Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht?
§ 26 Abs. 1 SGB XII und das Sanktionsurteil

von Carsten Lund | Mai 2021

Sanktionen gibt es nicht nur im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sondern auch in der Sozialhilfe. Nach dem Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) stellt sich die Frage, ob die sozialhilferechtlichen Sanktionsvorschriften verfassungsgemäß sind. § 26 Abs. 1 SGB XII jedenfalls genügt den Maßstäben des BVerfG nur eingeschränkt.

Das zum SGB II ergangene Sanktionsurteil des BVerfG vom 5. November 2019 (Az.: 1 BvL 7/16) beginnt mit einem historischen Abriss. Dieser widmet sich insbesondere den Sanktionen im Sozialhilferecht und zeichnet die Entwicklung zum heutigen § 26 Abs. 1 SGB XII nach, beginnend mit § 13 der Reichsgrundsätze von 1924.

Gleichwohl sieht der im Januar 2021 vorgelegte Referentenentwurf für ein Gesetz zur Umsetzung des Sanktionsurteils keinerlei Regelungsbedarf in Bezug auf § 26 Abs. 1 SGB XII. Ist es dem Normgeber 1924 – ganz im Sinne des in der Überschrift als Frage umformulierten Zitats des Hochschullehrers für Verwaltungsrecht Otto Mayer – gelungen, eine Sanktionsnorm im Bereich der Existenzsicherung zu schaffen, die in ihren Grundzügen seit nahezu 100 Jahren besteht und auch heute noch einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhält?

Normwortlaut

§ 26 Abs. 1 SGB XII, der der amtlichen Überschrift nach die „Einschränkung“ von Leistungen betrifft, hat folgenden Wortlaut:

Die Leistung soll bis auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt werden

  1. bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen vermindert haben in der Absicht, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistung herbeizuführen,
  2. bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen.

So weit wie möglich ist zu verhüten, dass die unterhaltsberechtigten Angehörigen oder andere mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft lebende Leistungsberechtigte durch die Einschränkung der Leistung mitbetroffen werden.“

Sanktionsnorm?

Teilweise wird in Abrede gestellt, dass es sich bei § 26 Abs. 1 SGB XII um eine Sanktionsnorm handelt. Früher mag dies nachvollziehbar gewesen sein, erschienen die Vorgängervorschriften zu § 26 Abs. 1 SGB XII doch geradezu milde, wenn man berücksichtigt, dass bis 1974 mit Haft bestraft wurde, wer aufgrund Müßiggangs zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts oder des Lebensunterhalts unterhaltsberechtigter Angehöriger beispielsweise Sozialhilfe benötigte (§ 361 Nr. 5 StGB).

Auch heute noch scheint der Gesetzgeber zwischen den in § 26 Abs. 1 SGB XII vorgesehenen Rechtsfolgen und Sanktionen sprachlich zu differenzieren, indem er die Rechtsfolgen des § 26 Abs. 1 SGB XII als „Einschränkungen“ bezeichnet, in der amtlichen Überschrift des Pflichtverletzungen betreffenden Unterabschnitts des SGB II hingegen das Wort „Sanktionen“ verwendet. Letztlich knüpft § 26 Abs. 1 SGB XII aber – ebenso wie Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II – eine Minderung existenzsichernder Leistungen an ein vom Gesetzgeber unerwünschtes Verhalten.

Verfassungsmäßigkeit?

Sieht man § 26 Abs. 1 SGB XII also als Sanktionsnorm, ist diese an den Maßstäben des Sanktionsurteils des BVerfG zu messen. Den dort aufgestellten Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügt die Norm nur eingeschränkt. Zwar stellt die Verwirklichung des Nachrangs der Sozialhilfe einen legitimen Zweck dar. Auf Ebene der Angemessenheit ist insbesondere gewährleistet, dass außergewöhnlichen Härten Rechnung getragen werden kann. In atypischen Fällen kann von der Sanktionierung abgesehen werden. Es gibt weder eine starre Sanktionshöhe noch eine feste Sanktionsdauer. Dies ermöglicht es auch, von der weiteren Sanktionierung abzusehen, wenn ein Leistungsberechtigter einlenkt. Problematisch sind jedoch Geeignetheit und Erforderlichkeit.

Je einschneidender die vorgesehene Sanktion ist, umso eher müssen sich Geeignetheit und Erforderlichkeit durch tragfähige Erkenntnisse belegen lassen. Dies hat zur Verfassungswidrigkeit der 60- und 100-Prozent-Sanktionen im SGB II geführt (siehe den Beitrag von Sabine Knickrehm im Thema des Monats).

Inwieweit § 26 Abs. 1 SGB XII zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet und erforderlich ist, lässt sich nicht belegen. Sanktionen nach dem SGB XII sind nicht Gegenstand der Bundesstatistik. Der Forderung nach tragfähigen Erkenntnissen kann nicht entgegengehalten werden, dass eine Sanktion nach § 26 Abs. 1 SGB XII nicht einschneidender sei als eine 30-Prozent-Sanktion im SGB II, deren Geeignetheit und Erforderlichkeit das BVerfG bereits aufgrund einer ex-ante-Prognose bzw. einer plausiblen Einschätzung des Gesetzgebers bejaht hat.

Richtig ist, dass die Grenze zum Unerlässlichen bei § 26 Abs. 1 SGB XII im Bereich von „nur“ 20 bis 30 Prozent des Regelbedarfs gesehen wird. Anders als im SGB II kann die Sanktionsdauer aber (deutlich) mehr als drei Monate betragen und damit die Intensität einer auf drei Monate begrenzten 60-Prozent-Sanktion erreichen oder übersteigen.

Fazit

Festzuhalten bleibt: Das Sanktionsurteil sollte Anlass sein, § 26 Abs. 1 SGB XII ebenfalls auf den Prüfstand zu stellen. Dabei dürfte es sachgerecht sein, die Sanktionsdauer gesetzlich zu begrenzen.

Dr. Carsten Lund, LL.M. (UConn)

ist Richter am Sozialgericht, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundessozialgericht