„Wir sind Sparringspartner der hauptamtlichen Richter*innen“

Warum die Politikwissenschaftlerin Britta Rehder als ehrenamtliche Sozialrichterin arbeitet

Britta Rheder im Interview | März 2021

Portraitfoto Britta Rehder

Prof. Dr. Britta Rehder

Prof. Dr. Britta Rehder (50) arbeitet als Professorin für Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität in Bochum. Seit 2017 ist sie auch als ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht Dortmund tätig. Für dieses Amt wurde sie aus dem Kreis der Arbeitgeber vorgeschlagen. Neben einem weiteren ehrenamtlichen Richter, der aus dem Kreis der Versicherten vorgeschlagen wurde und einem Berufsrichter entscheidet sie dort als Nicht-Juristin mit auf der Richterbank einer Kammer des Gerichts.

 

Netzwerk Sozialrecht: Frau Professor Rehder, warum interessieren Sie sich als Politikwissenschaftlerin für das Sozialrecht?

Rehder: Ich forsche zum Zusammenspiel von Politik und Recht, speziell zur Interessenvermittlung über den Rechtsweg und zur Rolle der Gerichte in der Politik. Dabei interessiere ich mich besonders für das Arbeits- und Sozialrecht.

Netzwerk Sozialrecht: Wie kommt es, dass Sie ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht geworden sind?

Rehder: Meine Universität stellt seit langem Richter*innen in der Sozialgerichtsbarkeit. Eines Tages ging ein Aufruf des Personaldezernats über den E-Mail-Verteiler, dass Leute gesucht werden. Und da habe ich mich gemeldet. Ich bin als ehrenamtliche Richterin der Arbeitgeberseite vorgeschlagen worden.

Netzwerk Sozialrecht: Sind Sie in einer Kammer mit klareren Sachthemen zugeordnet oder wechseln Sie auch die Kammer?

Rehder: Ich bin einer Kammer fest zugeordnet und habe dadurch auch mit nur einem hauptamtlichen Richter zu tun. Wir befassen uns hauptsächlich mit Fällen zum Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung für Arbeitsuchende). Manchmal geht es aber auch um das Arbeitslosengeld I. Auch die anderen ehrenamtlichen Richter*innen sehe ich immer wieder. Wir arbeiten in wechselnden Teams zusammen. Das finde ich auch gut, sonst wäre die Tätigkeit zu anonym. Ich bin jetzt in meiner ersten Amtsperiode seit 2017 und würde das gerne auch noch eine zweite Amtszeit machen, wenn es möglich ist.

Netzwerk Sozialrecht: Warum machen Sie das? Es ist ein Ehrenamt, niemand kann Sie zwingen.

Rehder: Erstens finde ich, dass es ein sinnvolles Ehrenamt ist, den Rechtsstaat zu unterstützen. Zweitens forsche ich zur Gerichtsbarkeit und zum Zusammenspiel von Recht und Politik. Von daher ist es auch immer ein wenig teilnehmende Beobachtung im Gerichtsverfahren, aus der ich viel lernen kann.

Netzwerk Sozialrecht: Was sehen Sie dabei als Ihre Aufgabe an?

Rehder: Ich sehe es vor allem als meine Aufgabe an, den hauptamtlichen Richter dabei zu unterstützen, gut und konsistent zu argumentieren und die soziale Situation im Gerichtsverfahren zu beobachten. Wir ehrenamtlichen Richter*innen sind sozusagen seine Sparringspartner, die ihm helfen, gute Entscheidungen zu treffen.

Netzwerk Sozialrecht: Macht das Spaß? Bringt das Informationen?

Rehder: Da ich rechtssoziologisch forsche, lerne ich etwas über die Funktionsweise des Gerichts, über das Zusammenspiel der beteiligten Parteien untereinander, über unterschiedliche Anwaltstypen, über Asymmetrien im Gerichtsverfahren etc. Das ist für mich wertvoll. Allerdings gebe ich offen zu, dass manche Sitzungen recht langweilig sind. Aber auch das ist ja eine lehrreiche Erfahrung. Viele Menschen kennen Gerichtsverfahren nur durch RTL-Soaps oder Hollywood-Filme. Die Realität ist weit weniger spektakulär und manchmal „seeeeehr“ kleinteilig.

 

„Ich kann meinen gesunden Menschenverstand einbringen“

Netzwerk Sozialrecht: Was ist Ihnen wichtig bei der Zusammenarbeit mit dem hauptamtlichen Richter?

Rehder: Dass wir freundlich miteinander umgehen, dass meine Position angehört wird und dass die Rollen geklärt sind. Er ist der Jurist, ich kann nur meine Wahrnehmung der sozialen Situation und meinen gesunden Menschenverstand einbringen. Ich habe allerdings auch schon erlebt, dass mein gesunder Menschenverstand mit den Realitäten des SGB II nicht immer viel zu tun hat. Aber dafür kann der hauptamtliche Richter nichts.

Netzwerk Sozialrecht: Werden Sie vor der Verhandlung vom hauptamtlichen Richter über den Fall unterrichtet?

Rehder: Er erzählt uns vor der Sitzung, worum es geht. Wir bekommen keine schriftlichen Unterlagen. Wenn ich darum bitten würde, könnte ich sie einsehen, aber dafür fehlt mir die Zeit. Den mündlichen Verhandlungen gehen im Regelfall jahrelange Briefwechsel und Widerspruchsverfahren voraus. Mich da einzuarbeiten, könnte ich nicht leisten. Und ich sehe das auch nicht als meine Aufgabe an. Ich bin ja keine Juristin, die versucht, den hauptamtlichen Richter zu kontrollieren oder zu korrigieren.

Netzwerk Sozialrecht: Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit dem hauptamtlichen Richter?

Rehder: Ich erlebe die Kooperation als sehr positiv. Dadurch, dass es immer wieder derselbe Richter ist, lernt man sich und die Art des anderen zu denken, im Zeitverlauf auch etwas kennen. Er ist der Jurist und setzt den Entscheidungsrahmen fest. Aber innerhalb dessen gibt es immer einen Ermessensspielraum, den wir mit ausfüllen.

Netzwerk Sozialrecht: Meinen Sie Ihre Äußerungen als ehrenamtliche Richterin bringt die Entscheidungsfindung voran oder sind das Fragen und Diskussionen, die wenig Ertrag haben?

Rehder: Der Richter könnte seine fachliche Entscheidung auch ohne uns treffen. Aber ich denke, wir sind hilfreich als Beobachter*innen der sozialen Situation in der Gerichtsverhandlung. Der hauptamtliche Richter muss die Gesprächsleitung mit den Parteien führen und gleichzeitig das Protokoll diktieren. Da ist es schon hilfreich, wenn noch zwei andere dabei sind, die vor allem beobachten und ihre Eindrücke schildern.

Netzwerk Sozialrecht: Haben Sie Erfahrungen in der betrieblichen Praxis oder Erfahrungen mit Sachverhalten des Sozialrechts? Können Sie davon etwas einbringen?

Rehder: Das sind eher theoretische Kenntnisse und nichts, was der hauptamtliche Richter nicht schon kennen würde. Und ehrlich gesagt: Als verbeamtete Universitätsprofessorin bin ich von der Lebenswelt der SGB-II-Empfänger*innen weit entfernt.

 

„Mehrheitsentscheidungen habe ich noch nicht erlebt“

Netzwerk Sozialrecht: Werden Sie als ehrenamtliche Richterin in die Erarbeitung eines Vergleichsvorschlages einbezogen? Zieht sich also die Kammer zurück und berät dann gemeinsam einen Vorschlag, auf den man sich dann einigt?

Rehder: Ja, auf jeden Fall. Wobei der hauptamtliche Richter die Grundzüge einer Entscheidung oder eines Vergleichsvorschlags vorher häufig im Kopf hat. So sieht es jedenfalls aus.

Netzwerk Sozialrecht: Stellen Sie als ehrenamtliche Richterin in den Verhandlungen im Sozialgericht auch Fragen?

Rehder: Ja. Wir werden vom hauptamtlichen Richter auch immer explizit gefragt, ob wir Fragen haben.

Netzwerk Sozialrecht: Wird so lange beraten, bis sich alle einig sind? Auch wenn der Terminplan sich dann verschiebt? Oder gibt es Mehrheitsentscheidungen?

Rehder: Der Terminplan ist meist großzügig gestaltet. Eine Mehrheitsentscheidung habe ich noch nicht erlebt. Ich glaube, der Rest fällt unter das Beratungsgeheimnis, oder?

Netzwerk Sozialrecht: An wen wenden Sie sich als ehrenamtliche Richterin, wenn Sie ein Problem beim Gericht haben?

Rehder: Ist bei mir noch nicht vorgekommen. Meine erste Ansprechpartnerin ist immer die Mitarbeiterin des hauptamtlichen Richters.

Netzwerk Sozialrecht: Ein oft geäußerter Wunsch von ehrenamtlichen Richter*innen ist es, bei mehreren Sitzungen zum gleichen Fall auch an einer nachfolgenden Kammersitzung wieder teilnehmen zu können. Haben Sie das schon erlebt?

Rehder: Da wir nicht sehr viele ehrenamtlichen Richter*innen sind, kommt das immer mal wieder vor. Manchmal berichtet der hauptamtliche Richter, wie der jeweilige Fall weitergegangen ist, wenn z.B. Berufung eingelegt wurde. Im Regelfall gibt es aber auch nur eine Kammersitzung pro Fall.

Netzwerk Sozialrecht: Haben Sie ein Angebot bekommen an einer Einführung für erstmals ernannte ehrenamtliche Richter*innen teilzunehmen?

Rehder: Nein, so ein Angebot habe ich nicht bekommen. Ich habe das sehr schade gefunden und hätte gern an einer Einführung teilgenommen. Ich habe mich sogar ein wenig gewundert, dass es so gar nichts gibt. Wir wurden vereidigt und los ging’s. Das wäre ausbaufähig, finde ich. Denn man muss sich in diese Rolle auch erst einmal einfinden. Wir sitzen mit auf der Richterbank, und gegenüber sitzt eine aufgeregte Klägerin, die seit Jahren auf ihren Gerichtstermin wartet, und schaut uns mit großen Augen erwartungsvoll an. Da muss man sich erst einmal dran gewöhnen.

Netzwerk Sozialrecht: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Helga Nielebock.
Sie ist ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.