschen, wurde eine eigene E-Mail-Adresse eingerichtet: zukunft@netzwerk-sozialrecht.de.

Zunächst ist hier Alice Dillbahner, LL.M., wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsgruppe „Die Sozialgerichtsbarkeit und die Entwicklung von Sozialrecht und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland“ der Universität Kassel und Mitglied der Steuerungsgruppe des Netzwerkes Sozialrecht, die Ansprechpartnerin. Demnächst sollte aber möglichst jemand aus dem „Jungen Netzwerk“ diese Aufgabe übernehmen.

Hans Nakielski

Fachjournalist für Arbeit und Soziales in Köln