Sozialrechtlicher Ausblick auf die 20. Bundestagswahlperiode

von Eberhard Eichenhofer | Juni 2021

Deutschland steht vor der nächsten Bundestagswahl. Die Wahl am 26. September bestimmt die politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft. Sie entscheidet zunächst über die Regierung und deren Chef/in; von ihrem Ausgang hängt aber vor allem die mittel- und längerfristige Ausrichtung des Landes ab. In den nächsten Monaten ist deshalb auch darüber zu befinden: Was sind die Zukunftsfragen für das Sozialrecht in den nächsten vier Jahren der kommenden 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages und wie werden sie gelöst?

I. Wahlen bestimmen die Zukunft

Diese Fragen ergeben sich zunächst aus den jüngsten Erfahrungen und sodann aus den absehbaren Entwicklungen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist fürs Erste die Pandemie. Sie erbrachte zahlreiche Einsichten in die elementare Bedeutung eines funktionierenden und leistungsfähigen Sozialrechts und offenbarte in der Krise zugleich dessen Schwächen. Des Weiteren werden die durch die Krisenbewältigung ausgelösten Folgen sowie die daraus schließlich erwachsenden Anforderungen an eine sozialrechtliche Neuorientierung die Politik künftig beschäftigen. Außerdem schreitet der demografische Wandel voran, mit weiteren einschneidenden Konsequenzen für das Sozialrecht.

Die nächsten vier Jahre werden daher – alles in allem – nicht eben beschaulich, sondern wirtschaftlich, sozial und politisch höchst herausfordernd werden. Es wäre deswegen im Sinne der demokratischen Funktion von Wahlen gut, wenn dies auch im Wahlkampf sichtbar würde und dieser nicht vordergründig in Farben-Kombinationen und Personalia seine Gegenstände fände.

II. Was lehrte die Pandemie?

Was lehrte die Pandemie das Sozialrecht? Sie offenbarte, dass ein funktionierender Sozialstaat einer Pandemie besser entgegentreten kann. Die Pandemie enthüllte daher schonungslos die vorhandenen und durchaus zahlreichen sozialrechtlichen Schwächen. Die in den beiden vergangenen Jahrzehnten vollmundig beschworene Digitalisierung erreichte noch nicht in dem gebotenen Ausmaß die Sozialverwaltung und das System der Sozialleistungen; desgleichen sind Schwächen im digitalen Unterricht an Schulen und Hochschulen deutlich geworden.

Die Erfahrungen während der Krise zeigten ferner Schwächen bei der Bevorratung von Schutzmitteln und -ausstattungen und Lücken in der personellen Ausstattung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Das politische Bedürfnis, durch bessere Bezahlung und menschenfreundlichere Arbeitsbedingungen die Arbeitskräfte in der Krankenversorgung und Pflege zu halten und neue Menschen für diese wichtigen und verantwortungsvollen Aufgaben zu gewinnen, ist gewachsen: Die Folgerungen daraus stehen aber noch aus. Sind sie gezogen, wird dies nicht ohne Folgen für die Finanzierung der sozialen Sicherheit bleiben können.

In der Pandemie veränderten sich die Arbeit und soziale Sicherheit. Es zeigte sich, dass die soziale Sicherheit vieler Staaten nicht auf Erwerbstätige, sondern auf abhängig Beschäftigte ausgerichtet ist. Die Grundregel, dass Unternehmen und Unternehmer zur Selbstvorsorge hinreichend befähigt seien, wurde in der und durch die Pandemie auf die Probe gestellt und grundsätzlich fraglich. Die Grundsicherung, deren Höhe sich für Selbständige aus ihrem Gewinn und dem Erwerbstätigenfreibetrag errechnet, hat bei der Vermögensprüfung unternehmerisch genutztes Eigentum eigens zu würdigen. Das künftige Recht sozialer Sicherheit muss alle Erwerbstätigen umfassend sozial schützen. Diese Forderung ist nicht neu. Sie wurde auch schon in früheren Wahlperioden erhoben, aber leider auf die lange Bank geschoben und mehrfach nie wirklich angepackt. Das muss sich in der 20. Wahlperiode klar und entschieden ändern.

Die zur Eindämmung der wirtschaftlichen Schäden in der Pandemie aufgenommenen Schulden müssen in der nahen Zukunft und über lange Zeiträume hinweg zurückgeführt werden. Mögen auch die Zinssätze für Darlehen aktuell niedrig sein, die aufgenommenen Kredite müssen bedient werden – und zwar bald und ziemlich lange. Dieser Schuldendienst trifft die Haushalte von Bund und Ländern schon ab 2023 und wird dann für mehrere Jahrzehnte zu Lasten anderer öffentlicher Auf- und Ausgaben gehen – es sei denn, die gewachsenen Ausgaben werden durch erhöhte Staatseinnahmen, also in Form von Steuern, refinanziert.

Die Pandemiebekämpfung – so nötig sie auch sein mochte – erforderte beträchtliche öffentliche Ausgaben und die Virus-Bekämpfung verursachte erhebliche soziale Schäden. Die in der Pandemie durch die sozialen Maßnahmen geschützte Bevölkerung wird dies in Zukunft als Belastung spüren. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise sind schon jetzt beträchtlich: Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzverluste werden die Politik der Zukunft begleiten. Einige an Covid-19 erkrankte Patient(inn)en leiden unter langwierigen, schweren und teuren Folgen. Auch die Prävention vor dem Virus und dessen Behandlung erwiesen sich als teuer.

Löhne und Arbeitsplätze, die während und aufgrund der Krise verloren gegangen sind, verringern für Staat und Sozialversicherungsträger die künftigen Einnahmen aus Beiträgen und Steuern und gleichzeitig erhöhen sie die Sozialausgaben. Ein Anstieg der Sozialkosten bedeutet einen Anstieg der Lohnnebenkosten. Die steigenden und zum Konsum erforderlichen Arbeitnehmer(innen)gehälter werden künftig durch die wachsenden Sozialausgaben belastet. Die Frage, wer die Kosten der Krise in welchem Umfang trägt, wird sich deshalb in Zukunft verstärkt stellen.

III. Sozialrecht im digitalen und wirtschaftlichen Strukturwandel

Das Sozialrecht von morgen wird vor gewichtige ökonomische, demografische und technologische Herausforderungen gestellt. Das wirtschaftliche Wachstum der deutschen Volkswirtschaft stößt an Grenzen. Wohlstand gründete bislang auf ihrer Fähigkeit, besser, schneller und wirtschaftlicher als andere die im Ausland auftretenden Bedarfe nach Geräten, Produkten und Fertigungsweisen zu befriedigen. Diese Fähigkeit schwindet, weil andere Volkswirtschaften aufgeholt haben.

Wirtschaften vollzieht sich in globalen Märkten: Die Produktion ist global organisiert und Erzeugnisse oder Dienste werden weltweit nachgefragt. Der globale Wettbewerb nimmt zu – namentlich der für Zukunftstechnologien und -produkte. Die Notwendigkeit, dem Klimawandel zu trotzen und den CO2-Ausstoß dafür rasch und massiv herunterzufahren, ist mittlerweile zwar als Aufgabe erkannt und anerkannt. Aber die Folgen aus dieser Einsicht verändern die Wirtschaft wie die Arbeit und fordern deren Umbau durch einschneidende und rasch wirkende Maßnahmen.

Die inländische Wohnbevölkerung altert. Die Generation der geburtenstärksten Jahrgänge wechselt nun in die Rente und die zahlenmäßig weniger stark besetzten nachwachsenden Jahrgänge sind Corona-bedingt in ihrem Übergang vom Bildungssystem in die Arbeitswelt blockiert. Fachkräftebedarfe entstehen allerorten; Weiterbildung und Umschulung werden so an Bedeutung zunehmen.

Der Anteil der Älteren an der Wohnbevölkerung wird infolge wachsender Lebenserwartung und sinkender Geburtenraten weiter steigen und der Anteil von Kindern und Jugendlichen zurückgehen. Deshalb werden die Aufwendungen für die Alters- und Gesundheitssicherung zunehmen und die Zahl junger Menschen, die aufgrund ihres Lebensalters eine Innovation der wirtschaftlichen Strukturen erwarten lassen, wird sinken (siehe dazu auch den Artikel von Christian Mecke im Thema dieses Monats).

So werden junge Leute nicht mehr wie bisher in die Beschäftigungsverhältnisse drängen. Die Gefahr sozialer Stagnation droht, hervorgerufen durch stagnierende Produktion und Innovation.

Technik ersetzt menschliche Arbeit. An oberster Stelle der sozialen Werteskala steht die Gesundheit. Technik zielt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen. Sie wird künftig die Möglichkeit zur Behandlung von Krankheiten erweitern und so die Lebenserwartung der Menschen verlängern. Dies wird ebenfalls zu erhöhten Aufwendungen für die Kranken- und Rentenversicherung führen.

Die anstelle der Industriegesellschaft tretende wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft stellt hohe Qualifikationsanforderungen an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und bringt neue Arbeitsformen hervor. Die Anforderungen an Bildung und Arbeit werden deshalb steigen. Dies alles führt zur Erhöhung der Transferleistungen. Die Aufgaben der sozialen Sicherheit werden also wachsen und gleichzeitig wird die wirtschaftliche Fähigkeit, diese Lasten zu tragen, sinken.

IV. Was sind die Antworten auf diese Fragen?

Politik hat diese Fragen zu erkennen und darauf überzeugende Antworten zu geben. Die Antwort kann jedenfalls nicht lauten, aus Furcht vor den Schwierigkeiten des Sozialstaatsumbaus davon zu laufen – getreu dem als politische Maxime in der 19. Wahlperiode legendär gewordenen Motto: „Lieber nichts machen, als etwas falsch machen!“  und das Heil stattdessen in Privatisierung und damit Individualisierung von sozialen Risiken zu suchen.

Die Antwort liegt aber auch nicht in der Bewahrung des sozialrechtlichen Status quo, weil dieser nicht bleiben kann, wenn alle ihn prägenden wirtschaftlichen und sozialen Faktoren sich verändern.

Der weitere Umbau des Sozialstaats steht an und er fordert weder Larmoyanz noch Flucht, sondern Fantasie und Tatkraft. So bleibt zu wünschen, dass die Wahlauseinandersetzung ihre eigentlichen Themen nun endlich finden möge – eines der wichtigen Themen davon ist das Sozialrecht der Zukunft!

Prof. Dr. Dr. Eberhard Eichenhofer,

Universitäts­professor für Sozial­recht und Bürger­liches Recht an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena i. R.