Von Hans Nakielski | Juni 2022
Wie wird die Höhe der Regelbedarfe grundsätzlich ermittelt? Und nach welcher Methode erfolgt die Fortschreibung der Sätze zum Jahresanfang?
Hier ein kurzer Überblick.
Der Regelbedarf wird grundsätzlich mit Hilfe der Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) in einem Bundesgesetz ermittelt. Die EVS findet alle fünf Jahre statt. Sie ist die größte Befragung privater Haushalte über deren Einkommen sowie Höhe und Zusammensetzung der Konsumausgaben in Europa. Daran nehmen Haushalte aller sozialen Gruppierungen teil, so dass die EVS ein repräsentatives Bild der Lebenswirklichkeit nahezu der gesamten Bevölkerung in Deutschland liefert. Die EVS-Statistik enthält auch Daten über die Verbrauchsausgaben der Haushalte. Liegen die Ergebnisse einer neuen EVS vor, ist der Gesetzgeber zu einer neuen Regelbedarfsermittlung verpflichtet (§ 28 SGB XII).
Die Berechnung der Regelbedarfe anhand statistisch nachgewiesener Verbrauchsausgaben nennt man „Statistikmodell“. Für die Regelsatzberechnung werden allerdings nicht die durchschnittlichen Ausgaben aller Haushalte berücksichtigt, sondern nur die Ausgaben der einkommensschwächsten Haushalte.
Konkret werden bei den Alleinstehenden (Einpersonenhaushalten) die unteren (ärmsten) 15 Prozent, bei den Paaren mit Kind (Familienhaushalte) die unteren 20 Prozent für die Referenzgruppenbildung herangezogen – sofern sie nicht selbst ausschließlich von existenzsichernden Leistungen nach SGB II, SGB XII oder dem Asylbewerberleistungsgesetz leben. Dies soll Zirkelschlüsse vermeiden. Personen, die ihnen eigentlich zustehende Grundsicherungsleistungen nicht in Anspruch nehmen („verdeckt Arme“), werden allerdings nicht aus der Referenzgruppe ausgeschlossen. Insofern werden Zirkelschlüsse doch nicht ganz vermieden.
Das Statistikmodell wird dadurch eingeschränkt, dass nicht alle Ausgabepositionen, die in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe für einkommensschwächere Haushalte erhoben werden, berücksichtigt werden. Denn der Gesetzgeber sieht bestimmte Güter und Dienste als nicht notwendig zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums an – auch wenn ärmere Haushalte diese konsumieren. Dazu gehören z. B.
- Alkoholische Getränke (wobei die für Bier und Wein konsumierte Flüssigkeitsmenge durch Mineralwasser substituiert wird),
- Tabak,
- Kfz-Nutzung (für ein zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit genutztes Fahrzeug gibt es im SGB II Absetzbeträge),
- Pauschalreisen und Flugtickets,
- Schnittblumen und Zimmerpflanzen,
- Glücksspiele,
- Haustiere.
Die letzte EVS fand im Jahr 2018 statt. Die daraus abgeleiteten Regelbedarfe wurden zum 1. Januar 2021 mit dem „Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze“ eingeführt. Erstmals wurden dabei bei der Berechnung der Regelbedarfe auch die Gebühren für Mobilfunknutzung – und damit auch die Kosten des mobilen Internetzugangs – als regelbedarfsrelevant berücksichtigt. Zuvor waren nur die Kosten einer Flatrate für Festnetzanschlüsse (bestehend aus Telefon und Internet) anerkannt worden. Dies war aber die einzige bedeutende Neuerung bei der Regelsatzbedarfsermittlung im Jahr 2021.
In den Jahren, in denen keine neuen EVS-Daten für Verbrauchsausgaben vorliegen, fließen auch keine neuen Bedarfspositionen in die Berechnung der Regelbedarfe ein.
Mischindex bestimmt die Fortschreibung
Gibt es in einem Kalenderjahr keine neue Ermittlung von Regelbedarfen auf der Grundlage einer neuen EVS (das trifft für vier von fünf Jahren zu), werden die Regelbedarfsstufen jährlich zum 1. Januar lediglich mit einer Verordnung auf Grundlage eines Mischindexes fortgeschrieben. Dieser berücksichtigt zu 70 Prozent die bundesdurchschnittliche Entwicklung der Preise und zu 30 Prozent die durchschnittliche Entwicklung der Nettolöhne und Nettogehälter je Beschäftigten.
Allerdings bezieht sich dieser Mischindex nach § 28 a SGB XII immer auf die Lohn- und Preisentwicklung in der (ferneren) Vergangenheit. So wurde bei der Regelbedarfs-Anpassung Anfang dieses Jahres der Zeitraum vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 mit dem Vorjahreszeitraum vom 1. Juli 2019 bis zum 30. Juni 2020 verglichen. Als die Regelbedarfe zum 1. Januar 2022 angepasst wurden, war der letzte Tag aus dem Vergleichszeitraum (30. Juni 2021) also bereits ein halbes Jahr und der Beginn des Beobachtungszeitraums (1. Juli 2019) sogar schon 2,5 Jahre vorbei.
Zwischenzeitliche Preis- und Lohnsteigerungen flossen somit nicht in die Berechnungen ein. Das erweist sich nun – in Zeiten der stark steigenden Inflation – als Manko. So ist die etwa Inflationsrate im Mai 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um immerhin 7,9 Prozent gestiegen. Die Regelbedarfe für Grundsicherungsbeziehende haben sich aber nur im Januar 2022 um lediglich 0,76 Prozent erhöht – und seitdem gar nicht mehr. Von einer Kaufkrafterhaltung der Regelbedarfsstufen kann also keine Rede sein.
Das Bundesverfassungsgericht hat dieses mögliche Problem bereits in seinem Regelsatz-Urteil vom 23. Juli 2014 (Az.: 1 BvL 10/12 u.a., Rn. 144) gesehen. Es hat festgestellt: „Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. So muss die Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden […]. Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.“