Sozialrecht und Tarifverträge

Wechselseitige Beziehungen zweier Regelungsbereiche

von Daniel Hlava | 27. August 2025

Zwischen Tarifverträgen und dem Sozialrecht gibt es wechselseitige Beziehungen. So stützen Tarifverträge die Finanzierbarkeit des Sozialversicherungssystems, während das Sozialrecht Anreize zur Stärkung der Tarifbindung setzt. Hier werden die Zusammenhänge näher erläutert.  

Immer weniger tarifgebundene Beschäftigte

Wirft man einen Blick auf die Statistik der letzten drei Jahrzehnte, zeigt sich, dass es um die Tarifbindung in Deutschland nicht gut bestellt ist. Nach den Ergebnissen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sank der Anteil tarifgebundener Beschäftigter seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1996 bis 2022 um 26 % in West- bzw. um 23 % in Ostdeutschland. Insgesamt sind damit etwa 49 % der Beschäftigten und 75 % der Betriebe ohne Tarifvertrag (siehe hier).

Bedeutung von Tarifverträgen für den Sozialstaat

Doch was hat eine schwächelnde Tarifbindung mit dem Sozialstaat zu tun? Die Antwort: Mehr als man denkt! Die Sozialversicherung ist in großen Teilen eine Versicherung für Beschäftigte und knüpft damit wesentlich an das Arbeitsverhältnis an – auch was die Sozialversicherungsbeiträge angeht, die prozentual von der Höhe des Arbeitsentgelts abhängen. Wenn ein Arbeitsverhältnis tarifgebunden ist, hat das mehrere positive Effekte. So erhalten Beschäftigte mit Tarifvertrag im Durchschnitt 10,2 % mehr Lohn als andere Beschäftigte (siehe hier). Das wirkt sich auch positiv auf die Einnahmen der Sozialversicherung aus.

Zugleich wird der Niedriglohnsektor begrenzt. Das hat wiederum zur Folge, dass weniger Menschen auf ergänzende Sozialleistungen wie Bürgergeld angewiesen sind, wenn das Einkommen nicht ausreicht, um den eigenen Bedarf bzw. den der Familie zu decken. Höhere Entgelte führen zudem zu höheren Renten und damit zu einem geringeren Risiko für Altersarmut.

Zum Teil werden durch tarifvertragliche Regelungen auch Lücken in der sozialen Absicherung von Lebensrisiken kompensiert. Zu denken ist hierbei nur an die betriebliche Altersversorgung, die meist tarifvertraglich oder über Betriebsvereinbarungen geregelt ist. In der Chemiebranche existiert außerdem eine tarifliche Pflegezusatzversicherung (siehe hier).

Doch auch dem Fachkräftemangel kann eine höhere Tarifbindung entgegenwirken. Der Mangel an qualifiziertem Personal wird insbesondere in der Pflege deutlich. Berechnungen des Statistischen Bundesamts zufolge könnten im Jahr 2029 bereits etwa 90.000 Pflegekräfte fehlen, was sich bis zum Jahr 2049 sogar auf 280.000 nahezu verdreifachen kann (siehe hier).

Um dem entgegenzuwirken und die pflegerische Versorgung sicherstellen zu können, muss der Pflegeberuf attraktiver werden. Nach den Befragungsergebnissen einer im Rahmen der „Konzertierten Aktion Pflege“ des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführten Studie ist eine bessere Vergütung hierfür ein bedeutsamer Aspekt (siehe hier, S. 435, Abb. 114).

Unter den Pflegekräften, die aus dem Beruf aussteigen wollen, wird eine bessere Vergütung (mit 73 %) ebenfalls als der häufigste Grund genannt, um im Beruf weiterzuarbeiten (siehe hier, S. 474, Abb. 143).

Bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege – worauf auch Tarifverträge Einfluss nehmen – können daneben die Pflegequalität nachhaltig verbessern (siehe hier, S. 67, 77 f.).

Bedeutung des Sozialrechts für Tarifverträge

Das Verhältnis von Tarifverträgen und Sozialrecht ist aber nicht einseitig, sondern wechselseitig. Sozialrechtliche Normen können Einfluss nehmen auf die Inhalte, den Abschluss oder die Anwendung von Tarifverträgen. Durch Sozialgesetzgebung kann damit auch ein Beitrag geleistet werden, der schwächelnden Tarifbindung entgegenzuwirken.

Durchstöbert man das Sozialgesetzbuch, lassen sich in verschiedenen Regelungszusammenhängen Vorschriften finden, die auf Tarifverträge Bezug nehmen (derzeit in etwa 65 Paragrafen [siehe hier, im Band „Sozialrecht und Tarifbindung“, S. 26 ff.]).

Teilweise enthalten diese Vorgaben für die Sozialleistungsträger in ihrer Rolle als Arbeitgeber. Andere Regelungen gehen weiter und haben direkte Bedeutung für Sozialversicherte und ihre Arbeitgeber.

Förderung tarifgebundener Arbeitgeber

Anreize für Arbeitgeber, einen Tarifvertrag abzuschließen, können bestehen, wenn hieran höhere Sozialleistungen geknüpft sind. Dies ist im Bereich der Förderung von Weiterbildung und Qualifizierung nach § 82 SGB III der Fall. Hiernach können von der Bundesagentur für Arbeit Lehrgangskosten übernommen und ein Zuschuss zum Arbeitsentgelt während der Weiterbildung gezahlt werden. Sofern in dem Betrieb eine Betriebsvereinbarung oder ein Tarifvertrag über berufliche Weiterbildung existiert, erhöht sich diese Förderung um 5 % der Lehrgangskosten und 5 % des Lohnkostenzuschusses (§ 82 Abs. 4 SGB III). Hiermit wollte der Gesetzgeber ausdrücklich einen Anreiz für entsprechende Tarifverträge bzw. Betriebsvereinbarungen setzen (BT-Drs. 19/17740, S. 23).

Noch einen Schritt weiter geht das im April 2024 eingeführte Qualifizierungsgeld – eine Entgeltersatzleistung für Arbeitnehmer:innen, die sich weiterbilden. Diese vom Arbeitgeber zu beantragende Leistung kann nur erhalten, wer in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag nähere Regelungen hierzu festgelegt hat (vgl. § 82a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB III).

Im Sozialrecht gibt es daneben verschiedentlich staatliche Zuschüsse zum Arbeitsentgelt, um die Einstellung von langzeitarbeitslosen Menschen oder die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben zu fördern. Der Tariflohn dient hier zum Teil als Bezugsgröße, um den Umfang der Sozialleistungen angemessen zu begrenzen. Auch in anderen Bereichen dienen Tariflöhne teils als Referenzwerte zur Einkommensberechnung und Leistungshöhe. Dies gilt zum Beispiel in § 82 Abs. 1 S. 2 SGB VII, oder in § 106 Abs. 2 S. 3 Hs. 1 SGB III.

Ein weiteres Beispiel: Das Budget für Arbeit für Menschen mit Behinderungen wird als Lohnkostenzuschuss nur gewährt, wenn das Arbeitsverhältnis tarifvertraglich oder ortsüblich entlohnt wird (§ 61 Abs. 1 SGB IX).

Im Arbeitsförderungsrecht gibt es wiederum eine Regelung, wonach ein Arbeitsloser kein Jobangebot annehmen muss, bei dem „gegen gesetzliche, tarifliche oder in Betriebsvereinbarungen festgelegte Bestimmungen über Arbeitsbedingungen oder gegen Bestimmungen des Arbeitsschutzes [verstoßen wird]“ (§ 140 Abs. 2 SGB III).

Eine solche Arbeit wird dann als unzumutbar angesehen.

Förderung der Zahlung von Tariflohn bei sozialen Diensten und Einrichtungen

Die Erbringung von Sozialleistungen ist geprägt von komplexen Vertragsbeziehungen zwischen Sozialleistungsträgern und Leistungserbringern. In Vergütungsvereinbarungen wird festgelegt, in welchem Umfang die Leistungen von den Sozialleistungsträgern vergütet werden. Hierbei gilt grundsätzlich das Wirtschaftlichkeitsprinzip – und dieses allein für sich genommen würde die Gefahr bergen, dass tarifgebundene Leistungserbringer bei den Verhandlungen mit den Sozialleistungsträgern ins Hintertreffen geraten, wenn ihre Konkurrenz die Leistungen günstiger anbieten kann, indem sie ihre Beschäftigten untertariflich entlohnt. Lohndumping würde somit unterstützt werden. Damit dem nicht so ist, hat der Gesetzgeber in einigen Bereichen ausdrücklich klargestellt, dass die Zahlung von Tariflohn nicht unwirtschaftlich sein kann. Dies gilt unter anderem in § 38 Abs. 2 SGB IX, 82c Abs. 1 SGB XI und § 75 Abs. 2 S. 13 SGB XII; eine weitere Auflistung findet sich im jüngst veröffentlichten Band 55 der HSI-Schriftenreihe mit dem Titel „Sozialrecht und Tarifbindung – Regulierung von Arbeitsbedingungen durch Leistungserbringungsrecht?“ (siehe hier, S. 40).

Einen Schritt weiter ist der Gesetzgeber in der sozialen Pflegeversicherung gegangen. Hier gilt seit September 2022, dass Pflegeeinrichtungen nur noch dann zur Versorgung zugelassen werden dürfen, wenn sie selbst tarifgebunden sind und ihr Pflege- und Betreuungspersonal tariflich entlohnen oder nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen bezahlen (siehe dazu den Beitrag von Sandrina Hurler in diesem Thema des Monats).

Ist das nicht der Fall, dürfen die Pflegekassen keine Versorgungsverträge mit ihnen abschließen (§ 72 Abs. 3a SGB XI).

Dieser Grundsatz wird jedoch insofern wieder aufgeweicht, als dass auch eine Vergütung nach Tarifvertrag – ohne als betreffender Arbeitgeber selbst tarifgebunden zu sein – oder einer kirchlichen Arbeitsrechtsregelung ausreicht (§ 72 Abs. 3b SGB XI).

Fazit

Die Beispiele zeigen, dass Tarifverträge für das Sozialrecht relevant sind – und umgekehrt. Tariflöhne stützen die Finanzierbarkeit der Sozialversicherung und können als ein nicht zu unterschätzender Aspekt dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Das Sozialrecht wiederum setzt Anreize zur Stärkung der Tarifbindung (oder zumindest der Bezugnahme auf Tarifverträge).

Bei der Regulierung des großen Sozialleistungs-Markts hat der Gesetzgeber viele Möglichkeiten hierzu. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) machen die Ausgaben für Sozialleistungen immerhin etwa 30,3 % des BIP und damit 1.249 Mrd. Euro aus (siehe hier, S. 5).

Ein roter Faden, der sich mit konsequenter Systematik durch das gesamte Sozialgesetzbuch zieht, ist dabei aber nur an wenigen Stellen erkennbar. Die sinnvollen Ansätze sind es auf jeden Fall wert, weiter ausgebaut und weiterentwickelt zu werden.

Ausführlich dargestellt werden die Zusammenhänge von Tarifrecht und Sozialrecht im Band 55 der HSI-Schriftenreihe mit dem Titel „Sozialrecht und Tarifbindung – Regulierung von Arbeitsbedingungen durch Leistungserbringungsrecht? (siehe hier, S. 19 ff.)

Prof. Dr. Daniel Hlava, LL. M.

hat eine Professur für Gesundheits- und Sozialrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences