Überforderung der Nutzer:innen übersehen

Zum Digitalisierungs-Gutachten des Sachverständigenrats

von Eberhard Eichenhofer | April 2022

Im März 2021 hat der unabhängige Sachverständigenrat (SVR) zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (eingerichtet nach § 142 SGB V) sein Gutachten „Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“ vorgestellt. Welcher Reform- und Handlungsbedarf wurde darin identifiziert und wie sind die Positionen der Gutachter:innen einzuordnen? 

Der SVR gelangt in seinem Gutachten zu der nüchternen Feststellung: „Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland“ wären besser geschützt, wenn „endlich die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen verantwortlich und wissenschaftlich sinnvoll genutzt“ würden. Das Gutachten notiert ungenutzte Potenziale der Digitalisierung in der Versorgung und zeigt Auswege aus einer allenthalben sichtbaren digitalen Rückständigkeit.

Eine öffentlich organisierte digitale Gesundheitsversorgung ermögliche eine bessere Versorgung, fördere die im Argen liegende Gesundheitsforschung und verbürge den medizinischen Fortschritt. Der Datenschutz hindere eine umfassende Digitalisierung nicht, müsse aber zum Teil des medizinischen Schutzes von Leben und Gesundheit werden und nicht diesen hemmen! Datenschutz heiße vor allem Datensicherheit! Daten sollten daher vor Ausfallrisiken geschützt werden, ihre Übertragung müsse effektiv und nachhaltig und ihre Finanzierung integraler Teil der Vergütung medizinischer Leistungen werden.

Der SVR identifizierte einen fünffachen Reform- und Handlungsbedarf:

 1. Die elektronische Patientenakte (ePA)
Die ePA soll nach den Vorstellungen des SVR „durch den zeitnahen Zugang zu strukturierten und konsistenten Informationen eine bedarfsgerechte und koordinierte Versorgung“ ermöglichen. Die derzeitige, auf einem mehrfachen Opt-in beruhende ePA, sei auf Grund seines beträchtlichen Aufwandes untauglich. Ihre Komplexität erschwere ihre Verbreitung, weswegen ihr gesamtgesellschaftlicher Nutzen, der von der möglichst weitreichenden Verbreitung abhängt, ausbleibe. Der SVR empfiehlt, für alle Berechtigten ab der Geburt eine ePA verbindlich einzurichten. Die Nichtteilnahme durch erklärten Widerspruch („Opt-out“) sollte dem Einzelnen aber möglich bleiben. Auch im EU-Kontext sei die Interoperabilität der ePA anzustreben und zu sichern.

2. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAen)
Der SVR stellte ferner fest, dass sämtliche die Gesundheit fördernden oder die Behandlung begleitenden DiGAen – z. B. Gesundheits-Apps, derzeit bereits bei Erkrankung von Herz, Kreislauf, Stoffwechsel oder Krebs vielversprechend verwendet, oder das elektronische Rezept – kaum verbreitet und im deutschen Versorgungsalltag noch nicht angekommen sind. Das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) habe zwar Nutzungsbewertungen und Erstattungsregeln für DiGAen niedriger Risikoklassen bestimmt und damit transparente Standards für die DiGAen geschaffen; ferner sei inzwischen deren Produktsicherheit gewährleistet. Die Verwendung der DiGAen solle sich nach dem Patienten-Nutzen richten, was die weitere umfassende Evaluation der DiGAen erfordere.

 3. Forschungsdaten
Für die Nutzung verfügbarer Gesundheitsdaten für die Zwecke der Forschung stellt der SVR fest: „Ein verantwortlicher Umgang mit Gesundheitsdaten beinhaltet ein ganzheitliches Verständnis des Datenschutzes: nicht nur als Abwehrrecht, sondern als Teil des Patientenschutzes.“ Dieses sollte die angemessene Verarbeitung gesundheitsrelevanter Daten als grundsätzlichen Anspruch auf eine hochwertige Gesundheitsversorgung begreifen. „Dies schließt ausdrücklich die Forderung wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns zur Verbesserung von Gesundheitsförderung und Patientenversorgung ein.“ Datenschutz dürfe deshalb dem Anrecht der Versicherten auf adäquate Verarbeitung ihrer Gesundheitsdaten zur bestmöglichen Behandlung, der Verbesserung des Versorgungssystems sowie zu einer die Versorgung, Diagnose und Behandlung verbessernden Forschung nicht entgegenstehen (siehe dazu auch den Artikel „Gratwanderung zwischen Persönlichkeitsdatenschutz und digitalem Gesundheitsschutz“ in diesem Thema des Monats). Deshalb sollte das Einwilligungsverfahren „weiterentwickelt“ werden: um „eine Sekundärauswertung von Behandlungsdaten im Interesse des Patientenwohls niederschwellig, unkompliziert und möglichst entkoppelt von der konkreten Behandlungssituation“.

 4. Digitale Gesundheitskompetenz
Der SVR attestiert den Berechtigten wie Angehörigen von Heilberufen im Hinblick auf ihre digitale Gesundheitskompetenz (health literacy) einen „erheblichen Bildungsbedarf“. Es bescheinigt ihnen – anders formuliert – intellektuell und habituell nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Ihre Medienkompetenz und der niederschwellige Zugang zu elektronischen Hilfsmitteln müssten daher verbessert und zum Gegenstand eigener Bildungsbemühungen werden.

 5. Strategie für ein dynamisch lernendes Gesundheitswesen
Damit Digitalisierung zum Patientenwohl beitrage, müsse die digitale Infrastruktur (Glasfaserkabel, Telematik, Forschungsdaten und ePA) ausgebaut, die Daten- und Informationssicherheit höchstmöglich verwirklicht und das Vertrauen der Patient:innen in digitale Versorgungsstrukturen gestärkt werden. Es gelte, die bei der Digitalisierung sichtbar gewordene Ungleichheit in der digitalen Gesundheitsversorgung durch eine gezielte Förderung Benachteiligter zu vermindern. Das Ziel jeder digitalen Gesundheitsversorgung sei, möglichst viele Menschen solidarisch einzubeziehen, die durch Bereitstellung ihrer Behandlungsdaten dazu beitragen.

Bewertung der SVR-Position

Der SVR möchte die durch Digitalisierung zunehmend verfügbaren Informationen – Big Data – zielgenau zur Gesundheitsversorgung nutzen und diese dadurch verbessern. Er benennt einerseits elementare Versäumnisse und zeigt andererseits neue Welten der Digitalisierung auf. Das Gutachten zeigt allerdings nicht hinlänglich auf, woraus sich die schnöde Wirklichkeit der Digitalisierung erklärt und durch welche Mittel dieser Missstand durch Fortschritte zu überwinden wäre.

Der SVR bestimmt den Datenschutz neu. Er solle nicht nur auf informationelle Selbstbestimmung zielen, sondern Gleichheit und Solidarität fördern. Wird Datenschutz zum Teil des Diagnose- und Behandlungsanspruchs, wird er – anders als herkömmlich – nicht als Schutz der Privatheit, sondern als Mittel zur Erreichung von Effizienz und umfassender Transparenz im Gesundheitssystem verstanden.

Die Sekundärverwertung anonymisierter Gesundheitsdaten muss im Rahmen der „Zweckbindung“ [Art. 5 Abs.1 lit. b) Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)] aller Datenerhebung von Betroffenen speziell legitimiert werden und die Datenübermittlung im Interesse von Patient:innen, Behandler:innen und dem Gesamtsystem gesundheitlicher Versorgung durch ein dies speziell gestattendes Gesetz möglich werden. Die „Vertraulichkeit“ [Art. 5 Abs.1 lit. f) DGSVO] der Datenerhebung verlangt bei Weitergabe der Gesundheitsdaten für die systemische Nutzung deren Anonymisierung (Art. 9 DSGVO), was durch die Betroffenenrechte (Art. 16–19 DGSVO) verstärkt wird. Diese erlauben weitere Sperren für die Einsichtnahme in Datenbestände – wie bei der ePA vorgesehen. Weil Art. 4 Nr. 12 DGSVO auch die Datensicherheit (Art. 32 DGSVO) als Teil von Datenschutz ansieht, ist auch die Verschränkung von Datenschutz und -sicherheit im geltenden Datenschutzrecht angelegt und vorgesehen.

Das SVR-Gutachten gibt Anhaltspunkte zur Erklärung der digitalen Rückständigkeit, soweit es die rechtlichen und technologischen Gegebenheiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen aufzeigt. Es fragt sich, inwieweit diese Schwächen im deutschen Gesundheitssystem strukturell angelegt sind. Der SVR hebt die vernetzten beteiligten Gruppen hervor, woraus Komplexität und Regulierungsdichte im deutschen Gesundheitswesen erwachsen. Es zeigt die organisatorischen Gegebenheiten und technologischen Anforderungen an sektorübergreifende Regelungen für digitale Versorgung auf. Sie lassen sich in nationalen Gesundheitsdiensten einfacher einrichten als in einem gegliederten System sozialer Sicherheit, das sich damit schwerer tut.

Partikularismus hindert die Vernetzung über alle Sektoren, was offenkundige Rückstände in der Digitalisierung erklärt. Die Vernetzung fordert Interoperabilität der Datenbestände, deren sektorübergreifende Übertragung im dezentralen deutschen Gesundheitswesen schwierig ist.

In Deutschland fehlt das Bewusstsein für die individuelle Gestaltbarkeit der eigenen Gesundheit, so dass die darauf gegründete Hoffnung, die Versorgung von Morgen habe es mit digital umfassend bewanderten Patienten zu tun, ziemlich voraussetzungsvoll erscheint. Digitalisierungsvorgänge beruhen auf Informationsasymmetrien. Auch dort treten Administratoren einem digital zumeist ungebildeten wie desinteressierten Publikum gegenüber. Vielen leuchtet nicht unmittelbar ein, dass die öffentliche Verfügbarkeit ihrer Gesundheitsdaten systemischem Nutzen stiftet und ihnen individuell deshalb zum Behandlungsvorteil gereicht. Die Nutznießer:innen der Daten profitieren davon erst nachträglich, wogegen die Datenlieferant:innen vorleisten müssen, ohne unmittelbare Aussicht auf den Behandlungsvorteil. Auch die Komplexität und die hohe Anforderungslast an die Nutzer:innen und oft ausbleibende Transparenz der digitalen Strukturen trifft oft auf alte, kranke und mental eingeschränkt handlungsfähige Menschen, die sich auch außerhalb der Gesundheitsversorgung oft aus der Leistungsgesellschaft ausgeschlossen sehen, regelmäßig in der digitalen Gesundheitsversorgung aber als aktiv Mitwirkende erheblich gefordert sind und diese Aufforderung oft als Überforderung wahrnehmen.

Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Eichenhofer

Universitätsprofessor für Sozialrecht und Bürgerliches Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena i. R.