Videokonferenzen wirken anders…

Unterschiede zwischen Präsenz- und Digitalsitzungen

von Bertold Brücher | Juli 2020

Gerade in den Zeiten der Corona-Krise, aber auch schon zuvor haben viele Menschen ihre Erfahrungen mit Telefon- und Videokonferenzen gemacht. Diese digitalen Besprechungen sind praktisch. Sie lassen sich mühelos von allen Orten, in denen sich telefonieren lässt oder ein stabiler Internetzugang besteht, abhalten. Ein großer Vorteil: Die Teilnehmenden sparen Zeit für eine An- und Abreise, die ansonsten notwendig wäre, wenn sich alle zu einem Präsenz-Besprechungstermin an einem Ort treffen würden.
Gleichwohl unterscheiden sich Gespräche oder Konferenzen per Telefon oder Video teilweise erheblich von solchen, in denen die Teilnehmenden in einem Raum zusammensitzen. Insbesondere gibt es beachtliche psycho-soziale bzw. kommunikative Unterschiede zwischen Präsenz- und Digitalkonferenzen, wesentliche Elemente gehen auf „digitalem Weg“ verloren.

So ist etwa eine Videokonferenz nicht in der Lage, die gesamte Vielfalt menschlicher Kommunikation-on – wie Körpersprache, Mimik, Gestik etc. – (durch persönliche Nähe) „sinnlich wahrnehmbar“ abzubilden; das aber kann für die Meinungsbildung eines Einzelnen sowie eines gesamten (richterlichen) Gremiums unerlässlich sein.
Anders als bei gleichzeitiger gemeinsamer Anwesenheit vor Ort in einer Präsenzsitzung können in einer Videokonferenz keine Nachbar- bzw. Flüstergespräche (zwecks inhaltlicher Abstimmung) geführt werden. Diese sind aber manches Mal gerade ein wesentliches Element der Meinungsbildung in Sitzungen bei Gericht.
Mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen in Videokonferenzen gegenüber „Face-to-face“-Gesprächen hat sich die Studie „Videoconferencing in the Field: A Heuristic Processing Mode“ von Carlos Ferran (Pennsylvania State University Great Valley) und Stephanie Watts (Boston University) befasst. Die in der Zeitschrift Management Science (Ausgabe 9/2008) veröffentlichte Studie ergab, dass

Auch lehrt die persönliche Erfahrung, dass es – in der Intensität der Wahrnehmung auch abhängig von der technischen Qualität der Übertragung – in Telefon- oder Videokonferenzen schwerer fällt, Signale richtig zu deuten; ein „natürlicher Gesprächsfluss“ wie in Gesprächsrunden unter Teilnahme Anwesender kommt dort nicht zustande.
Das alles wird auch für die Sitzungen der Gerichte gelten: Sitzt ein ehrenamtlicher Richter zu Hause und nimmt er lediglich per Videokonferenz an einer Gerichtsverhandlung teil, so kann er nur das auf dem Bildschirm Abgebildete wahrnehmen. Es fehlt ihm die räumliche Perspektive, die allein ihn zum Steuerer seines Blicks macht. Im Gerichtsaal bleibt es ihm allein überlassen, wo er zum Beispiel während einer Zeugenvernehmung hinschaut: auf den Zeugen, den vorsitzenden Richter oder die Parteien. Das Videobild gibt ihm solche Möglichkeiten nicht.

Ist die mündliche Verhandlung geschlossen und wird vom Gericht beraten (oder findet eine Beratung ohne mündliche Verhandlung statt), so ist es in der Regel für die Teilnehmenden wesentlich leichter und natürlicher möglich, Fragen zu stellen, zu argumentieren oder auch nonverbal zu agieren, wenn alle gemeinsam in einem Raum sitzen. Die Sinne in einer Präsenzsitzung sind „ganzheitlich“ und auch sich selbst kann man dort „ganzheitlich“ einbringen. Das alles trägt mit dazu bei, dass auch die Ergebnisse anders sein können als bei Sitzungen per Video.

Bertold Brücher

Referats­leiter Sozial­recht beim DGB-­Bundes­vor­stand